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Ich war am ICF-Musical und wollte sterben

Wenn Mundart sprechende Flüchtlinge tanzen und der Prediger findet, dass die derzeitige Situation kein Grund zur Sorge biete, wünscht man sich die baldige Apokalypse.
Foto: ICF

Den Höhepunkt—sowohl in dramaturgischer als auch spiritueller Hinsicht—erklimmt das Stück nach gut einer Stunde: Ester, die namensgebende und an sich gottesfürchtige Hauptfigur, hadert mit ihrem Schicksal. Soll sie ihren Flüchtlingsfreunden und -cousinen helfen, die vor der Abschiebung in die Sklaverei stehen oder sich doch lieber einfach mit ihrem stinkreichen Prinz Jamal ein schönes Leben machen?

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„Du musst die Situation umarmen“, sagt ihr nicht Gott, sondern Leo Bigger, was bei ICF, der in Zürich gegründeten Freikirche mit Pop-Appeal, vermutlich in etwa dasselbe ist. Wie ein Engel aus dem Himmel steigt der Pastor und ehemalige Kirchenleiter auf die Bühne und spricht nicht nur Ester, sondern auch den um die Tausend Zuschauer Mut zu, Vertrauen in Gott zu haben. Ester ist ergriffen, das Publikum ist ergriffen, Bigger selbst ist ergriffen. Mich schaudert es.

Popkultur plus Freikirche plus Flüchtlingsthematik und das live und konzentriert an einem einzigen Sonntagabend—ich erfuhr davon und wusste eine Sekunde später, dass ich dorthin gehen muss. Und noch eine Sekunde später wusste ich, dass ich es bereuen würde. Doch nach 1. August-Feier und Rock-Festival und Pornoentzugskurs und TV-Show-Screening konnte ich mir das nächste grosse get-together dieser wundersamen Gegenkultur im Namen des Allmächtigen nicht entgehen lassen.

Bereit für eine mit Dauergrinsen servierte Portion Gottvertrauen und Pathos steige ich am Bahnhof Hardbrücke aus. Kaum auf der Strasse, wedeln zwei Jugendliche mit Werbefahnen durch die Nacht. Im Abstand von 20 Meter stehen die menschlichen Wegweiser danach der Geroldstrasse entlang bis zur Yonex Badminton-Halle, dem Austragungsort.

Wahrscheinlich sollen sie einen willkommen heissen, in mir aber wecken die beflaggten Wachen Paranoia. Wissen die, dass ich nicht an Gott glaube? Oder noch schlimmer: dass ich Journalist bin? Oder noch schlimmer: dass ich Katholik bin? Ich versuche mich anzupassen und verziehe mein Gesicht zu einem Lächeln.

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Foto vom Autor

Vor der Halle spielt eine Band Pop-Folk, Bratwürste werden gegrillt und Leute stehen Schlange vor eigens hingekarrten Dixie-Klos. 2/3 der Halle sind schon besetzt und zwar brav und lückenlos die vordersten Reihen. Gründe dafür mag es viele geben, vermutlich aber sind es die dicken Arche Noah-Seile, die über den hinteren Plätzen liegen und von den unzähligen ICF-Helfern in ihren roten Shirts erst weggenommen werden, wenn es sonst keinen Platz mehr hat.

Erst als ich mich gesetzt und meinen Notizblock schon ausgepackt habe, bemerke ich, dass ich in der „International section“ sitze, wie es eine Platzanweiserin nennt. Was das bedeutet: Untertitel auf einem Bildschirm in Englisch und Spanisch (leider nicht in Emojis)—aber nicht nur das. Weil die Halle nicht, wie in einem Theater, abfallend oder gestuft ist und es keinen Balkon gibt, übertragen sie die ganze Show live und mit mehreren Kameras auf eben diese Leinwand. Mühen scheuen sie keine, das muss man ihnen lassen, ich will gar nicht wissen, wie viel sie sich das Gratis-Spektakel kosten lassen.

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Nur im Griff haben sie es leider nicht ganz. Schon als die Flüchtlinge zu einem Seitentor in die Wellblechhalle gestolpert kommen, gibt es die erste Rückkoppelung (es werden noch einige folgen) und filmt das Kamerateam das Publikum anstelle der Schauspieler. Aber ich will die Produktion nicht daran aufhängen und auch nicht an den meist holprig übersetzten, schlecht getimten Untertiteln gespickt mit Schreibfehlern.

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Auch die ideenlose Märchen-Mash-up-Geschichte aus Aschenbrödel, Aladin und Stolz & Vorurteil (armes Flüchtlingsmädchen heiratet gut situierten Prinzen und alles kommt gut), die stereotypen Figuren (der böse Berater, die liebevolle Mutter, die neunmalkluge Kollegin, die unbefleckte, tapfere, aber hadernde Heldin), die ungelenken Kinderbuch-Dialoge („Wär besch du?“—„Ig bi d'Ester.“—„Hoi Ester!“) kann ich irgendwie noch verkraften. Das Ganze erinnert mich an einen drittklassigen Fernsehfilm: Die Langweile, vielleicht auch die Zermürbung steigt von Minute zu Minute, aber wirklich aufregen kann man sich nicht darüber.

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Dagegen macht mich die platte Art, auf welche die Flüchtlingsthematik instrumentalisiert wird, um diese diffuse Zuversicht, dieses Gefühl von Behütetsein, von „Alles kommt gut“ immer wütender. Jetzt mal ehrlich: Wer zur Hölle kann—gerade in der derzeitigen Situation—denken, dass es eine gute Idee ist, Flüchtlinge hinter dem symbolischen Metallzaun wie in einem Disney-Film fröhlich singen und tanzen zu lassen? Und dann auch noch zu Lorde's „Royals“ (erste Begegnung mit dem Prinz) Ed Sheerans „All of the Stars“ (Date-Szene) und Seeds „Augenbling“ (Hochzeitstanz)?

Mit dem Leid der Flüchtlinge, ihren Erlebnissen, Beweggründen und den Konflikten und Schwierigkeiten, die mit dieser Thematik zusammenhängen—die Worte Allah oder Islam fallen kein einziges Mal—, auseinandersetzen tut sich dieses Musical nicht. Denn sie sind nur Mittel zum Zweck, ein Aufhänger, um Leo Biggers Predigt über Gottvertrauen eine Bühne zu bieten, was man daran erkennt, dass er in seinem eingangs erwähnten Auftritt eigentlich gar nicht auf die Thematik zu sprechen kommt. Stattdessen lobpreist das Kirchenoberhaupt das Leistungsdenken und verkündet: „Keiner ist ein Opfer der Umstände!“

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ICF-Leader Leo Bigger—Foto via Flickr | ND Strupler | CC BY 2.0

Als Bigger zum Gebet aufruft und dass doch alle die Augen schliessen sollen, schaue ich mich um. Praktisch alle haben sie die Augen geschlossen, versuchen, mit Gott zu sprechen oder ihn zu hören oder was auch immer. Ich hingegen denke an das 7-jährige Mädchen, dessen Zuhause gerade zerbombt wurde. Ich denke an den jungen Mann, der seine Familie zurücklässt und sich auf einem rostigen Boot den Wellen aussetzt. Ich denke an die Frau, deren Mann sie zuhause schlägt. Ich denke an den Alten, der Aludosen sammelt, weil die Rente nicht reicht. Sind das nicht Opfer der Umstände? Sind die alle selber schuld?

Danach geht die Story weiter, so wie sie weiter gehen muss und dank Esters beherzten Rede in die Fernsehkamera beziehungsweise ihrem Aussehen—„Gott hat dich nicht umsonst so schön gemacht“, sagt ihre Cousine an einer Stelle, womit man eigentlich auch Prostitution legitimieren könnte—erwärmt sich die marrokanische Herrscherfamilie in ihren glänzenden Gewändern. Die Flüchtlinge werden im Königspalast aufgenommen anstatt wie geplant an Menschenhändler zu verschachern, welche im Marokko-Bild des ICF scheinbar zum Alltag gehören.

Foto vom Autor

Als die Nerd-Darstellerin danach noch einmal in einem Kamel-Kostüm auf die Bühne kommt, alle wild durcheinander tanzen und singen und sich der Aussenminister mit dem Wüstentier ein Dance Battle liefert, stehe ich auf und gehe. Ich kaufe mir draussen einen Kaffee und als ich weder Zucker noch Milch dazu will und mir stattdessen eine Zigarette anzünde, schaut mich die Veräuferin an, als hätte sie mich gerade enttarnt.

Ich schaue zu, wie die Leute rauskommen. Sie scheinen sich alle zu kennen. Sie scheinen alle glücklich. Sie scheinen sich keine Gedanken zu machen, ob das, was sie gerade gesehen haben, gut oder schlecht war. Ob sie ihr Leben einem Gott anvertrauen sollen, der gerade hunderttausende Menschen ihrem Hab und Gut beraubt hat und auf eine Reise ins Ungewisse, zum Teil in den Tod schickt. Sie scheinen unbeschwert. Mich schaudert's.

Daniel Kissling betet einzig zu den Gods of Rock'n'Roll und zwar auf Twitter.

Noisey Alps tanzt zu Lorde und manchmal auch zu Seed auf Facebook und Twitter.