Es ist kurz vor 20 Uhr am letzten Tag des Jahres 2014. Eine Mischung aus Schweiß, Bier- und Bratenfettgeruch weht durch die Messehalle in Graz. 3.000 Menschen klatschen unkoordiniert in die Hände, prosten sich mit randvollen Krügen zu und schunkeln auf Bierbänken hin und her, aus den Lautsprechern prügelt "Atemlos durch die Nacht" auf sie ein. Sie genießen das, schließlich sind sie gekommen, um es zum Jahresende noch mal richtig krachen zu lassen. Ohne Böller und Raketen, dafür mit ihren Stars im Musikantenstadl. Und ich bin mittendrin.
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Da habt ihr es: ein Noisey-Redakteur, der sich mit Schlager zudröhnt. Das gibt es doch gar nicht. Tja, gibt es eben doch. Denn ich habe vier Jahre lang für den Musikantenstadl gearbeitet. Das habe ich erlebt:Ich war seit einem Jahr in Wien, als eine Bekannte fragte, ob ich nicht Lust hätte, fürs Fernsehen zu arbeiten – und zwar als Inspizient. "Als was?", fragte ich. Sie erklärte es mir: Inspizienten müssen vor einer Sendungen auf die Stars aufpassen, sie zu ihrem Auftritt ins Studio führen und ab und an ein paar Dinge auf die Bühne tragen. Das war's. Und gut bezahlt sei der Job auch noch.Ich war Feuer und Flamme – damit kann man Geld verdienen? Die Bekannte gab meine Telefonnummer an ihren Chef weiter, zwei Wochen später saß ich beim Bewerbungsgespräch und bekam den Job.
Mit beiden Beinen voran in die glitzernde Fernsehwelt
Im Nachhinein muss ich dazu sagen: Damals hielten die Leute noch was vom Fernsehen. Als Kamerafrau, TV-Redakteur oder eben als Inspizient konntest du mit deinem Job beim Maturatreffen oder morgens in der Schlange beim Bäcker angeben. Kleine Kinder bekamen ehrfurchtsvoll leuchtende Augen, wenn sie erfuhren, dass sie der nächste Schulausflug auf den sagenumwobenen Küniglberg, das Kommandozentrum des ORF, führen sollte. Selbst meine Oma wälzte sich vor Stolz fast auf dem Boden, als ich ihr zu Weihnachten von meinem neuen Job erzählte.Den legendären Musikantenstadl kannte ich natürlich schon. Mit fünf durfte ich abends länger aufbleiben, um die Schunkelsendung mit meinem Opa zu schauen. Von der ersten Sekunde an zog mich diese beschwipste Scheinwelt in ihren Bann, zumal sie es schaffte, die Bedürfnisse eines volksmusikbegeisterten 70-Jährigen und die eines fünfjährigen Volksschülers auf wundersame Weise zu vereinen. Der Stadl, wie er von allen genannt wurde, war die perfekte Samstagabend-Show. Kein endloses Gelaber wie bei Wetten, dass ..?, sondern ausgelassene Zeltfest-Stimmung, in der Sorgen keinen Platz hatten und man den Alltag wegtröten konnte.
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Ein schrecklich netter Stadl
Unser Inspizienten-Team bestand aus sechs Personen: zwei für den Instrumentenaufbau auf der Bühne, zwei für die Betreuung der Künstlerinnen und Künstler, und zwei Springer, die immer aushelfen sollten, wo man sie gerade brauchte.Ich war einer der Springer, der zweite zählte aber nicht. Während der Proben saß der Kollege meist sternhagelvoll auf einer Bierbank. Wenn er doch mal aufstand, schwankte er so sehr, dass er es nicht mehr schaffte, ein Keyboard – geschweige denn ein Schlagzeug – aufzustellen. Wieso man den armen Schluckspecht trotzdem jedes Mal mitnahm, weiß ich nicht. Wir haben das nie infrage gestellt. Schließlich bot er uns immer seinen verdünnten Multivitaminsaft an und war auch sonst ein lieber Mensch.Fortan sausten ich und die anderen Inspizienten wie aufgezogene Spielzeugroboter vor, auf und hinter den Bühnenflächen herum, schraubten Schlagzeuge zusammen, hievten Keyboards aus Instrumentenkoffern und verklebten während der Proben unzählige kleine bunte Sticker auf dem Bühnenboden.Diese Markierungen halfen uns, die unzähligen Mikros, Gitarrenständer und Schlagzeuge auseinanderzuhalten und zur richtigen Zeit an den vorgesehenen Ort zu stellen. Das funktionierte bei den Proben ganz gut, bei der Sendung war das allerdings ein aussichtsloses Unterfangen, denn spätestens nach einer Stunde beschoss man die Bühne mit tonnenweise buntem Konfetti. Wir fanden die Markierungen dann meist nicht mehr und wuchteten die Instrumente einfach nach Gefühl auf die Bühne. Was zum Glück niemandem auffiel.
Einsatz unter Konfetti-Beschuss
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Sie machen durch bis morgen früh und singen Bumsfallera
Der Musikantenstadl wird zum All-You-Can-Eat-Buffet
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Nach Ende der Generalproben kam es immer wieder zu bizarren Szenen. Manch unermüdliche Schlagerfans verließen die Halle nicht sofort, sondern blieben nach dem letzten Bummsfallera sitzen, um in einem günstigen Moment über die Dekoration der verwaisten Bühne herzufallen. Man erkannte diese Menschen schon von Weitem. Meist waren es ältere Frauen mit krausen Dauerwellen und ausgewaschenen Faltenröcken, die zum Bühnenrand trampelten, in die Kisten mit dem Blumenschmuck grapschten, das bunte Alpenkraut herausrissen und davondackelten, als wäre nichts.Es war beeindruckend. Sie bedienten sich an unserer Bühnendekoration wie an einem schäbigen All-You-Can-Eat-Buffet und hinterließen ein blumenloses Schlachtfeld. Die Bühnenausstatterin war oft den Tränen nahe.
Facelifting für ein jüngeres Publikum
2015 sollten die Verantwortlichen versuchen, den Mief vergangener Tage zu entlüften. Der alte Musikantenstadl war tot, lang sollte die neue Stadlshow leben, die erste Sendung im neuen Format ging im deutschen Offenburg über die Bühne. Man unterzog den Stadl einem schmerzhaften Facelifting, indem man die alte Bühne mit den vermoderten Holzschindeln verramschte und eine neue, riesengroße Bühne auskotzte, die in ihrer schlichten Aufmachung eher an die Landhaus-Abteilung einer IKEA-Filiale erinnerte als an das Ambiente einer volkstümelnden Schlagersendung.
Außerdem wagten sich die die Macherinnen und Macher der Sendung an eine unvernünftige Herztransplantation: Sie rissen den Moderator Andy Borg, der für den Stadl lebte und unnachahmliche Entertainer-Fähigkeiten besaß, aus der Sendung. Er sei mit 54 zu alt, um ein jüngeres Publikum anzusprechen. Dafür schüttelten sie ein neues Moderatoren-Duo aus dem ausgeleierten Trachtenärmel: Francine Jordi, eine Schweizer Schlagersängerin, und Alexander Mazza, den manche vielleicht noch als Sam-Moderator auf ProSieben kennen, sollten in Zukunft durch die Schlagersendung führen.
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Das Massaker von Offenburg
Jürgen Drews völlig losgelöst
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Vielleicht sah ich einfach nicht das, was er sah. Ich muss in dem Moment einen ziemlich überforderten Eindruck gemacht haben. Immerhin stand Jürgen gerade staunend hinter der Bühne und machte einen auf E.T mit seinem Zauberfinger.Jürgen musste sich weggeschossen haben, dachte ich – mit was auch immer. Wie sonst sollte ich mir erklären, dass er kurz vor seinem Auftritt breit wie Albert Hofmann nach seiner ersten LSD-Verkostung wirkte?Es wurde langsam knapp. Wir stiegen die Treppe zu seiner Auftrittsposition hoch. Noch waren wir hinter der Bühne, niemand konnte uns sehen. Wir hätten umdrehen und davonlaufen können. Aber er grinste mich nur breit an. "Das wird super." Ich sagte nichts. Ich war mir sicher, dass das gar nicht "super" werden sollte. Das Playback-Intro ballerte aus den Lautsprechern, ich bekam das Zeichen für seinen Auftritt, riss die Tür auf und er sprang mit seinem Banjo wie ausgewechselt hinaus ins Scheinwerferlicht.Bis heute weiß ich nicht, was sich in diesem Moment genau abspielte. Der Mann, der wenige Sekunden zuvor noch weggetreten vor einer Plastikwand stand, gab auf einmal wie selbstverständlich den Entertainer und bewegte seine Lippen textsicher zu seinem neuen Ballermann-Hit:"Heut' schlafen wir in meinem Cabrio
verrückt sind wir doch beide sowieso
Komm wir fahren einfach weg
nur die Sterne als Verdeck"Zugegeben, diese lyrischen Großtaten hätte ich mit drei, vier Bieren intus vielleicht auch noch passabel mitgrölen können. Aber Jürgen war something else. Ich bin noch immer beeindruckt, mit welcher Präzision er dieses schmale Mindstate-Fenster zwischen absolutem Abfuck und brillanter Performance getroffen hat.
verrückt sind wir doch beide sowieso
Komm wir fahren einfach weg
nur die Sterne als Verdeck"Zugegeben, diese lyrischen Großtaten hätte ich mit drei, vier Bieren intus vielleicht auch noch passabel mitgrölen können. Aber Jürgen war something else. Ich bin noch immer beeindruckt, mit welcher Präzision er dieses schmale Mindstate-Fenster zwischen absolutem Abfuck und brillanter Performance getroffen hat.
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VICE-Video: Music for Dogs
Die Stadlshow fällt durch den doppelten Heuboden
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Die Stimmung war trotzdem nicht gut. Nach dem Premieren-Massaker in Offenburg fielen die Quoten auch für Show zu Silvester nicht viel besser aus. Ein Schuldiger für den Untergang des Volksmusiktankers war bald gefunden: Alexander Mazza, der moderierte, als präsentiere er seinen Freunden die Landschafts-Fotos aus dem letzten Nordseeküsten-Urlaub, musste den Stadl verlassen. Francine Jordi, die als hauptberufliche Schlagersängerin auch im neuen Stadl gut aufgehoben war, durfte bleiben. An ihre Seite stellte das Produktionsteam Jörg Pilawa, der von Quizsendungen über Herzblatt bis Frag doch mal die Maus schon so ziemlich alles moderiert hat, was in Deutschland über Bildschirme flimmert.Allerdings gab es die Stadlshow von nun an nur noch zu Silvester. Die Verantwortlichen hofften wohl, so würde das volksmusikalische Desaster keiner Menschenseele auffallen, weil das Fernsehpublikum beduselt in Heizsocken auf dem Sofa säße. Da müssten die Quoten doch stimmen. Taten sie nicht.Dabei gaben sich die Menschen hinter der Sendung wirklich Mühe. Nicht nur große Namen wie DJ Ötzi und Nik P. sollten dem Publikum einen "beschwingten, abwechslungsreichen und launigen TV-Abend mit unbeschwerter Unterhaltung" bieten, wie es in der Ankündigung der Silvestershow hieß. Auch die kleinen Namen der Schlagerszene sollten mitmischen – und sich dabei mit seltsamem Benehmen in meine Erinnerungen brennen.
Sag noch einmal "Ti Amo"
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Bands mit kreativen Namen wie Holdrioo oder Oesch's die Dritten beeindruckten mich mit der Liebe, die sie ihren Instrumenten entgegenbrachten. Sie puderten und putzten, streichelten und liebkosten sie. Zärtlich versenkten sie ihr Instrument nach dem Playback-Auftritt im Koffer.Ich war von ihrer fürsorglichen Hingabe sehr angetan und gab den Musikerinnen und Musikern auch gerne lobende Worte mit. Das zog eine ausführliche Erklärung ihres Instruments nach sich, auf die ich gerne verzichtet hätte. Die Gespräche liefen in etwa so:"Das ist eine Hohner Bravo III.""Ja, toll, ich muss aber …""Die hat 37 Diskanttasten.""Super, vielleicht haben wir spä …""Und 96 Bässe."An dieser Stelle kramte ich mein Handy aus der Hosentasche, gaukelte einen Anruf vor und flüchtete hinter die nächste Kulisse.
Besondere Freude bereiteten mir die Mikrofone. Einige Sängerinnen und Sänger nahmen die Playback-Einlagen etwas zu ernst und pressten ihre Münder ganz dicht ans Mikro, sodass es aussah, als würden sie es verschlingen wollen.Der Windschutz, der am Mikrofon angebracht war, triefte nach manchen Auftritten nicht nur von rausgesülzten Spuckefäden, sondern war auch ganz verklebt mit Essensresten. Das hinterlassene Essens-Mosaik lagerte sich fest im Schaumstoff des Windschutzes ab. Ich hätte die Mikros am liebsten mitsamt dem unverdauten Abendessen der Künstler verbrannt und die kümmerlichen Reste hinter der Halle verscharrt.
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Mit einer Arschbombe straight in den Fettnapf
Und Erwin faßt der Heidi von hinten an die Schulter.
Das hebt die Stimmung, ja, da kommt Freude auf.
Los, Oma, hak' ein."Ein Brüller. Das Publikum rastete aus, warf einander die Hände auf die Schultern und schlängelte sich in langen Bahnen durch die Messehalle. Dann zählten alle runter. Zehn, neun, acht … Prosit! Überall flirrten Konfettistreifen durch die Luft.
Die Stimmung war auf dem Höhepunkt, es herrschte heilloses Durcheinander. Alle Künstlerinnen und Künstler verteilten sich auf der Bühne oder im Publikum, wo bärtige Lederhosenträger mit herausgeputzten Dirndlträgerinnen auf Bierbänken herumwackelten. Alle bekamen von uns ein Glas Sekt in die Hand gedrückt, um auf das neue Jahr anzustoßen. Dabei fühlte ich zum ersten Mal, dass das wirklich alle ernst meinten. Die bröckelige Mauer der Illusion und der künstlichen Überspitzung stürzte ein und ich sah die ehrlichen, auch mal gerührten Menschen hinter der ganzen Schlager-Maschinerie.
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Auf einmal bemerkte ich Johnny Logan, wie er verloren auf der Showtreppe stand und ins Leere starrte. Es sollten doch alle gute Laune haben! Ich sprintete mit zwei randvollen Sektflöten zu ihm hin und bot ihm eine davon an.Er schaute mich an, als hätte ich ihm eine ménage à quatre mit den Amigos angeboten. Dabei wollte ich ihn doch nur aufheitern."No, thanks.""Why? You don't drink?", fragte ich leider wirklich.Er blickte mich entgeistert an. "I am sober now."Fuck! Das ging anständig in die Lederhose."OK, good luck with that!" Ich wusste sofort, dass das keine sehr originelle Antwort war.Für mich war die Begegnung mit Johnny Logan der peinliche Abschluss einer Reise, die mich über vier Jahre durch die Mehrzweckhallen von Deutschland und Österreich führte. Es war eine schöne Zeit, in der ich viel gelernt habe. Heute weiß ich, wie man in 25 Sekunden ein Schlagzeug zusammenbastelt, wie man mit besoffenen Blasmusikanten ein respektables Gespräch führt und dass der Silvesterstadl ein legitimer Ort für eine Silvesterparty sein kann – vorausgesetzt, man säuft.Mein volksmusikalisches Basiswissen mutierte in dieser kurzen Zeit zu einem unendlichen Schlager-Kosmos, wo "Mond" und "Sterne" noch zum "Lieben" anstiften und das "Paradies" irgendwo hinter vielen "Bergen" am "Bauernhof" oder im "Garten Eden" zu finden ist. Ich kann zwar auch nach vier Jahren niemanden verstehen, der sich dieser urigen Scheinwelt freiwillig länger als zwei Minuten aussetzt, aber ich habe gelernt, diese Menschen zu respektieren. Mit oder ohne trötender Volksmusik.**Mehr zum Thema:
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