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Interviews

Ein Interview mit dem Schweizer Schlagzeug-Magier schlechthin

Schlagzeugspielen wie von einem anderen Stern: Der in New York lebende Jojo Mayer stösst Transformationsprozesse los.
Foto von Shervin Lainez

Irgendwo im betonierten Niemandsland des New Yorker Stadtteils Queens, circa 2003: Auf einem riesigen Hof huschen seltsame Gestalten umher. An einer improvisierten Caipirinha-Bar stehen der stolze Mussolini, der Astronaut Neil Armstrong und eine schlecht rasierte Marilyn Monroe beieinander. Der Duce kichert laut. Ein Typ in einem Ku-Klux-Klan-Gewand schleicht immer wieder in eine dunkle Ecke, nimmt die Spitzhaube ab und setzt eine dort versteckte Whiskeyflasche an. Aus einem der anliegenden Häuser plädiert Cyndi Lauper dafür, dass Girls uneingeschränkten Spass haben dürfen. Mitten auf dem Hof steht ein Band-Set-Up: Keyboards, Bass, ein grosses Schlagzeug.

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Als die Band zu spielen beginnt, kommen alle Partyaktivitäten zum Erliegen. Alles gruppiert sich um die Schaltzentrale, das Schlagzeug: Zu hören sind Beats von ungeahntem Tempo, von ungeahnter Dichte und Komplexität. Drum'n'Bass, komplett live umgesetzt. Die Musik passt irgendwie zu diesem Setting. Sie macht irgendwas mit einem. Transformiert einen, verbiegt Zeit und Raum. Der Mann hinter dem Schlagzeug heisst Jojo Mayer, die Band Nerve.

Das erste Mal Jojo Mayer sehen und hören vergisst man nicht, für mich war es eben diese Kostümparty. Seither hat der Zürcher Drummer seine Live-Electronica-Experimente diversifiziert und vom blossen Temporausch befreit. Jetzt hat das Schweizer Fernsehen ihn mit einem Dokfilm gewürdigt.

Noisey: Jojo, wofür steht Nerve?
Jojo Mayer: Authentische Hi-Energy-Musik des frühen 21. Jahrhunderts, die nach vorne blickt. Nerve reflektiert viele Einflüsse aus der elektronischen Musik, doch im Gegensatz dazu sind die neuartigen Beats und die Musik nicht programmiert, sondern in Realtime gespielt und oft komplett improvisiert.

Würdest du sagen, Nerve ist vor allem ein Live-Projekt?
Nicht unbedingt. Aber Nerve ist ursprünglich aus meinem Live-Event "Prohibitiv Beatz" in New York entstanden. Damals kreierten wir ein neuartiges Live-Erlebnis, das dem Ruf unserer Musik vorauseilte. Es war mir immer schon wichtig, der ausgelutschten theatralischen Präsentation von Live-Musik zu entkommen, da dieses starre Protokoll von einengenden Erwartungen die Weiterentwicklung von neuer Musik einschränkt. Wir wollen beispielsweise die Abschrankung der Bühne zwischen Publikum und Musiker auflösen. Ein Schritt in diese Richtung ist unser Multiple-Stage-Set-Up, das wir im Kaufleuten präsentieren werden.

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Foto von Dan Liu

Was ist der Anreiz daran, wie ein Drumcomputer zu spielen?
Ich bin weder in der Lage wie ein Drumcomputer zu spielen, noch bin ich darauf aus. Aber ich kann die Illusion erzeugen, als könnte ich es. Wir haben Maschinen erfunden, um unser Leben leichter zu machen, nicht um uns von ihnen versklaven zu lassen oder mit ihnen in Wettbewerb zu treten. Es geht mir darum, mich mit der Ästhetik digitaler Kultur auseinanderzusetzen. Diese Kollision zwischen analoger und digitaler Kultur sprengt alte Denkmuster und öffnet Türen für neue Musik.

Du bist ein begeisterter Illusionist—hinter und neben dem Drumkit. Ist dein Spiel sowohl ein Trompe-d'oeil wie auch ein Trompe-d'oreille? Oder einfacher gefragt: Wie viel Illusion steckt im Schlagzeugspiel und besonders in deinem Schlagzeugspiel?
Ich selber bin nicht in erster Linie an Illusionen interessiert, sondern daran Magie zu erzeugen. Schlagzeugspielen ist komplett real. Doch wer Schlagzeugspielen beherrscht, kann damit die Wahrnehmung beeinflussen. Ein einfacher Trommelwirbel versetzt uns in Erwartungshaltung, erzeugt Spannung. Wenn ich aber ein Schlagzeug in einem Operationssaal oder mitten auf einer Zugschiene aufstelle, brauche ich nicht einmal zu spielen, um Spannung zu erzeugen. Das wirkt aggressiver als jedes Schlagzeug an einem Rockkonzert. Aber es ist eine Illusion. Oder ich kann mit polyrhythmische Beats spielen, welche die Illusion erzeugen, dass sich das Tempo verbiegt. Schlagzeugspielen und Musikmachen sind Kunst. Und Kunst ist die Illusion, die uns die Wahrheit erklärt.

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Wie eng sind Zauberei, Mathematik und Schlagzeugspiel verbunden?
Schlagzeugspielen liegt, wie fast alles, mathematischen und physikalischen Gesetzen zugrunde. Wenn diese Gesetze harmonieren, kreieren sie Magie, die wir in der Natur beobachten können. Wenn ein Mensch diese Magie erzeugen kann, grenzt das oft an Zauberei.

Ist dein Leben Improvisation oder die Illusion von Improvisation? Kollidiert man nicht oft mit der Kontrollierbarkeit und dem Kontrolliertwerden?
Wir müssen die Frage stellen, was uns wichtiger ist: Freiheit oder Sicherheit. Dieser Balanceakt kann ein Dilemma auslösen, weil er sehr hohe Ansprüche an uns stellt. Wer beispielsweise Freiheit für Sicherheit opfert, wird möglicherweise vom Leben enttäuscht, und mit Bestimmtheit in der Kunst scheitern. So gesehen versuche ich nach einem Ideal zu leben, das ich mit meiner Musik bereits ausdrücken kann.

Wie unterscheidet sich deine Art zu kommunizieren vor und hinter dem Schlagzeug?
Vor dem Schlagzeug rede ich und gestikuliere mit den Händen. Hinter dem Schlagzeug sind meine Hände anderweitig beschäftigt. Und ich halte den Mund.

Welcher Musiker hat dich zuletzt beeindruckt?
James Blake. Er hat keine Angst davor, neue Wege zu gehen, alles auf das Wesentliche zu reduzieren und sich selbst zu sein. Ein frischer Wind in der abgestandenen Popkultur von heute.

Wer klopft den geilsten Beat momentan?
Da gibt es einige: Zum Beispiel Deantoni Parks oder Mark Giuliana, ein ehemaliger Schüler von mir, der auch auf Bowies letztem Album trommelte.

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Du sagtest kürzlich, dein Wohnort New York sei zu einem einzigen Spekulationsobjekt verkommen. Eine Traumwelt mehr, die in sich zusammenfällt. Wo also hin?
Als Mensch könnte dies jeder Ort sein, zu dem wir uns verbunden fühlen. Als Künstler und Musiker glaube ich mehr an Konzepte als an Geografie. Möglicherweise werden neue Impulse mehr und mehr in mikroskopischen Zellen abseits der grossen Metropolen entstehen. An Orten, wo es jungen Künstlern und Musikern, die keine reichen Eltern haben, noch möglich ist zu experimentieren. Das zentrale Thema dabei ist wohl, wie diese kreativen Zellen, die es jetzt schon zu tausenden überall auf der Welt gibt, aus der Isolation herauskommen, um sich untereinander und der Aussenwelt zu verbinden und vernetzen. Dann werden wir wieder progressive kulturelle Bewegungen haben.

In dem neuen Dokfilm Changing Time, der am Mittwoch im Kaufleuten präsentiert wird, schaust du auch zurück. Warst du früher mehr Zauberer und weniger Musiker als heute?
Ich habe früher öfter Tricks verwendet, um das Publikum zu verzaubern. Heute gelingt es mir immer öfters ohne Tricks.

Der Film "Jojo Mayer – Changing Time" von Alexis Amitirigala wird am Mittwoch, dem 28. September um 20:00 Uhr zum ersten Mal im Festsaal des Zürcher Kaufleutens gezeigt. Der Eintritt ist gratis. Anschliessend tritt Mayer mit seiner Band Nerve im Clubsaal auf.

Auf "SRF 1" wird der Film erstmals am 2. Oktober um 11:55 Uhr und 23:20 Uhr zu sehen sein.