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"Ich hatte einen Nervenzusammenbruch" – Stick To Your Guns bewerten ihre eigenen Alben

Anfangs kann der Frontmann der Hardcore-Helden über ein Album lachen, doch am Ende verfällt er in einen sehr ernsten, schonungslos offenen Monolog.
Foto: imago/STAR-MEDIA

Wenn man sich inmitten um sich schlagender Körper wiederfindet, man mit zehn anderen Typen die Zeilen brüllt, die man schon tausend Mal stumm mitgesungen hat, und sich danach mit neuer Kraft in den Pit wirft, weiß man wieder: Hardcore ist einfach geil. Genau das zeigen Stick To Your Guns bei jedem Konzert aufs Neue. Lautstärke und Energie einmal radikal im Uhrzeigersinn bis auf Anschlag gedreht und den unzähligen Leuten da unten ein verschwitztes Grinsen ins Gesicht geklatscht; das Publikum mit Ansagen aufbauen, es die Hymnen mitsingen lassen und die Leute dem Gefühl nach Hause schicken, immer einen Anker zu haben.

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Klingt wie ein schmierig konstruiertes Klischee, ist bei der Band um Sänger Jesse Barnett nichts anderes als selbsterklärter Antrieb, immer weiter zu machen. Fast die Hälfte seines 30-jährigen Lebens schreit der Kalifornier nun schon seine Seele ins Mic. Gegründet 2003 als ein Versuch von Teenagern, so hart wie die Vorbilder zu klingen, sind dabei mittlerweile sieben Alben, endlose Touren um die Welt und ein allseits respektiertes Standing in der Szene herausgekommen.

Die aktuelle Platte True View hat Jesse mit folgenden Worten beschrieben: "Dieses Album war notwendig." Eine eigenwillige Wortwahl, bei der man sich unweigerlich fragt: notwendig wofür? Als ich ihn im Backstage des Festsaal Kreuzbergs in Berlin treffe, den Stick To Your Guns später in eine Schweißhölle verwandeln werden, soll dies meine letzte Frage an ihn sein. Erst einmal gilt es, alle Alben in eine Rangordnung zu bringen – von schlecht bis gut – und über die Fehler der Vergangenheit herzuziehen.

For What It's Worth (2005)

Jesse: Ehrlich gesagt schäme ich mich ein bisschen dafür. Ich bin jetzt gerade 30 Jahre alt geworden – damals war ich 16. Wir waren Teenager, die keine Ahnung hatten, dass es diese Band noch weitere 12 Jahre geben würde. Genau so klingt auch die Platte. Wir haben gemacht, worauf wir Lust hatten und das war schrecklich (lacht).

Noisey: Zu der Zeit gab es diesen großen Deathcore-Hype.
Jesse: Klar, das ging damals ab. Wir haben Bands wie Hatebreed und Terror geliebt, aber dieses Phänomen kam dann aus dem Nichts, diese übertrieben harte Musik. Also haben wir versucht, das alles zu verbinden. Und am Ende klang es wie Müll (lacht). Anstatt die besten Dinge vom harten Hardcore und Deathcore zu nehmen, haben wir es verkackt.

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Es gibt da diesen Song "Fashion or Fascist". War das damals so ein großes Ding?
Das ist offensichtlich eine totale Übertreibung. Vor allem hier in Europa, wo Faschismus sehr real ist. Damals gab es diesen Fashion-Faschismus in einer sehr kleinen Form. Wenn du nicht die richtigen Schuhe oder das richtige Shirt hattest, deine Haare nicht auf eine bestimmte Art geschnitten waren, wurdest du automatisch nicht ernst genommen. Und genau so waren wir. Ich ging mit einem Shirt von Dave Matthews auf die Bühne. Die Leute sagten von uns, wir wären die Band, die sich wie Clowns kleiden. Das war ohne Scheiß das Erste, womit wir konfrontiert wurden.

Hat sich das geändert?
Keine Ahnung, aber meine Haltung dazu hat sich geändert. Mir ist es scheißegal, was jemand von meiner Kleidung hält und mir ist scheißegal, was andere tragen – solange sie kein verfluchtes Hakenkreuz-Shirt tragen. Dieser Song ist ein perfektes Beispiel dafür, was damals für mich wichtig war: Seid nicht gemein zueinander, weil ihr eure Shirts nicht mögt. Heute ist Donald Trump der Präsident und wir müssen uns mit ernsthaften Sachen beschäftigen … Haha, ich will diesen Song jetzt nochmal hören!

Comes From The Heart (2008)

Wir dachten: Scheiße, wir haben dieses eine Album veröffentlicht, plötzlich kommen Labels und Booking-Agents und jetzt müssen wir das richtig ernst nehmen. Es war also unser lahmarschiger Versuch, eine ernstzunehmende Metalcore-Band zu sein. Wenn ich das jetzt höre, gibt es schon gute Songs. Ich mag die Lyrics am meisten. Die Vocals kacken ab und die Riffs sind seltsam. Wir haben uns zu ernst genommen und das hat einen bitteren Geschmack hinterlassen.

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Von der Produktion und dem Sound war es aber echt ein krasser Schritt nach vorne.
Absolut. Das Debüt haben wir bei irgendeinem Typen aufgenommen, den wir kannten. Für Comes from the Heart waren wir bei Zeuss, der auch mit Hatebreed, The Red Chord und all diesen Bands gearbeitet hatte, die wir damals liebten. Du bist jung, in einer Band und plötzlich wird ein Scheinwerfer auf dich gerichtet. Alle Leute sagen dir, dass du geil bist und dies und das machen solltest. Du bist ein 19-jähriger Highschool-Abbrecher, der nie Geld hatte und natürlich sagst du: Scheiß drauf, lass es uns so machen, wenn wir dadurch größere Shows und ein bisschen Geld machen können. Ich habe damals viele dumme Verträge unterzeichnet und blöde Fehler gemacht. Damals habe ich viel gelernt, weil alles so scheiße war.

Disobedient (2015)

Es war eine ähnliche Zeit wie bei Comes From The Heart. Nachdem wir es da verkackt hatten, haben wir beim Nachfolger The Hope Division wieder einfach gemacht, was wir wollten. Die Leute kamen langsam wieder zurück. Nach Diamond sagten alle: "Scheiße ja, das ist sick!" Wieder kamen Labels und flüsterten uns zu, wie groß wir doch werden könnten, wenn wir dies und das machen würden. Das war Disobedient. Wir haben ein paar unglaubliche Songs geschrieben. "What Choice…" ist einer meiner Lieblingssongs, "Nobody" ist vielleicht unser größter Song, "I Choose Nothing", "Nothing You Can Do To Me" – so viele Songs, die ich liebe. Aber der Prozess war so stressig und es gab so viel Chaos.

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Thematisch war die Platte sehr rebellisch. Woher kam diese Haltung?
Es gab viele politische Dinge, über die ich reden wollte. Mit Ausnahme einiger Songs war das ein klares "Fuck you!" an all die Unruhen auf der ganzen Welt. Wie hätte ich denn ahnen können, was da noch kommt (lacht).

The Hope Division (2010)

Das war die Wiedergeburt von Stick To Your Guns. Zu der Zeit haben Walls Of Jericho immer weniger getourt und mein Bruder ist bei uns als Gitarrist ausgestiegen. Also kam Chris von WoJ zu uns und zeigte mir vier Songs, die er schon geschrieben hatte. Ich hörte mir sie an und wusste: Holy Shit, das ist es, so müssen wir klingen. Melodisch, aber auch sehr heavy. Das war ein essentieller Punkt unserer Bandgeschichte. Wir hatten unseren Sound gefunden und der Welt gezeigt, wer wir sind.

Diamond (2012)

Als wir The Hope Divison veröffentlich hatten, meinte jeder, das sei Müll. Wir sind konstant getourt und haben nach und nach die Leute überzeugt. Dann kam Diamond und alle fanden es kacke, weil es nicht Hope Division war. Ich dachte: "Was wollt ihr Motherfucker überhaupt, ihr habt das Album doch gehasst!?" In den ersten zwei Wochen haben Leute Diamond als zu wütend und hasserfüllt kritisiert. "Zu wütend" – scheiße, was erwartet ihr denn sonst bei dieser Art von Musik? Wenn ich eine Sache an dem Album ändern könnte, würde ich es noch wütender machen.

Hope Division war ein "Ich glaube, das sind wir" und Diamond ein "Hier sind wir, Motherfuckers". Es hat eine Weile gedauert, aber das wurde unser zentrales Album, mit dem sich die Fans am meisten identifizieren.

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Allein schon rein visuell steht das Diamant-Logo einfach für eure Band.
Exakt, das Herz-Logo von Hope Divison haben die Leute schon gemocht, aber der Diamant hat alles übernommen.

Auch clever, auf das Artwork einen Typen zu packen, der das Logo als Backpatch seiner Jeansjacke genäht hat. Jeder Fan wollte doch dann dieser Typ sein.
Ich will nicht wie ein manipulativer Marketing-Penner klingen, aber wir wussten: Wenn wir da einen Backpatch zeigen und den auch verkaufen, dann verkaufen wir davon Trillionen. Ganz genau das ist auch passiert. Als Band ist es schon schwer, akustisch etwas zu schaffen, womit sich Leute identifizieren. Es auch visuell zu schaffen, ist noch viel besser.

Gibt nicht viele Bands, die das geschafft haben.
Klar, du hast die Streifen von Black Flag, die Pfeile von Strike Anywhere, Minor Threats Schaf … Wenige Bands haben das und die sind dank ihres Logos unsterblich. Jetzt laufe ich durch Berlin und sehe zufällig irgendwo Diamond-Sticker. Das ist einfach krank und cool.

True View (2017)

Ich war in einer siebenjährigen Beziehung. Wenn du so lange in einer Beziehung bist, schaltest du auf Autopilot und richtest dein ganzes Leben darauf aus. "Klar werden wir heiraten, Kinder bekommen und vielleicht ein Haus kaufen!" Auf einmal konnten wir nicht mehr miteinander reden, ohne uns zu streiten. Wir sind uns sehr ähnlich, also waren wir leidenschaftlich ineinander verliebt und haben uns dann abgrundtief gehasst. Wir erreichten einen Punkt, wo wir nicht mehr konnten. Wir haben es danach noch einmal versucht … Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, in gewisser Weise ist sie meine Seelenverwandte … (räuspert sich)

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Da hast du also dein Band-Leben, eine Familie und einen Partner, für die du dich alle verantwortlich fühlst, aber kannst dich nicht um alle gleichermaßen kümmern. Meine Freundin war in Montreal, meine Familie in Kalifornien, ich war ständig in Europa. Ich wurde so weit auseinander gezerrt, dass ich sehr verletzbar wurde. Dann kam die Trennung, der Pfeiler wurde also umgetreten. Meine Mutter wurde krank und finanzielle Probleme traten in meiner Familie auf. Plötzlich musste ich die Tour mit meiner anderen Band canceln und nach Hause fliegen, um einen meiner zwei Hunde einschläfern zu lassen. Ich saß danach da, alles stürzte auf mich ein und ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich bin durchgedreht …

Jetzt bin ich mal komplett ehrlich zu dir. Ich bin Straight Edge, war mein ganzes Leben nüchtern. Das war der erste Mal, dass ich alles gemacht hätte, um dieses Gefühl in mir zu verjagen. Im Rückblick bin ich froh, dass ich das nicht gemacht habe. Nicht, dass ich sowas als schwach verurteilen würde, aber ich kenne mich, ich wäre komplett abgestürzt und ein Alki geworden.

Aus diesen Umständen heraus entstand True View. In den letzten zwei Jahren habe ich viel mit meiner Mutter geredet. Ihr ganzes Leben lang musste sie Schicksalsschläge wegstecken und trotzdem ist sie diese ausgeglichene Person, die ihren Kindern Ratschläge gibt. Ich brauchte das. Eine ihrer letzten Voicemails, die sie mir hinterlassen hat, war: "Jessy, ich kann hier sitzen und dir Ratschläge geben, aber ich kann nicht deine Hand halten, um mit dir durch diese Tür zu gehen. Du musst selbst herausfinden, wie das geht." Am Anfang von True View hörst du diese Voice-Mail, ein perfekter Start für dieses Album, eine Art "Ich liebe dich, aber jetzt nimm dein Leben wieder selbst in die Hand".

Egal, was andere von der Platte halten, ich musste sie schreiben. Niemals war ich beim Schreiben in einem so emotionalen und zerbrechlichen Zustand. Deswegen fühle ich mich so damit verbunden.

Ich habe mich schon gefragt, warum die Platte mit den Worten "Dieses Album war notwendig" beschrieben wurde. Jetzt weiß ich es.
Genau. Ich bin dankbar, dass ich Stick To Your Guns habe, um meine Gefühle so auszudrücken. Noch nie zuvor haben mir so viele Leute geschrieben, dass ich ihnen aus der Seele spreche. Um den Bogen zu For What It's Worth zu schlagen: Darum ging es bei dieser Musik immer. Es ist Therapie. Klingt dumm und cheesy, aber das war es schon immer für mich. Es gibt Leute in meinem Alter, die mich verwundert fragen, ob ich echt immer noch mit dieser kleinen Band unterwegs bin. Sie denken, das wäre doch nur eine kindliche Phase. Scheiß drauf, ich liebe das!

True View ist über Cargo Records erschienen. Ihr könnt die LP hier bestellen.

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