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Glastonbury vs. Coachella: Welches Festival ist besser?

Wir haben einen Amerikaner zum Glastonbury geschickt, um herauszufinden, welches der beiden weltberühmten Festivals besser ist.
Matt Shea
London, GB

Wann immer jemand versucht, einem Amerikaner das Glastonbury zu erklären, wird natürlich versucht, irgendwelche Vergleiche zu ziehen, und schon bald fällt die Frage: „Ist es besser als das Coachella?“

Einer der größten Unterschiede, die mir direkt aufgefallen sind, war der, dass die Briten offensichtlich wirklich gut darin sind, Drogen zu konsumieren. Die Rave-Szene startete hier in den 80ern und dementsprechend gehe ich mal schwer davon aus, dass der gemeine Inselbewohner schon seine erste Bekanntschaft mit Ecstasy machte, während wir Amerikaner noch getrocknetes Oregano von High School Seniors gekauft und Soundgarden gehört haben. Und das ist keine Verallgemeinerung. Es ist eine Tatsache, dass doppelt so viele Briten wie Amerikaner Pillen konsumieren—das gleiche gilt für Kokain. Bei Mephedron und Ketamin sind es sogar fünfmal so viele. Es ist also wenig verwunderlich, dass mir nur wenige Stunden nach meiner Ankunft auf dem Festival schon das hier angeboten wurde …

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Und was soll das sein? Ecstasy-Pillen der Sorte „Dom Perignon“, die offensichtlich dem Logo der bekannten Champagnermarke nachempfunden waren, deren Produkt für 80 Euro das Gläschen exklusiv von den Reichen und Schönen gepichelt wird. Ich konnte der Vorstellung eines konsumierbaren Statussymbols nur schwer widerstehen, aber die weniger ansprechende Aussicht darauf, schamvoll erklären zu müssen, dass ich schwitze wie ein Geysir, weil ich mir eine Pille eingeworfen hatte, die offensichtlich für die materialistische Elite entworfen worden war, ließ mich dankend ablehnen.

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Das Glastonbury ist unglaublich riesig. Es ist tatsächlich zu groß, um es an einem Wochenende komplett angucken zu können—mit 175.000 Besuchern ist es fast doppelt so groß wie das Coachella mit seinen 90.000 Besuchern. Das Glastonbury ist wohl das, was das Woodstock heute wäre, hätte sich Max Yasgur damals nicht dazu entschieden, wieder einen Milchbauernhof zu führen, nachdem er von seinen Hippie-hassenden Nachbarn geächtet worden war. Mit 44 Jahren Geschichte auf dem Buckel kommt das Glastonbury der Realisierung des Hippie-Traums wohl am nächsten—einem Traum, der in Amerika mit dem Ende von Woodstock ausgeträumt war.

Es gibt wohl keinen Moment, der das besser zeigte als der Auftritt des Dalai Lama—das wohl Bizarrste, was seit Menschheitsbeginn auf einem Festival geschehen ist. Es war der Moment, an dem die für die westliche Gegenkultur typische Fetischisierung fernöstlicher Spiritualität endlich an ihren Ausgangspunkt zurückkehrte. Und das hier war passiert:

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Während ihres Auftritts las Patti Smith ein Geburtstagsgedicht für den Dalai Lama, der kommenden Montag 80 wird. Danach führte sie den angeschlagenen Religionsführer im Exil auf die Pyramid Stage, wo er von einem kollektiven „Awwww“ empfangen wurde—was übersetzt in etwa so viel heißt wie: „Aww, wir lieben den Dalai Lama und seinen putzigen Kampf für Autonomie gegen eine repressive Supermacht.“ Dann sang ihm die Menge, besoffen, bekifft und/oder anderweitig berauscht, wie sie war, im Chor ein „Happy Birthday“.

Während die Menge fröhlich das Geburtstagsständchen schmetterte, half Patti Smith Seiner Heiligkeit dabei, einen Geburtstagskuchen anzuschneiden. Wären wir in Amerika gewesen, wäre an dieser Stelle Steve Aoki auf die Bühne gerannt, hätte das Gesicht des Dalai Lama in die Torte gedrückt und der Bass-Drop hätte eingesetzt. Hier passierte aber nichts dergleichen—und ich schätze, dass das auch die Schönheit des Glastonbury ausmacht. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie der spirituelle Führer von Tibet einen Überraschungsauftritt beim Electric Daisy Carnival oder dem Lollapallooza absolviert.

Natürlich passt der Dalai Lama mit seiner Haltung zum Umweltschutz, interreligiösem Dialog und seinem Interesse daran, den eigenen Geist ständig durch Meditation und Barmherzigkeit zu erweitern, immer schon zur Hippie-Bewegung wie Arsch auf Eimer—dementsprechend funktionierte sein Auftritt beim Glastonbury auch. Als ich dann aber irgendwann morgens um 6 Uhr im Stone Circle einen Mann sah, der eine große Line Keta von einer Hand der Fatima zog, merkte ich, dass—wenn diese spirituellen Praktiken zusammen mit Sex, Drogen und ungezügeltem Hedonismus in den großen Werte-Eintopf der heutigen Jugend geworfen werden—das ganze Gebilde große Brüche bekommt.

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Die Sache ist nämlich die, dass unsere Generation zu verkatert ist, um irgendeinen irgendwie bedeutungsvollen spirituellen Diskurs zu erschaffen. Also bedienen wir uns nach Belieben hier und da und bleiben dabei einfach weiter möglichst hedonistisch. So war es dann auch in den sogenannten Healing Fields, wo ein italienischer Schamane namens Quinto anbot, eine „Pyramidal Memories Transmutation“—ein Ritual amerikanischer Ureinwohner—an mir durchzuführen. Es war schon eine Weile seit meiner letzten Erinnerungstransmutation vergangen, also willigte ich ein.

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Der Zweck dieser Zeremonie war, mithilfe diverser Glas-Steinchen die Schwingungsenergie meiner DNA zu verstärken, während eine Hellseherin namens Leticia die Erinnerungen meiner Vorfahren niederschrieb. Es ist eigentlich ganz interessant, dass wir so schnell darin waren, das sinnfreie Tragen traditioneller Kopfbedeckungen von Festivals zu verbannen, aber offensichtlich niemand auf die Idee gekommen ist, mal einen Ureinwohner zu fragen, was er oder sie von einem Möchtegern-Carlos Castenada, der sich selbst Quinto nennt und mit Kristallen vor den Gesichtern fremder Leute rumwedelt.

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Kurz nach meiner Transmutation hatte sich eine Menschenmenge um irgendeine Attraktion am Stone Circle gebildet. Ich war neugierig und lief rüber, um zu sehen, was dort vor sich ging. Das, was ich vorfand, war das wahrscheinlich Britischste, was ich je gesehen habe, seit Brian May „God Save the Queen“ auf dem Dach des Buckingham Palace gespielt hat. Es war weder ein psychedelischer Magier noch irgendeine Fahrattraktion oder ein interaktiver Roboter, den man hier vielleicht bei dem ganzen Gejohle und Gegröhle erwartet hätte. Es war ein Tisch. Ein Tisch, sonst nichts. War das hier irgendein Spiel, das die Briten während entbehrungsreicher Kriegsjahre erfunden hatten, als man sich keine Spielsachen oder andere Aktivtäten für die Zeit nach dem Abendessen leisten konnte? Wie auch immer, ich machte mit.

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Das Ziel des Spiels war, unter den Tisch zu klettern und auf der anderen Seite wieder hochzukommen—ohne dabei runterzufallen oder die Tischbeine zu berühren. Es kostete mich ganze zwei Pfund, unter diesen Tisch klettern zu dürfen, aber es war das mit Abstand beste unter-den-Tisch-kletter-Spiel, das ich je gespielt hatte. Bei meinem dritten Anlauf war ich endlich erfolgreich, was ich dann natürlich in der denkbar amerikanischsten Art überhaupt feierte: einem super männlichen Brunftschrei—oberkörperfrei.

Endlich war ich auch bereit für den ganzen Scheiß, wegen dem Leute normalerweise auf so ein Festival gehen—die Musik zum Beispiel. Ich machte mich also auf den Weg zur Other Stage, um mir dort Young Fathers anzuschauen. Sie waren absolut großartig: originell, talentierte Instrumentalisten, toller Flow, fantastische Stimmen, beeindruckende Dance-Moves, aggressiv und maskulin mit düsteren, dronigen Beats, gleichzeitig aber auch zärtlich und feminin. Das einzige Problem war dabei, dass sie offensichtlich mit dem Publikum nicht wirklich zufrieden zu sein schienen. Sie schauten die ganze Zeit griesgrämig aus der Wäsche und man merkte buchstäblich, wie komisch die Stimmung wurde, als G Hastings sich darüber beschwerte, dass wir nicht tanzen. Versteh mich nicht Falsch, G, Dead war ein geradezu historisches Album, aber ich fange an zu tanzen, wenn ihr euch mal für ein verdammtes Genre entscheiden könnt—dann weiß ich auch endlich, wie ich mich bewegen soll.

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Ich ging weiter und merkte plötzlich, dass alle Frauen verschwunden waren. Dann dämmerte mir warum. Idris fucking Elba, a.k.a. Stringer Bell, stand hinter den Plattentellern auf der Sonic Stage. Die Welt schien plötzlich stillzustehen. Der Typ von The Wire ist nicht nur DJ, sondern auch gar kein Amerikaner?!

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Foto von Matt Shea

Die Reaktion der Briten auf Idris Elba als DJ war in etwa: „Der spielt doch nichts anderes als EDM-Clubmixe“ oder: „Wo zur Hölle hat der bitte einen Tech-House Remix von ‚Loveshack’ aufgetrieben?“ oder wahlweise auch: „Was zum Teufel hat Idris Elba eigentlich hinter einem DJ Pult verloren?“ Tja, es tut mir wirklich leid. Was kann ich dafür, wenn einer der meistgefeierten Schauspieler des 21. Jahrhunderts bloß ein wenn überhaupt mediokrer DJ ist? Es schien auch ganz so, als wäre das größtenteils weibliche Publikum weniger an Elbas Mixing Skills interessiert gewesen. Immer hörte man Rufe, dass er sein Shirt ausziehen soll. Armer Typ—wen interessiert Idris Elbas perfekter durchtrainierter, glänzender Oberkörper überhaupt?

Inzwischen hatte ich mich mit dem Gedanken angefreundet, dass auf dem Glastonbury einfach viel abgefahrenes Zeug passiert. Ich wunderte mich also keineswegs, als plötzlich vor mir Jesus mit Hula-Hoop-Reifen und schwebendem Jonglierball erschien.

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„Jesus hat die ganzen guten Teile aus der Bibel weggelassen“, sagte er mir. „Den Hula-Hoop, die Kontaktjonglage, das LSD. Aber Jesus ist dieses Wochenende hier und er sagt: ‚es ist alles gut, meine Kinder.‘“

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„Ich gehe hier jetzt seit 10 Jahren hin. Es hat mein Leben total verändert. Ich heiße jetzt Dantastic Glastonbur—ernsthaft. Ich habe meinen Namen vor fünf Jahren ändern lassen.“

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Es war klar, dass das Glastonbury seine Besucher nachhaltig veränderte. Es ließ einen Mann seinen Namen ändern, verwandelte Idris Elba in einen DJ und mich in den großen Tisch-Champion, der ich noch nie gewesen war. Durch meine Jugend in den Vereinigten Staaten war meine Erfahrung mit Musikfestivals geprägt von straff durchorganisierten und aufwendig produzierten Partys mit EDM-Zelten, scanbaren Armbändchen und von Schnapsfirmen gesponserten „Chillout Domes“. Ich fing langsam an zu begreifen, dass das Glastonbury viel mehr war als das.

Ich wollte das Festival für mich in einen Kontext einordnen, also sprach ich mit einer anonymen Tarotleserin, die seit den frühesten Anfangstagen mit dabei ist. „Die Menschen kommen zum Glastonbury“, sagte sie mir, „und sie haben eine bestimmte Erwartung daran, was hier passieren wird. Und einer der Gründe, warum das Glastonbury so unglaublich magisch ist, ist der, dass diese Dinge nie geschehen. Ein Besuch beim Glastonbury ist ein bisschen wie E.M. Fosters Auf der Suche nach Indien.“ Ich hörte auf ihren Rat und machte mich ohne einen konsistenten Plan oder irgendeine Erwartung auf die Suche nach dieser Magie. Erst nachdem ich meine Freunde verloren hatte, ziellos durch die Gegend gestreunt war und schließlich einem Fremden durch ein Loch unter einen Zaun durch gefolgt war, fand ich sie endlich, die Magie… Hier gab es eine Whirlpool, ich war dazu bestimmt, hier zu sein.

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Wenn es irgendeine Art von „Ideologie“ gibt, die das Glastonbury ausmacht, dann ruht diese auf vier Säulen: Musik, umweltfreundliche und sozialistische Politik, Unmengen an Drogen und ein ordentlicher Batzen fernöstlicher oder neo-heidnischer Spiritualität. Kurz gesagt, das Festival gedeiht auf dem Erbe der Hippie-Bewegung, die in Amerika so gut wie ausgestorben ist. Natürlich ändert es sich und wird immer geordneter und kommerzieller—aber immerhin ist das Glastonbury noch immer etwas, von dem die Besucher auch ein Teil sein wollen. Und noch viel mehr als das—es ist weit entfernt davon, sich den amerikanischen Ansatz an Musikfestivals anzueignen: Eine Multimilliarden Dollar schwere Industrie, die mehr mit Viehzucht als Kulturveranstaltung zu tun hat.

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