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Die größten Popstars der Welt sind wandelnde Widersprüche

Popmusik ist von Natur aus authentisch und gleichzeitig sehr, sehr falsch. Hier ist eine Theorie, warum wir immer noch darauf reinfallen.

Anfang des Jahres hat Lorde ihren Überraschungshit „Royals“—der die Exzesse und den Materialismus in der heutigen Popwelt kritisiert—bei der Grammy-Verleihung zum Besten gegeben. Während geflügelte Statuen über die Leinwand flackerten, hat die 17-Jährige gesungen und gezuckt und ihre persönliche Shitlist an finanziellen Exzessen mit einem Publikum aus Berühmtheiten geteilt, das in Tom Ford-Anzügen und Gucci-Kleidern da saß. „Cristal, Maybach, diamonds on the timepiece“, hat sie gesungen. „Jet planes, islands, tigers on a gold leash.“

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Es mag dir surreal vorkommen, dass jemand die kapitalistische Ästhetik der Popmusik bei der weltweit schicksten Musikshow kritisiert, aber die Grammys haben seltsamerweise perfekt zu Lorde gepasst. Denn die Wahrheit über den Luxus der Popkultur im Keller einer Kneipe oder in einer Kunstgalerie loszulassen, würde die Leute wahrscheinlich nur nerven. Was jedoch am meisten aussagt, ist die Tatsache, dass Lorde zu einer Art Ikone für die Materialisten geworden ist, die sie eigentlich kritisiert. Kanye liebt sie, „Royals“ war im Werbespot für ein teures Samsung-Smartphone zu hören und sie hat mit MAC Cosmetics zusammengearbeitet. Es ist dieser Widerspruch—ich bin dies und ich bin auch das—der Teil eines breiteren sozialen Trends ist, der mit der Definition von Authentizität und Gegenkultur spielt.

Lorde, die bei den Grammys „Royals" performt

Das basiert auf etwas, das sich Hyperrealität nennt—um mal akademisch zu werden—und geht auf den französischen Soziologen Jean Baudrillard zurück, der dieses Phänomen in den 80ern zum ersten Mal beobachtet hat. Sendungen wie Berlin—Tag & Nacht sind der Gipfel der Hyperrealität, da sie zwar deutlich sagen, dass sie ein Drehbuch haben, sich aber trotzdem darauf verlassen, dass die Zuschauer die Darsteller für komplett real halten. Diese Idee wurde auch bei Nicki Minajs neuestem Cover-Shooting für Dazed erforscht und wahrscheinlich satirisch betrachtet, bei dem die Sängerin aussieht wie eine extrem gepflegte Hochglanz-Hausfrau, die unbekümmert alltägliche Aufgaben erledigt, wie Sandwiches mit Schinken und billiger Mayonnaise zuzubereiten, während sie in ihrem Multi-Millionen-Anwesen von Symbolen des Reichtums umgeben ist.

Die Sache ist, egal wie sehr antikapitalistische Botschaften wie die von Lorde ins Schwarze treffen, die Wahrnehmung davon deutet darauf hin, dass wir die Konsumkultur nicht ganz ablehnen wollen. Wir wollen an die Vorstellung glauben, sie abzulehnen.

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Wir glauben, dass hinter diesen surrealen Fotoshootings, sexualisierten Musikvideos und hübschen Facebookseiten etwas steckt; ein echter Mensch. Aber anders als zu Zeiten des offenen Radikalismus in den 60ern, halten sich die Stars selbst heute bedeckt. Denn 2014 ein Star zu sein, bedeutet auch, ähnlich wie im produzierenden Gewerbe, seinen Fans einen Lifestyle zu verkaufen. Und da die großen Interviews sich immer mehr gleichen, gibt es für Journalisten immer weniger Handlungsspielraum, um zu analysieren, was einem verkauft wird. Und ohne diesen Zugang—ohne Artikel, die Bullshit aufdecken und hinter die Kamerablitze gucken—sind PR und Marketing so frei wie nie, zu drehen und zu verzerren und ihre Stars zu anspruchsvollen Karikaturen zu machen. Wir fallen darauf rein und machen mit.

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Pop hat selbstverständlich seine eigene Palette an Ankündigungen und Symbolen, die dazu bestimmt sind, sich in deinem Gedächtnis festzusetzen. Popstars benutzen plakative Zeichen wie Punk (Pink), Nostalgie (Adele) und „exotische“ Tänzer (die meisten weißen Popstars), um semi-bewusste Eindrücke im Zusammenhang mit ihrer Musik zu erschaffen. Und da wir uns in einem von Werbung gesteuerten Zeitalter befinden, nehmen wir es ohne nachzudenken auf. Das Ergebnis ist ein enormer Hirnfick an vagen Metaphern, die sich kompliziert aufeinander beziehen, ohne einen sichtbaren Ursprung zu haben.

Dieser hyperaktive Symbolismus wird durch unsere Kultur, alles, was im Fernsehen oder sonst wo übertragen wird, aufnehmen zu können und zur Verfügung zu haben, beschleunigt. 1993 hat der postmoderne Autor Don Delilo im The Paris Review erklärt, wie Film (und jetzt das Internet) es uns erlaubt, „uns zu untersuchen, gegenseitig zu imitieren und unsere Realität neu zu formen… auf Arten, die früheren Gesellschaften nicht möglich waren“. Laut ihm löst uns die daraus entstehende „duale Identität“ vom hier und jetzt und „macht einige von uns zu Schauspielern, die alles durchdenken“.

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Diese Selbst-Imitation, die Delilo ausmacht, findet seit den frühen 80ern statt. Zu dieser Zeit gab es ein Revival des amerikanischen Pro-Wrestlings—ein Sport, der zuvor als Farce diskreditiert wurde—das zeigte, wie die Grenzen zwischen Kopie, Parodie und authentischem Original anfingen zu verwischen. Pro-Wrestling wurde zu einem Spektakel, weniger zu einem Sport—ein Symbol für sportliches Drama, das gar nicht wirklich stattfand. Aber da das Fernsehen voll von teuren, extrem realistischen Simulationen war, war die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität nicht eindeutig. Zu dieser Zeit fand der Begriff „the real thing“ seinen Weg in das Jugendlexikon. Pro-Skater wie Rodney Mullen waren „the real thing“—und ein Gegensatz zum falschen Poser—ebenso wie Schokoriegel und Erfrischungsgetränke. Selbst jemand wie Hulk Hogan, der ideale Wrestler, konnte so sein. Zu sagen, dass etwas kein Fake ist—selbst wenn es das war—wurde ein Zeichen der Großartigkeit.

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In dieser Ära hat Pop, der immer die Seele des künstlichen war, eine etwas komplexere Beziehung zur Authentizität entwickelt. 1998 hat Britneys Video zu „…Baby One More Time“ eine neue Art von Superstar verkündet—einen, der sowohl moralisch makellos (das christliche Schulmädchen-Outfit, die Behauptung, sie hätte noch nie mit ihrem festen Freund Justin Timberlake geschlafen) als auch außergewöhnlich sexy war (das christliche Schuldmädchen-Outfit, die Tatsache, dass sie natürlich mit Justin Timberlake geschlafen hatte). Für ihre Außenwirkung war dieser Balanceakt unverzichtbar, denn fast genauso stark wie die offensichtliche Perversität der Öffentlichkeit, ist die unmittelbare Zurückweisung dieser Perversität. Britneys Geniestreich war, Anstößigkeit und Tugend zu vermischen und dies war möglich, da Pop nicht länger darauf limitiert war, eine realistische Vorstellung zu verkaufen—selbst wenn die Vorstellung nur war: „DU WILLST SEX“.

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In den eineinhalb Jahrzehnten danach ist diese Dualität zur selbstverständlichen Gewohnheit unserer Kultur geworden. Wir haben alle das Folk-Revival von Mumford And Sons und Konsorten beobachtet, das die primitive Angst der Massen vor oberflächlichem Pop und fortgeschrittener Technologie reflektiert. Auch in Hollywood findet man diese Entwicklung, wo Filme wie Crazy Heart und Inside Llweyn Davis diese Back-To-The-Roots-Werte auf die Leinwand bringen. Aber hinter dem Trend steckt ein Paradox. Durch die Sehnsucht nach dem, was Folk repräsentiert—im Prinzip die Zuflucht vor dem dekadenten Glanz—haben die Anhänger des Folk-Booms den Glanz nicht wirklich abgelehnt. Stattdessen wurde ihnen eine neue, glänzendere Marke des Folks gegeben, die schnell mit normalem Pop verschwommen ist.

Die Idee der Hyperrealität beschränkt sich aber nicht zwangsläufig auf Mainstream-Pop. Nimm nur das Lo-Fi-Genre, in dem Bands wie Yuck, Wavves und die meisten Vertreter des Captured Tracks-Labels ihren Idolen Tribut zollen. Mit ihren Retro-Referenzen beziehen sie sich auf den US-Underground der frühen 80er, als soziale und technologische Einschränkungen dazu führten, dass eine neue Welle an Indie-pendent-Bands, zwischen Schichten in der Fabrik oder so, eilig im Schlafzimmer oder in schäbigen Labelstudios aufnehmen musste.

Das meiste Lo-Fi-Zeug aus dem letzten Jahrzehnt war jedoch nicht ungeschliffen, sondern wurde entschliffen. Wenn seine ungewaschenen Fundamentalisten grunzen: „Ich weiß nicht, Mann, ich denke für mich klingt das einfach besser“, impliziert das, dass die Inspiration der alten Garde so totemistisch ist, dass es, anstatt billige, moderne Musiktechnologie zu schätzen—also anstatt deine Idole durch Weiterentwicklung zu töten—nötig ist, sich absichtlich zurückzuhalten, um authentischer auszusehen. Aber dieses Symbol ist fehlerhaft, denn wie auch beim Folk-Revival hat die Ablehnung von oberflächlichem, maschinellem Pop das absurde Gegenteil hervorgebracht: oberflächliche und maschinelle Underground-Musik.

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All das zeigt, dass Kapitalismus anti-kapitalistische Tugenden fördert. Wir alle haben idealistische Teenager gesehen (oder sind welche gewesen), die in Ramones T-Shirts von H&M, die in Sweatshops gefertigt wurden, zivilen Ungehorsam begehen. Wir akzeptieren, dass „Indie“ in der heutigen Kultur ein oberflächliches Symbol der Nervosität geworden ist. Und wir nehmen ambivalent zur Kenntnis, dass Punk sich sein eigenes Grab schaufelt, indem eine große, unabhängige Brauerei in Großbritannien Bier mit dem Namen „Punk IPA“ bzw. „Hardcore IPA“ herstellt, also Symbole der Rebellion und Unabhängigkeit nutzt, um den Markt zu erobern. Dieser starke Widerspruch regiert die Welt.

Aber vielleicht lässt sich das wieder umkehren. In seinem berühmten Buch Travels in Hyperreality von 1995 beschreibt der Soziologe Umberto Eco ein Hologramm, das, wenn man es von vorne betrachtet, zwei nackte Frauen zeigt, die sich küssen und befummeln. Wenn man es jedoch aus einer anderen Perspektive betrachtet, zum Beispiel von hinten oder oben, dann verschwindet dieses Bild. Es ist diese Aufweichung der Unterscheidung zwischen dem, was echt und was Darstellung ist, die dich davon abhält, zu verstehen, ob das, was du siehst, echt ist oder nicht. Das macht das Bild hyperreal. Mit anderen Worten: Die Elemente einer Kultur mögen vollkommen authentisch aussehen—sie mögen dem „real thing“ gleichen—aber aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, verschwindet ihre Essenz.

Der Außenseiter-Pop von Lorde verbindet diese Ideen so subtil, dass du vergisst, dass es Kunst ist. „Royals“ ist ein den Verstand herausfordernder Popsong, da er, obwohl er nett für Massenkonsum verpackt wurde, Luxus kritisiert („Kind of Lux“ heißt es im Text), der für die meisten Pophörer nicht greifbar ist. Aber erst bei „Buzzcut Season“, einem Track von Pure Heroine, beleuchtet die Sängerin wirklich ihr kosmisches Unbehagen. Während laut Songtext im Fernsehen Bomben fallen, sitzen sie und ihre Freundinnen unbekümmert am Pool, wo alles gut ist („where everything is good“). Dann setzt ihr schlechtes Gewissen ein: „Play along“, sagt sie sich selbst, „make believe it’s hyperreal“. Ihr Punkt ist, dass die Annehmlichkeiten der ersten Welt eine Art Illusion sind. „Nothing’s wrong when nothing’s true“, singt sie unschuldig im Refrain, „I wanna live in a hologram with you“. Für Lorde kommt das, was hinter dem Hologram ist, später. Aber jetzt gerade hilft sie uns, uns aus der Matrix der täuschenden Zeichen und Symbole zu lösen, mit dem ersten kleinen Schritt: Zuzugeben und zu realisieren, dass wir uns überhaupt darin befinden.

Jazz macht sich bei Twitter tiefgründige Gedanken. Ihr könnt ihm hier folgen: @jazz_monroe

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