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Noisey Blog

Drei Nächte Feiern in der Zukunft—ein Protokoll

Rumba, Koze und ein Rollstuhl: Ich habe an drei aufeinanderfolgenden Abenden in der Zukunft gefeiert. Eine tragische Komödie in drei Akten.
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Es kommt nie alles so wie geplant. Ein Bier endete in einer durchzechten Nacht, eine Nacht in drei—ich habe den gesamten Red Bull Music Academy Weekender in der Zukunft getanzt und halte die Ereignisse, an die ich mich noch erinnern mag, hier fest.

Donnerstagabend, 10. November 2016

19:34
Die Arbeit ist erledigt, das Bett frisch bezogen und der Bart gestutzt: Das Wochenende kann beginnen. Ich lege meine Jimi Hendrix & Curtis Knight Platte auf die Drehscheibe meines Plattenspielers und singe mit: "Don't mention what time has done—good morning moon, good evening sun."

21:45
Ich schleiche mich in die Küche und stibitze ein paar vegetarische Häppchen, die meine Mitbewohnerin für ihre Freundin zubereitet hat. Falls ich irgendwann mal heiraten sollte, muss sie an der Hochzeit auf jeden Fall das Catering organisieren. Sie ist die Beste.

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23:38
Ich habe mich mit einem alten Schulfreund in der Bar 3000 auf ein Bier verabredet. Eigentlich muss er morgen arbeiten. Dass wir es nicht bei einem Bier belassen werden, war so sicher und scheinheilig wie das Amen in der Kirche, aber dass daraus schliesslich drei aufeinanderfolgende, im Rückblick nicht mehr ganz so klar auseinanderzuhaltende Nächte werden würden, war mir in dem Moment noch nicht bewusst. Beim Barte meiner Grossmutter, ich schwöre!

00:15
Ich sitze an der Bar und sinniere über die inneren Widersprüche des Lebens, als sie plötzlich neben mir steht. Liebe Frau, du mit dem Duft eines botanischen Gartens, dem geerdeten Blick einer Amazone und der Figur einer Göttin, die du einen sexy Bündner Dialekt sprichst, aber gar nicht aus dem Bündnerland kommst, sondern aus dem Rheintal: Das ist eine Liebeserklärung, an dich und an das Leben.

00:48
Die Amazone ist verschwunden. Zurückgeblieben ist ihre Kollegin, die mich unfreiwillig in ein Gespräch über den Israel-Palästina-Konflikt verwickelt. Jesus-Maria.

01:57
Ich bin in den Keller geflüchtet, wo gerade Floating Points an den Plattenspielern dreht. Er spielt Funk, Rumba und Soul. Ich bestelle einen Cuba Libre und fange an, hemmungslos durch die Nacht zu tanzen. Ich stelle mir dabei vor, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich in den 70ern in New York gelebt hätte. Sicher irgendetwas mit breitem Kragen, Pornoschnauz und pastell-farbigen Trompetenhosen.

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03:12
Einige Techno-Kids haben verständnislos den Floor verlassen. Genug Platz zum Tanzen für die Erwachsenen.

04:15
Eine Raubkatze mit dem Hüftschwung einer brasilianischen Sambatänzerin lacht mich an.

04:35
Sie entführt mich von der Tanzfläche und lockt mich in die Sofaecke.

04:37
Wir knutschen rum.

05:02
Die Raubkatze geht an die Bar, Getränke holen. Offensichtlich ist ihr heiss. Ich beobachte, wie sie sich ein Glas Wasser in den Ausschnitt leert. Wenn Wasser auf der Haut kondensiert, entzieht es dem Gewebe Energie, also Wärme. Wie ich ihr dabei etwas verwundert zuschaue, denke ich kurz an meinen Chemielehrer. Es ist ein verstörendes Bild. Ich frage mich, ob die Kondensation von Wasser eine endogene oder eine exogene Reaktion ist. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Ein Hoch auf die Bildung, meinen Chemielehrer und Raubkatzen.

05:35
Die Raubkatze und ich verlassen die Zukunft. Sie bemerkt, dass ihre Bluse ganz nass ist und schlägt vor, in ihr Auto zu gehen, wo sie einen Wollpulli rumliegen hat.

05:45
Wir sitzen im Auto und hören Musik und knutschen noch etwas weiter. Ich schlage ihr vor, nicht mehr Auto zu fahren und biete ihr an, bei mir zu übernachten. Weil Verkehrssicherheit.

06:03
Wir essen die Resten von den vegetarischen Häppchen. Ich flunkere der Raubkatze vor, ich hätte die Häppchen zubereitet. Ihre Augen glänzen. Ich fühle mich auf eine schlechte Art gut. Oder auf eine gute Art schlecht? Mein Empfinden ist auf jeden Fall ambivalent. Wieso lüge ich? Was erhoffe ich mir davon? Wieso habe ich ihr kein Salami-Sandwich mit Gala-Streichkäse, Honig-Senf und Bratensaucenpulver zubereitet?

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11:12
Ich wache auf, die Raubkatze hat ihr Jagdrevier bereits verlassen. Ich spüre den Alkohol in meinen Knochen und nehme mir vor, heute Abend eine ruhige Kugel zu schieben.

Freitagabend, 11. November 2016

19:32
Denkste. Eine Freundin lädt mich spontan ans Michael Kiwanuka Konzert im Kaufleuten ein.

20:15
Die Band ist unheimlich gut, das Publikum leider überhaupt nicht. Wieso tanzt man im Kaufleuten nicht an Konzerten? Was ist das für eine deplatzierte Zurückhaltung? Wieso geht ihr überhaupt aus? Was wollt ihr überhaupt? Seid ihr sicher, dass es euch nicht genommen hat? (Anm. d. Red.: Der Ausdruck "Es hat jemanden genommen" trendet momentan ansatzweise und wurde im Noisey-/VICE-Office während der letzten Wochen durch Uğurs inflationären Gebrauch institutionalisiert. Der Ausdruck bedeutet so viel wie: Jemand spürt sich nicht mehr.)

22:00
Das Konzert ist zu Ende, wir beschliessen, bei meiner Freundin einen Joint zu rauchen.

22:40
Wir sitzen Joint rauchend auf dem Balkon meiner Freundin. Ein verwirrter Alt-Hippie kreist auf seinem Velo durchs Quartier. Anscheinend sucht er Unterhaltung und Gesellschaft. Früher sei hier noch mehr los gewesen, schreit der Alt-Hippie nostalgisch in Richtung Balkon. Früher sei wohl sogar die Zukunft noch besser gewesen, entgegne ich dem Choleriker, ohne zu ahnen, dass ich schon bald wieder in der Zukunft landen werde.

22:45
Die Freundin und ich kuscheln bekifft auf dem Sofa.

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00:06
Eine paranoide Regung in meinem Kortex weist mich an, weiterzuziehen.

01:12
Ich sitze in der Küche der WG meiner Mitarbeiter. Einer hat sein russisches Tinder-Date eingeladen. Sie muss denken, wir seien Vollidioten. Es stellt sich heraus, dass meine Kollegen ausser YouTube-Videos von Verkehrsunfällen, Betrunkenen, die am Strand versuchen ihre Hose über die Arme zu streifen, und Draufgängern, die sowjetische Hochbauten erklimmen, nicht wirklich viel von Russland wissen.

01:18
Ich habe Mitleid mit dem russischen Tinder-Date meines Kollegen. Ich versuche sie mit meinem kulturellen Wissen über Russland zu beeindrucken und rezitiere meine Lieblingsszene aus Ironie des Schicksals. Sie wirkt überrascht. Mein Kollege kontrastiert die Stimmung mit der Frage: Habt ihr Internet in Russland?

01:22
Ich schäme mich immer noch fremd. Mein Chef stösst zur Runde hinzu. Er ist soeben von DREI Wochen Ferien zurückgekehrt und eröffnet, seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht zu haben. Er ist betrunken leicht angetrunken (Mein Chef hat auf diese Änderung bestanden).

01:26
Mein Chef zeigt ein Foto des Verlobungsringes. Die Steine auf dem Ring stehen in derselben Konstellation, wie die Sommersprossen unter dem Auge seiner Verlobten. Ich realisiere, dass ich die romantische Seite meines Chefs bis anhin gar nicht kannte. Ich frage mich, welche Seiten mein Chef sonst noch so hat, die ich nicht kenne. Mag er Rollenspiele? Sammelt er Fussel aus seinem Bauchnabel? Hat es ihn eventuell auch genommen?

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02:28
Ich finde mich in der Schlange der Zukunft wieder. Eigentlich wollte ich ja nach Hause, aber DJ Koze spielt und meine Mitarbeiter haben Karten erhalten.

02:37
Mein Chef unterhält sich mit einem Menschen, von dem er denkt, ihn neu kennenzulernen. Nach fünf Minuten bemerken die beiden, dass sie sich in nüchternem Zustand bereits kennengelernt haben.

02:59
Ich verliebe mich abermals in eine Frau auf der Tanzfläche. Irritierenderweise scheint meine Herzensdame mit ihrer Mutter unterwegs zu sein, die angestrengt versucht, meine Avancen zu unterbinden, indem sie sich jedes Mal, wenn ich ihre Tochter von der Seite anspreche, zwischen uns stellt und mich mit dem Ellbogen wegdrückt. Ich versuche es von vorne, doch bevor ich zur Tochter vordringen kann, tötet die Mutter mich mehrmals mit ihrem Blick. Ich habe die Nachricht verstanden. Ich bin kein Schwiegersohnmaterial.

03:18
DJ Koze spielt gut, aber es hat zuviele Aargauer im Club. Die hat es alle ganz bestimmt schon genommen.

03:30
Wir schauen auf die Uhr und realisieren, dass es eine symmetrische Zeit ist. Wir machen einen Screenshot.

03:35
Wir flüchten zu unserem Homie Jimi Jules ins Revier. Er ist der vielleicht einzige Techno-DJ in Zürich, den es noch nicht genommen hat.

03:58
Grande.

04:04
Wir schauen auf die Uhr. Es ist wieder eine symmetrische Zeit. Wir sind uns sicher, dass wir verfolgt werden.

04:15
Wir sammeln Beweismaterial.

Im Hintergrund: Jimi Jules.

05:18
Aus irgendeinem Grund stehen wir plötzlich wieder in der Bar 3000. Unser Chef hat sich lange gedrückt, aber jetzt ist er wirklich dran mit bezahlen.

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05:19
Seine EC-Karte wird abgelehnt.

05:21
Seine Kreditkarte wird abgelehnt.

05:22
Seine zweite Kreditkarte wird abgelehnt.

05:23
Jemand anders kann mit Karte problemlos bezahlen.

05:24
Seine Postkarte wird abgelehnt.

05:25
Ich stecke ihm, dass thailändische Hacker wohl sein Konto leer geräumt haben könnten.

05:26
Er checkt sein e-Banking. Geld ist noch da. Er ist erleichtert und ich kenne nun die Kontostände von seinem Privatkonto, seinem Sparkonto und seinem 3. Säule-Konto. Sie sind eher medium beeindruckend. Aber immerhin hat er eine 3. Säule.

05:27
Ich nehme mir vor, meinen Angestellten konsequent keine Getränke zu bezahlen, falls ich eines Tages mal Chef sein sollte. Autorität und so.

05:38
Wir machen uns lächerlich, indem wir anfangen, zu freestylen. Wieso machen das weisse Menschen überhaupt?

6:12
Wir stehen im Aladin Kebap und bestellen einen Börek. Wieso machen das weisse Menschen überhaupt?

6:32
Wir stehen wieder in der Küche unseres Mitarbeiters und trinken den Smoothie, den seine neue Mitbewohnerin extra für sich gekauft hat.

Samstagabend, 12. November 2016

12:12
Ich wache auf und habe Kopfschmerzen. Ich bin bereits eine Stunde und zwöfl Minuten zu spät. Ich bin zum Brunch verabredet.

14:34
Ich kann es selber kaum glauben, aber ich spiele Pokémon-Monopoly. Ich kenne keine Pokémon. Aber ich habe das Pokémon, das im echten Monopoly die Bahnhofstrasse wäre. Ich finde es nicht fair, auf Pokémon Hotels zu bauen.

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15:27
Ich bin bankrott. Endlich.

17:03
Monopoly ist wirklich das allerlangweiligste Spiel aller Zeiten, wenn man als einziger zu früh ausscheidet. Und Kater hat. Zudem glaube ich, dass Pokémon keine Kapitalisten wären. Alles scheisse.

20:43
Ich treffe bei einem alten Freund in der WG ein, wo seine Geburtstagsparty gerade ins Rollen kommt. Wir kochen Spaghetti und trinken guten Wein.

21:37
Zwei Freundinnen treffen ein. Sie haben Strassenmusiker mitgebracht. Wir singen "O Sole Mio" und "Azzuro" in der Küche.

22:44
Ich finde eine Quelle für eine neue Reportage. Ich liebe diese Momente.

00:25
Jemand will mich mit seiner Kollegin verkuppeln. Ich hasse diese Momente.

01:30
Eigentlich sollte ich nun nach Hause gehen.

01:31

Ich gehe doch nicht nach Hause. Stattdessen lasse ich mich überreden, später noch in die Zukunft zu gehen.

02:15
Ich stehe wieder einmal in der Bar 3000. Ich treffe eine Bekannte, die letztes Wochenende das erste Mal in der Zukunft war. Sie war begeistert und hat jetzt zwei Freundinnen im Schlepptau.

02:20
Sie füllen mich und das Geburtstagskind mit Tequila-Shots ab. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass sie aus Polen sind.

03.37
Ich treffe unsere Redaktionspraktikantin. Sie textet Iouri Podladtchikov zu. Unangenehm.

03.50
Ich erlöse Iouri und verwickle die Praktikantin in ein eher fadenscheiniges Gespräch. Sie bietet mir ein Bier an. Ich nehme einen Schluck, weil Höflichkeit. Leider befindet sich ein Vodka-Shot im Glas. Hatte ich nicht bemerkt, wer macht sowas auch. Unangenhm. Das nehme ich für Iouri nicht auf mich.

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03:59
Ich merke, dass ich schon wieder betrunken bin und will nach Hause gehen.

04:02
Ich treffe einen Rollstuhl-Rugby-Spieler, der Stand-up-Comedy macht.

04:03
Irgendein Arschloch macht dem Rollstuhlfahrer ein Jobangebot. Er solle doch in einer Fabrik Fruchtsäfte abpacken. Der Rugby-Spieler und Stand-up-Komödiant erklärt dem Arschloch, dass er ein fucking Rockstar ist, und es verdammt noch mal nicht nötig hat, Fruchtsäfte abzupacken.

04:05
Der Rollstuhl-Rugby-Spieler und ich sind wütend.

04:45
Ich würde gerne jemanden ansprechen, aber ich fühle mich innerlich zu leer und zu ausgesaugt, um die Initiative zu ergreifen.

05:02
Ich stehe rum wie ein Vollidiot und rauche Kette.

05:18
Jemand spricht mich an. Wir haben nicht dieselbe Sexualität. Ob ich nicht einmal etwas Neues ausprobieren möchte, fragt mich der Herr. Ich lehne dankend ab und versuche erfolglos, der Sache etwas Schmeichelndes abzugewinnen.

05:34
Endlich finde ich die innere Stärke, nach Hause zu gehen.

05:41
Ich denke auf dem Nachhauseweg über das Wochenende nach. Wieso ging ich drei Mal hintereinander in denselben Club? Wovon werde ich getrieben? Hat es mich genommen?

06:05
Ich durchsuche die Küche nach den Resten vom leckeren Essen meiner Mitbewohnerin. Nichts. Gar nichts. Ich esse eines meiner abgelaufenen Himbeer-Joghurts und schlafe ein—einsam und deprimiert. Mich hat es wirklich genommen.