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Interviews

Muss Kunst zwingend politisch sein, Tommy Vercetti?

Göläs Wutrede im Blick hat nicht nur polarisiert, sondern auch die Frage aufgeworfen, wie politisch Künstler sein sollen.
Foto: Pressebild

In unserer Reihe "Zmittag uf Skype" diskutieren Rapper Tommy Vercetti und unser Redaktor Uğur Gültekin einmal monatlich via Skype über Themen, zu denen aktuell in der Schweizer Gesellschaft diskutiert wird. Die beiden haben es sich dabei zum Ziel gesetzt, nicht nur die Debatte und das gewählte Thema an sich, sondern auch sich selbst kritisch zu reflektieren. Tommy Vercetti bezeichnet sich selbstironisch als "schöngeistigen Marxisten". Er stellt sich dieses Jahr zur Wahl als Stadtrat der Stadt Bern, wo er auf der Liste der PdA (Partei der Arbeit) klar linke Positionen einnimmt.

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Göläs Aussagen in seiner "Wutrede" im Blick haben polarisiert. An den Stammtischen der Schweiz und in Kommentarzeilen der grossen Online-Portale fühlten sich begeisterte Wutbürger durch den selbsternannten Büezer repräsentiert und lobten den Soft-Rocker dafür, dass endlich jemand den Mut aufbrachte, die Wahrheit zu sagen. Der Tages Anzeiger forderte in einem Kommentar die Linke auf, von Gölä zu lernen, während wir uns dazu entschieden haben, Göläs Aussagen in einer kritischen Edition unter die Lupe zu nehmen. Sein Interview hat aber auch die interessante Diskussion aufflammen lassen, wie politisch Künstler sein sollen, dürfen oder gar müssen.  Ein Schweizer Künstler, der klar politisch positioniert ist und in seinen Texten das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zeitgeschehen reflektiert und sich regelmässig dazu äussert, ist der Berner Rapper Tommy Vercetti. Ich habe mich mit ihm über die Beziehung zwischen Kunst und Politik unterhalten. Wir haben dabei festgestellt, dass eine mögliche Instrumentalisierung der Kunst nicht mehr allein von Parteien oder von Institutionen ausgeht, sondern längst neue Player versuchen, Kunst als Teil ihrer Politik zu nutzen.

Noisey: Gölä hat vergangene Woche mit, sagen wir mal, unreflektierten Aussagen ziemlich polarisiert. Wie ordnest du seine Aussagen und sein Verhalten ein?
Tommy Vercetti: Die Aussagen waren—und sind, denn es sind ja unter anderem auch Liedtexte—sehr unreflektiert. Ich bin klar dafür, dass sich jeder politisch äussern darf, aber was Gölä vom Stapel liess, grenzte an Hetze und spiegelte zudem sehr schön das orientierungslose Ressentiment des kleinen Mannes. Wenn man sich die heutige Gesellschaftsordnung ansieht—Grosskonzerne, Banken, die Finanzmärkte—und dann denkt, "die Studierten"  seien der Urquell der Ungerechtigkeit, dann hat man einfach einen am Sender. Und ja, dieser Intellektuellenhass und die Sehnsucht nach einem rechten Revolutionär stossen halt schon sehr sauer auf—und Gölä ist ja nicht eine unterprivilegierte Randfigur, sondern einer der erfolgreichsten Musiker dieses Landes. Abgesehen davon sollte sich der Blick wirklich langsam Gedanken darüber machen, wem er eine Plattform gibt. Ich verstehe ja, dass auch Journalismus ein hartes Geschäft ist, aber alles hat eine Schmerzgrenze.

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Du bist zweifelsohne ein politischer Künstler. Du äusserst dich in deinen Texten immer wieder zur weltpolitischen Lage, zu den Realitäten der Welt und bist sehr kapitalismuskritisch. Ist für dich persönlich Kunst ohne Politik überhaupt denkbar?
Diese Frage lässt sich auf zwei Arten beantworten: Es lässt sich natürlich argumentieren, dass alles politisch ist, sprich: Auch der belangloseste Song von Britney Spears ist politisch, insofern er politische Wirkungen hat—zum Beispiel Konsumhaltung fördert oder ein bestimmtes Geschlechterbild vermittelt. Andererseits kann man die Frage normativ verstehen, also: Finde ich, dass Kunst politisch reflektiert sein sollte, damit sie relevant ist? Nicht unbedingt. Es gibt massenhaft Kunstwerke—sei es Musik, Film, bildende Kunst, Literatur—, die ich grossartig und relevant finde, ohne dass sie explizit politisch sind. Andererseits könnte man argumentieren, im Ästhetischen geht das Politische gewissermassen auf, dass also zum Beispiel in einer Improvisation von Miles Davis das Politische schon enthalten ist, insofern als diese einem Arbeitsethos verpflichtet ist, einer Kunstvorstellung verpflichtet ist oder sich in einem künstlerischen Freiraum abspielt. Aber langer Rede kurzer Sinn: Ist Kunst immer politisch? Ja. Ist sie nur relevant, wenn sie explizit politisch ist? Nein, sicher nicht.

Besteht als politischer Künstler nicht immer die Gefahr, dass man von der Politik instrumentalisiert wird—oder dass man zumindest an Schlagkraft verliert, weil es erwartbar ist, wie man sich zu gewissen Themen äussern und positionieren wird. Ich meine: Muss man als Künstler nicht auch ein wenig darauf achten, sich nicht allzu explizit zu äussern?
Auch das ist eine komplexe Frage, und ich gebe dir teils recht. Einerseits finde ich ganz klar, der Künstler sollte seine Autonomie bewahren, denn damit bewahrt er auch seine Glaubwürdigkeit. Auch wenn er sich explizit äussert, muss er eine Art "dritte Stimme" neben den politischen Parteien und den anderen Akteuren bleiben—eine Stimme, die gewissermassen keinen Interessen verpflichtet ist und die ihre Glaubwürdigkeit daraus schöpft. Ich darf mich positiv zu einem Juso-Vorstoss äussern, ich fände es aber irgendwo heikel, als Künstler Teil der Juso zu sein. Andererseits ist natürlich die Autonomie des Künstlers auch ein Mythos und zudem ein vergleichsweise junger. Die Geschichte der bildenden Kunst beispielsweise ist eigentlich eher eine Geschichte des Propagandaplakats—nichts anderes sind die unzähligen Porträts von Herrschenden und Aristokraten, die religiösen Gemälde und ähnliches. Und auch heute ist es natürlich eine Illusion, dass ich als Künstler keinen Interessen unterworfen bin—trotzdem finde ich, zumindest als Künstler in der heutigen Welt, sollte man sich um autonome Reflektion bemühen. Und vielleicht drittens: Die politische "Instrumentalisierung" wird natürlich auch überschätzt. Wenn ein Künstler sich beispielsweise für eine Partei einsetzt, schreit man sofort auf. Wenn er aber Werbung für Nike macht, ist das völlig ok—obwohl dies wahrscheinlich die stärkere politische Instrumentalisierung ist.

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Dein Beispiel mit der Geschichte der bildenden Kunst finde ich sehr interessant. Es gibt ja auch Stimmen, die die These vertreten, dass die Kriege der Welt wichtige Triebkräfte in der Entwicklung der Menschheit waren—indem sie auf verschiedenen Gebieten für Innovationssprünge gesorgt haben. Diese Innovationen dienten zunächst nur dem militärischen Vorteil gegenüber dem Gegner, wurden später dann aber auch auf andere Lebensbereiche ausgeweitet und erreichten in manchen Fällen dann auch grosse Teile der Bevölkerung, die davon profitiert haben. Hat es also vielleicht auch die "Geschichte des Propagandaplakats" gebraucht, und war sie eine Stufe auf dem Weg zur Kunst, die autonom reflektiert?
Ja, das ist eine sehr bekannte und spitzfindige Argumentation. Klar kann man ihr irgendwo zustimmen, man darf aber den Zynismus und die Privilegierten-Position dahinter nicht verkennen. Natürlich kann man argumentieren, ohne den Kalten Krieg hätten wir das Internet nicht. Hier stellen sich aber spontan schon mindestens drei Fragen: 1. Der Kalte Krieg war ja überhaupt nicht kalt—und ich persönlich würde es vorziehen, die Millionen Menschen wären nicht gestorben und dafür hätten wir kein Internet. 2. Müsste man fragen: Wer ist denn "wir" im Satz "hätten wir das Internet nicht"? Denn viele Menschen haben das Internet nicht oder profitieren zumindest nicht davon. 3. Und damit zusammenhängend: Technik, Innovation und Fortschritt sind nicht per se gut, das ist eine sehr westliche Sicht.  Und das gilt natürlich auch für die Kunst: Der Soziologe Pierre Bourdieu hat den historischen Prozess der Autonomisierung der Kunst sehr schön beschrieben, der natürlich mit der Entwicklung des Kapitalismus und damit des Bürgertums untrennbar verbunden ist. Und so könnte man sagen: Natürlich waren diese Entwicklungen nötig, um zu einer autonomen Kunst zu kommen, aber wäre eine autonome Kunst überhaupt nötig, wenn wir all das Elend, die Ausbeutung und Unterdrückung nicht (gehabt) hätten?

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Ich glaube, dass die politische Instrumentalisierung durch Parteien oder Staaten nicht mehr so eine grosse Rolle spielen wie die durch Konzerne. Nicht nur Rapstars wie Kanye West oder Jay-Z sind von Kopf bis Fuss gesponsert und/oder Aushängeschilder von multinationalen Konzernen. In allen Bereichen der Kunst existiert eine neue Art von "Mäzentum", in der Grosskonzerne das Leben und die Arbeit von Künstlern finanzieren. Warum tun sie das? Wie schaffen es Nike oder ähnliche Firmen, dass diese Instrumentalisierung eben nicht als solche wahrgenommen wird, und wie schaffen es die Künstler ihrerseits, nicht (nur) als Werbeträger wahrgenommen zu werden?
Da bin ich völlig mit dir einig! In dieser Hinsicht ist es der neoliberalen Ideologie gelungen, ein völlig einseitiges Bild von Herrschaft zu etablieren, in dem nur der Staat und die Politik die Bösen sind. Konzerne—oder eben Brands, was wahrscheinlich der springende Punkt ist—werden gar nicht als politische Akteure wahrgenommen, obwohl sie heute mehr Macht haben als jeder Politiker und viele Staaten. Naomi Klein beschreibt in "No Logo" sehr schön, wie sich die Konzerne eben als Marken, als coole Lifestyle-Komponenten installiert haben. Wir denken bei Nike an tolle Schuhe, nicht an Männer in Anzügen, die von Kinderarbeit reich werden und das Weltgeschehen (zu ihren Gunsten) bestimmen. Künstler und auch Veranstalter nehmen Sponsoring als vorteilhafte Win-Win-Situation wahr, und sie denken: Ah, ich finde ja die Marke eh cool, und sie zahlen mir das und das—dieses Verhalten ist umso legitimer, da der Musikmarkt gerade eh völlig im Arsch ist.

Gibt es deiner Ansicht nach diesbezüglich nur die Strategie der Verweigerung, oder kann man doch mal einen Pakt mit dem Teufel schliessen, wenn es der Sache dienen könnten?
Ach, die totale Verweigerung ist sowieso nicht möglich, wenn man ein einigermassen ertragbares Leben führen möchte. Aber man sollte wenigstens gründlich darüber nachdenken und für sich entscheiden, wo man die Grenzen zieht.

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Ugur verweigert sich ab und zu auf Twitter.

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