Foto: Flickr | Roman Boed | CC-BY 2.0
Anzeige
Anzeige
Als ich in den Spätachzigern nach Wien kam, bestand in der staubigen Stadt am Rande Europas der unbändige Wille, Weltstadt zu werden. Es passierte seither viel. Ich behaupte mal, nur in Berlin passierte mehr, was Stadtentwicklung und Erneuerung, Gastronomievebesserung und auch Ausbau der Kunst- und Kulturszene betraf. Offensichtlich haben aber viele nun genug davon und wollen zurück zu den Wurzeln. Bloß zu welchen?Erst heuer haben mir einige Bekannte erklärt, als ich sie zu diversen Parties eingeladen habe, sie könnten nicht kommen, weil genau da sei der Neustifter Kirtag, die anderen warfen mir just dasselbe Argument herüber, bloß war es da die „Brunner Wiesn“, und in diesen Tagen eröffnet nun mitten am schicken Praterstern die Wiener Wiesn, ein Ableger des Münchner Oktoberfests samt Ehrenschutz der Stadt, immens hohen Eintrittsgeldern, der ganzen Palette an Diarrhoe-Musik von „Ein Prosit“ bis „Atemlos“ UND der neuen Trendkleidung: Tracht.Nun besteht selbstverständlich der Grundsatz, dass jeder tragen darf was er will, ohne dabei in die Mühlen der Geschmackspolizei zu geraten. Bemerkenswert ist aber schon, wenn im Herbst neuerdings Lederhosen und Dirndl spätnachts unsere Clubs bevölkern, zumeist mit stark alkoholisiertem Inhalt und dann zu Techno, House und Disco tanzen. Dort wo sie ursprünglich herkamen herrscht ja strenges Fortschrittsverbot, es darf nur „Wohlfühlmusik“ gespielt werden, also Musik, bei dem mir spaßfreiten Jugendopfer schnell unwohl wird. Es darf unter dem Schutzmantel der Lustigkeit („is ja eh gmiatlich“) gesoffen werden, was das Zeug hält, um es anschließend wieder loszuwerden. Und es wird nicht mehr lange dauern, da werden spitzfindige Veranstalter die Kombination Techno und Lederhosen zu einem Partykonzept entwickelt haben, wobei das Konzept ohnehin überall dasselbe ist. Man mache sich dicht, nur in anderer Kluft.Ich gehe natürlich nicht soweit, jeden Träger von Tracht in irgendwelche rechten Ecken zu stellen. Doch ist es ein Phänomen, das zu unserer Zeit passt: Wenn schon so vieles über uns hereinbricht (Flüchtlinge) und noch hereinbrechen wird (diverse Wahlen), dann müssen wir näher zusammenrücken, uns definieren via jener Kleidung, die einst Arbeitskleidung der Landbevölkerung war, auch Wiedererkennungsmarke der Berufsstände und noch vieles andere mehr. In Wien, das kann man gerne nachlesen, spielte die Tracht aber nie eine grosse Rolle. Zu bürgerlich, zu feudal, zuviel Adel einst. Jetzt jedoch erlebt diese Art von Kleidung eine Renaissance, die an die 20er und 30er Jahre erinnert. Mittlerweile gehört es zum guten Ton, eine Krachlederne zu besitzen—auch wenn sie nur 40 Euro gekostet hat—und sich im Spätsommer und Herbst zu den aus dem Boden schießenden Bierzeltevents zu begeben. Was sich danach ergibt, steht in den Sternen. Auch jenen im Kopf.
Anzeige