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Noisey Blog

Ich hatte an einem Schlafkonzert ein erstes Tinder-Date

Wir sind sofort im Bett gelandet.
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"Dieses Date wird so schnell intim, dass es unangenehm werden könnte" – das waren meine ersten Gedanken, als ich letzten Donnerstag auf Tinder ein Date für das Schlafkonzert von Komponist Max Richter gefunden habe. Oder habe ich zuerst an den sexistischen Spruch "Ich hab noch nie eine so schnell ins Bett bekommen" gedacht? Dass wir – obwohl wir uns noch nie vorher gesehen haben – im Bett landen, war unumgänglich.

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Eigentlich haben wir es bei Noisey ja nicht so mit der klassischen Musik. Auch wenn Max Richter als Hipster-Klassik bezeichnet werden kann, kenn ich ihn nur vom Hörensagen. Seine aktuelle Sinfonie Sleep dauert ganze acht Stunden und ist der Nacht und dem Schlaf gewidmet – "Nacht" und "Schlaf" hört sich auf alle Fälle gut an. Am Samstag führte er dieses Werk zum ersten Mal in Zürich auf – an einem Schlafkonzert, von Mitternacht bis acht Uhr morgens, vor einer grossen Bettlandschaft. Ein Bett war für mich reserviert. Ein Bett für zwei Personen. Alleine dort aufzukreuzen war keine Option. Aber zum Glück gibt es ja Tinder.

Die Leichtigkeit meines Vorhabens sollte auch seine Schwierigkeit sein: Auf der einen Seite kann ich zu einem Date einladen, das mal etwas anderes als "auf ein paar Drinks treffen" ist. Wer will andererseits bei einem ersten Date gleich eine ganze Nacht in einem Bett verbringen – mit knapp 120 Leuten im selben Raum? Nicht ganz sicher, was zurück kommt, schicke ich am Mittwoch eine Nachricht an ein Girl, das ganz cool wirkt und mit der ich schon seit knapp einer Woche hin und her texte – also höchste Zeit für ein erstes Date. "Hey, hättest du Lust auf ein etwas anderes Date? Ich habe für Samstag eine Einladung zu einem Schlafkonzert. Im Bett, die ganze Nacht, klassische Musik. Max Richter spielt", schicke ich ab. Warten. Ein paar Stunden später erhalte ich Antwort: "Wow! Das klingt sehr interessant! Ich würde gerne mitkommen." Etwas verdutzt bin ich schon. Sie hat zugesagt.

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Ich war den ganzen Nachmittag erst mal super hyperig. Habe ich jetzt wirklich ein Date für das Schlafkonzert? Dasselbe ist ihr wohl auch durch den Kopf gegangen. Als sie mehr darüber erfahren will, was da eigentlich auf sie zukommt, fügt sie an: "Ich bin etwas überfordert, da wir uns ja gar nicht kennen." Sie wisse auch nicht, ob sie dort einschlafen könne, neben ihrem Blinddate. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich ganz handzahm sei und wir es auf uns zukommen lassen können: "Vielleicht wollen wir auch gar nicht schlafen und gehen dafür raven." Wir einigen uns schliesslich darauf, dass wir vor dem Konzert gemeinsam Abendessen gehen, um uns mal zu beschnuppern.

Wir treffen uns beim Viadukt, reden, essen gut und trinken Wein, der überraschend reinknallt – zumindest bei mir. Ich habe das Gefühl, dass die Chemie zwischen uns stimmt. Ich bin erleichtert und glaube, dass es ihr gleich geht. Sie fragt mich, ob ich einen Artikel über das Konzert schreiben würde. Sie studiert Publizistik, weiss, wie mein Job aussieht und kommt dann mit der Idee: "Du könntest ja über unser Date schreiben", fragt sie. Den Gedanken habe ich mir auch schon gemacht, war mir aber nicht sicher, ob das so gut bei meinem Gegenüber ankommen würde – Schlafkonzert und dann noch eine persönliche Story drüber? Unmöglich. Ich habe den Pitch erst mal verworfen, bis zu diesem Zeitpunkt: "Das wäre gar keine schlechte Idee. Und auf Facebook steht dann zum Artikel: 'Ich hab noch nie eine so schnell ins Bett bekommen'", antworte ich.

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Um 22:00 Uhr treffen wir in Oerlikon bei der Halle 622 ein. Die Türen haben aber noch nicht geöffnet, also wollen wir uns noch einen Drink holen. "Wir schliessen um 22:00 Uhr. Wenn ihr nicht sehr schnell trinkt, kann ich euch nichts mehr rausgeben, sorry", sagt die Dame an der Bar. Dann warten wir halt durstig. Langsam werde ich nervös. Ich versuche es zu vertuschen, indem ich mich von meiner besten humoristischen Seite zeige: "Stell dir vor, in der Nacht wacht jemand aus einem Albtraum auf, schreckt auf und schreit laut." "Oder jemand schlafwandelt und legt sich zu uns ins Bett", antwortet sie.

Als sich die Türen dann endlich öffnen, treten wir in die alte Industriehalle ein. Der Eingangsbereich ist leer, nur die Schilder zur Garderobe, zu den "Traumbetten" und eine Projektion des Schlafkonzert-Flyers verraten, was hier heute passiert. Wir machen noch ein paar Fotos vor der Projektion – weil Insta-Game und so – und begeben uns dann in den Konzertsaal.

Sleepysleep.

Auch diese Halle ist alles andere als romantisch. Knapp 70 Betten stehen vor uns, versetzt, aber mit nur knapp einem Meter Abstand zum nächsten. Ich muss an eine Mitarbeiterin denken, die am Freitag meinte, wir könnten am Konzert ja heavy Petting betreiben – daraus wird wohl nichts. Nach einem Blick auf den Schlafplan finden wir unser Bett. Es ist eines vom Typ Prinzessin in Rente. Nach einem Testliegen ist mein Date aber ganz zufrieden und für mich ist es auch nicht der Weltuntergang – nur der Neu-Möbel-Geruch widert mich etwas an.

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Es geht noch zwei Stunden bis zum Konzert. Wir unterhalten uns noch ein wenig auf dem Bett liegend. Ein ehemaliger Kollege von 20 Minuten setzt sich zu uns. Da fällt mir erst auf, wie viele Medienmenschen hier sind – unsere Nachbarin hantiert gerade mit einem Mikrofon eines Lokalradiosenders rum, ich musste schon einen Fotografen verscheuchen und eine Kameracrew befragt Gäste. Na toll, denke ich, ein beschissener Medienanlass. Aber ich lasse mir die Stimmung nicht vermiesen. Denn draussen wartet schon ein Freund mit einem Joint auf uns.

Stalkerfoto meines ehemaligen Kollegen.

Der Joint ist geraucht und wir liegen umgezogen im Bett. Ein Pyjama besitze ich natürlich als Vorzeigejunggeselle nicht. Die bescheuertsten Boxershorts, die ich besitze – es sind Bananen mit Maschinenpistolen drauf –, und ein T-Shirt müssen reichen. Sie hat sich für ein schwarzes Shirt und eine Jogginghose entschieden. Wir sind das perfekte Assi-Paar. Bis das Konzert losgeht, quatschen wir noch über den Nonsense, über den man eben so an einem ersten Date quatscht. Und wir kommen uns immer näher.

Nach einer kurzen Ansprache tritt Max Richter endlich mal auf die Bühne. Und ohne grosse Rede setzt er sich ans Piano und fängt an zu klimpern. Wobei klimpern wohl der falsche Begriff ist: Tiefe Töne schlägt der Deutsch-Brite an – untermalt werden sie von noch tieferen Basslines. Träge wirkt das Ganze, aber dadurch passend zum Einschlafen. Mit grellem Licht über uns ist aber nicht daran zu denken. Ihre blauen Augen machen diesen Fakt etwas ertragbar.

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Richter und Orchester

Mittlerweile ist das Konzert in vollem Gange. Streicher und eine Sängerin haben sich zu Richter dazu gesellt. Die Musik erinnert mich an den Soundtrack zum Game No Man's Sky von 65daysofstatic – etwas weniger düster und ohne Gitarren, dafür mit Streichern, gemacht für das Schlummern und nicht, um Raumschiffe abzuballern. Man hört aber auf alle Fälle den Postrock-Einfluss in Max Richters Musik.

So befinde ich mich plötzlich auf einer Abenteuerreise in die Unendlichkeiten des Weltraums – meine ganze Galaxie umfasst aber gerade nur sie. Wir liegen so nah aneinander, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Ich fahr ihr über den Oberarm, sie schaut mir in die Augen, lächelt kurz, schliesst ihre Augen und legt ihren Arm auf meinen. Das Licht geht aus, die Musik verschwindet im Hintergrund. Kompletter Kitsch. Wir liegen nur da und berühren uns. Es fühlt sich wie ein Flash an. Eine Mischung aus Joint, Schläfrigkeit und Zärtlichkeit. Pure Ekstase. Ich streichle ihr über die Wange und küsse sie, sie erwidert meinen Kuss. Aber irgendwie sind wir beide unschlüssig, wie fest wir in dieser ausgestellten Atmosphäre – ganz dunkel ist es nicht, ein Notausgang-Schild blendet mich die ganze Nacht, und über uns auf dem Balkon stehen sicher noch andere Medienschaffende – rumknutschen wollen. Es ist etwas awkward, aber auch schön.

Der Morgen danach. Geschlafen haben wir beide nicht wirklich – eine Mischung aus intensivem Kuscheln, blendenden Lichtern und Temperaturschwankungen hat uns wach gehalten. An die Musik in der Nacht kann ich mich aber auch nicht wirklich erinnern. Jetzt ist sie wieder im Vordergrund. Richter und seine Sängerin tragen gerade ein Stück vor, das sich wie ein Morgengruss anhört. Wir bleiben noch liegen und verschlingen uns ineinander. Dass jetzt wieder Fotos gemacht werden dürfen, stört uns nicht mal mehr. Zum Glück kommt aber kein Journi zu uns und will uns nach unserer Nacht befragen.

Nach einem Kaffee und einem Gipfeli an der Frühstückstheke packen wir unsere Sachen und machen uns auf den Nachhauseweg. Wir entscheiden uns, unsere eigenen Betten aufzusuchen, um den Schlaf nachzuholen. Als wir uns verabschieden und sie mit ihrem feuerroten Haar davon läuft, schaue ich ihr hinterher und kann mein Glück so ein wenig nicht fassen. Das war viel intimer als jeder Onenightstand, das war schöner als jede durchtanzte Nacht, das war so ziemlich das perfekte Date. Tinder, es ist des Teufels.

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