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You Need to Hear This

Yeezus ist ein Meisterwerk, das (bis jetzt) keiner hören will

Nachdem ich zuerst dachte, da muss ein Missverständnis zwischen Yeezus und meinem Gehörgang vorliegen, habe ich noch mal genauer hingehört.

Am Samstag war meine Familie zu Besuch. Ich hatte die Nacht zuvor nur drei Stunden geschlafen, was das Berliner Touriprogramm zur noch größeren Hölle werden ließ. Gegen 19:00 Uhr fiel ich völlig fertig ins Bett und checkte mit letzter Kraft noch das Internet, um sicher zu gehen, dass sich kein 9/11-ähnliches Ereignis zugetragen hatte und ich beruhigt schlafen gehen konnte. Es kam aber noch krasser, meine Facebook-Timeline war voll mit Kanye-West-Posts. Yeezus war geleakt. Ach du Scheiße. Schlagartig war ich hellwach. Ich hatte mich darauf eingestellt, erst Dienstag in den Laden zu rennen, und jetzt ist es hier, nur zwei Klicks entfernt. Was für eine Versuchung. Ich beschloss trotzdem, mir das Album nicht illegal herunterzuladen, schließlich sitzen wir Musikjournalisten mit der Industrie in einem Boot. Nein, ich hörte es mir auf YouTube an.

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40 Minuten später befand ich mich in einer Schockstarre. Was hast du getan, Kanye? Dagegen hört sich 808’s and Heartbreaks nach Bruno Mars an. Ich hatte Mühe nicht jeden Song nach 30 Sekunden zu skippen.

Ich beschloss erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen und mich am nächsten Tag damit auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich war ich einfach übermüdet, dachte ich mir, da muss ein Missverständnis zwischen Yeezus und meinem Gehörgang vorliegen.

Am nächsten Tag hörte ich mir das Album noch etwa fünf Mal an und kam zu folgendem Schluss: Yeezus ist ein Meisterwerk, das bis jetzt keiner hören will.

Lasst uns einen genauen Blick reinwerfen.

1. On Sight
„Yeezy Season’s approaching … the monster is about to come live again”
Nachdem Kanye mit My Beautiful Dark Twisted Fantasy einen Waffenstillstand mit der Popwelt abgeschlossen hatte, wird jetzt schnell klar, dass die Knarren wieder ausgefahren werden und Yeezus den Mainstream ein für alle Mal ficken will. Daft Punk zimmern Kanye eine Bassline hin, die bösartig durch alle Hörgewohnheiten sägt und sofort klarstellt: Hier könnt ihr lange auf Melodien warten. Bis auf einmal ein Gospelchor gesampelt wird: „He’ll give us what we need, it may not be what we want”. Wahrscheinlich ist das der Satz des Albums.

2. Black Skinhead
„They see a black man with a white woman, And at the top door they gon’ come at you King Kong”
Wahrscheinlich der poppigste Song des Albums, und das will was heißen. Der Glamrock-Drumbeat könnte auch bei einer Truppenübung in Fort Knox laufen. Ja, Kanye ist so richtig sauer auf White America. Erinnert an „Power“, nur viel düsterer.

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3. I Am God
„I just talked to Jesus, He said 'what up Yeezus. I said ,Shit I'm chilling. Trying to stack these millions‘“
Sofort mein Lieblingssong auf dem Album. Im Prinzip ist der Track die logische Konsequenz von Kanyes Selbsteinschätzung, nur dass er dieses Mal explizit ausspricht, was er wohl schon dachte, als er vor zehn Jahren im Studio an „Jesus Walks“ saß: Ich bin Gott. Andere würden nach so einer Aussage erstmal Jahre im künstlerischen Fegefeuer absitzen, Kanye darf sie acht Mal wiederholen, weil der Track einfach brillant ist. Eine so hart dröhnende Bassline mit einem Synthesizer, den Will.I.Am auch gerne auf sein Album gerotzt hätte—eine Ambivalenz, die sich noch öfter durch das Album ziehen soll.

4. New Slaves
„You see there’s leaders, then there’s followers / but I’d rather be a dick than a swallower“
Während auf einem klassischen Album mittlerweile die erste auflockernde Popnummer kommen sollte, legt Mr. West jetzt erst richtig los. Über einem trappigen Synthie prangert Kanye den Materialismus an, mit dem er das schwarze Amerika gefügig machen wollte. Sehr überzeugend alles, bis er dann noch die Medien und das DEA und das CCA mit in einen Topf wirft. WTF. Frank Ocean soll da übrigens auch irgendwo mitmachen, hört man nicht.

5. Hold My Liquor
„When I park my Range Rover, slightly scratch your Corolla, Okay, I smashed your Corolla, I'm hanging on a hangover”
Gut, die Young Chop/Chief Keef-Kollabo hatte man erwartet, aber dass sich dann noch Justin Vernon aka Bon Iver dazugesellt und anstatt über Berge und Gefühle lieber über Hennessy und Abstürze singt, das hätte so wohl keiner gedacht. Leider führt diese ziemlich unübliche Kombo zu einem für das Album unüblich langweiligen Track. Ein besoffener Kanye tritt in die Wohnung seiner Freundin und will sie zurückgewinnen. Viel Elektro-Ambiente und noch mehr Autotune. Bei einer solchen Thematik hätte ich mir eine Chicagoer Trap-Schießerei mit mindestens vier Verletzten gewünscht. Und Justin Vernon hätte von mir aus zuhause bleiben und seine Katze streicheln können.

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6. I’m in it
“Eatin' Asian pussy, all I need was sweet and sour sauce.”
Auch nicht so geil. Bis auf einen dicken Bass-Drop und etwas Gestöhne kann der Song getrost vergessen werden. Zwar geht es nur um Sex, wogegen im Prinzip rein gar nichts zu sagen ist, aber im Kontext eines Albums, das offensichtlich politische Themen anspricht, wirkt der Track seltsam deplatziert.

7. Blood on the Leaves
„She Instagram herself like ,Bad bitch alert‘, He Instagram his watch like ,Mad rich alert‘“
Ein wunderschönes Nina Simone-Sample aus „Strange Fruits“ leitet ein liebliches Piano und einen Kanye ein, der über eine gebrochene Beziehung sinniert. Natürlich klassisch im Autotune. Kanye kommt zu dem Schluss „We could’ve been somebody“ und verfällt in Rage angeführt von einem dreckigen Trap-Beat von Hudson Mohawke. Alles schaukelt sich so weit hoch, bis Yeezy realisiert, dass die Bitch ihn vor Gericht so weit ausgezogen hat, dass er das Koks auf dem Tisch nicht mehr schnupfen darf. Großartig.

8. Guilt Trip
„Pour a little champagne, cranberry vodka, Feelin' lied to like parents never said you adopted“
Lyrisch wahrscheinlich der schwächste Track. Irgendwas mit einer Trennung. Auch der Kid Cudi-Part ist unnötig, wie die meisten Gastauftritte. Doch die Videospielsynthesizer-Romantik, diesmal umgeben von einem kosmischen Beat-Dickicht, ist eine willkommene Abwechslung zu der ansonsten minimalistischen Besessenheit von Kanye auf dieser Platte. Nach Radio klingt das hier aber trotzdem nicht.

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9. Send It Up
„She say ,Can you get my friends in the club?‘, I say ,Can you get my Benz in the club?‘, If not, treat your friends like my Benz, Park they ass outside 'til the evening end“
Dieser Track verdeutlicht vielleicht am besten den Sound dieses Albums. Das ist nicht mal im Ansatz Pop, doch es brennt sich in deinen Gehörgang und nistet sich ein, bis vielleicht in zwei, drei Jahren jemand kommt und diesen Sound weiterführt. Im Prinzip beruht der Track auf einer quietschenden Sirene und einem dröhnenden Bass. Zum wiederholten Mal ist Reggae ein Einfluss auf dem Album, während Beenie Man Mos Defs „Travellin‘ Man“ am Ende verwurstet. Ziemlich unnötig, aber ich schätze, der auf Melodien basierende Rhythmus-Sound passt einfach.

10. Bound 2
„After all these long-ass verses, I’m tired, you tired, Jesus wept.“
Als ob uns Kanye zum Schluss nochmal beruhigen und etwas Licht durch den Stahlvorhang lassen wollte, haut er nochmal einen Instant-Classic raus, der genauso gut auf The College Dropout hätte laufen können. Das soulige Sample von Pendoros Twins Plus One aus den 70ern lässt das Album versöhnlich ausklingen und uns wissen lassen: Kanye ist immer noch ein Mensch wie du und ich.

Das war Steve Jobs auch, trotzdem wurde er von vielen wie eine Gottheit angebetet. Kanye sagte selbst: „I am the Steve Jobs of culture.“ Er denkt jetzt schon darüber nach, wie künftige Generationen ihn betrachten werden. Mit Yeezus hat er ein Album geschaffen, das ein weiterer Game-Changer sein wird—genauso wie The College Dropout und 808s and Heartbreaks. Kanye hat das Tor für HipHop noch weiter geöffnet. Wahrscheinlich werden wir erst in zwei Jahren sehen, welchen Einfluss dieses Album auf die Musik wirklich hat, wenn Kendrick Lamar auf 90s Industrial Rock rappt und wir uns schon an diesen Sound gewöhnt haben.

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Und bis dahin solltet ihr euch Yeezus mindestens fünf Mal angehört haben. Dann versteht ihr mich bestimmt.

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