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Philips Legacy: Was hinter Serge Gainsbourgs Konzeptalbum ‚Histoire de Melody Nelson’ steckt

Von Serge Gainsbourgs Album ,Histoire de Melody Nelson‘ wurden kurz nach der Veröffentlichung zwar nur 30.000 Kopien verkauft, dafür wurde jeder Käufer automatisch zu einem Perversling.

Seit 1950 hat Philips Records so einige Albumklassiker veröffentlicht. Wir werden hier in den Backkatalog eintauchen und einige unserer Favoriten unter die Lupe nehmen. Diese Woche ist Serge Gainsbourgs Histoire de Melody Nelson an der Reihe: Ein Konzeptalbum darüber, wie Serge versehentlich mit seinem Rolls Royce Silver Ghost die frühreife Teenagerin Melody Nelson auf ihrem Fahrrad anfährt.

Von Serge Gainsbourgs Histoire de Melody Nelson wurden kurz nach der Veröffentlichung zwar nur 30.000 Kopien verkauft, dafür wurde jeder Käufer automatisch zu einem Perversling. Das ist jetzt vielleicht etwas auf die Spitze getrieben, aber das Album weißt schon gewisse Parallelen zu dem berühmten Zitat Brian Enos über das Debüt von The Velvet Underground auf: Von The Velvet Underground & Nico wurden vielleicht nur ein paar Tausend Kopien verkauft, aber jeder Käufer hat eine Band gegründet. Der weltweite Erfolg und die Kontroverse um „Je t’aime… moi non plus“ (von kommerziellen Radiosendern bis hin zum Vatikan wurde der Albumsong überall als anstößig wahrgenommen) hat dem Song eine derartig Vertrautheit verliehen, dass er, obwohl es ein wirklich ansprechender Pornosoundtrack ist, auch 40 Jahre später noch schwierig anzuhören ist.

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Meldoy Nelson war zwar ein kommerzieller Flopp, sogar in Frankreich, aber auf eine gewisse Weise musste es das vielleicht auch werden, damit daraus etwas Interessantes werden konnte. Nach einer kollektiven Epiphanie anlässlich der Frenchpop-Renaissance, die von Daft Punks Homework und Airs Moon Safari eingeleitet worden war, musste die Musikgeschichte noch einmal umgeschrieben werden. Musik vom europäischen Festland kam wieder in den Blickpunkt. Musikmagazine begannen plötzlich, Retrospektiven über Alben zu schreiben, die sie bei der Veröffentlichung willentlich und arrogant ignoriert hatten. Hollywoodstars, die etwas Indie-Credibility anstrebten, versuchten sich an unbeholfenen Coverversionen von Songs, deren Sprache sie nicht verstanden. Musikern wurde plötzlich bewusst, dass der Weg zum Genie nur ein Mirouze-, Pellletier-, Perrey- oder Vannier-Sample entfernt lag.

Gainsbourg hatte übrigens schon Samples eingesetzt, bevor es richtige Sampler zu kaufen gab: Er benutzte Ausschnitte aus dem ersten Satz von Antonín Dvořáks „9. Sinfonie (Aus der Neuen Welt)“ für den dramatischen Refrain von „Initials B. B.“. Die besten seiner Nachkömmlinge waren diese, die seine Musik absorbierten und in etwas Neues, oder etwas, das wenigstens so aussah, verwandelten. Die Diversität derer, die von ihm beeinflusst wurden (Momus, Portishead, Connan Mockasin, De La Soul, Stereolab und Beck, um nur einige zu nennen), spricht Bände über die Vielseitigkeit von Gainsbourgs Werk.

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Der Weg, auf dem sich Menschen, die des Französisch nicht mächtig sind, Histoire de Melody Nelson nähern, erfolgt natürlich über die Musik. Obwohl die Produktion und die Atmosphäre des Albums (eine hypnotische Rhythmussektion vorne weg, gespickt mit flüchtigen Orchestereinsätzen) schon tausende Male nachgeahmt wurde, klingt das Original noch immer frisch und erscheint in einigen Momenten auch heute noch wie ein Blick in die Zukunft. Man kann versuchen, es zu imitieren, aber das Resultat wird niemals an das Original rankommen—so beeindruckend das musikalische Können, so löblich die Absichten auch sind. Dies liegt wohl auch daran, dass dieses Album das Ergebnis jahrelanger Zusammenarbeit und Experimentierens mit dem großartigen Jean-Claude Vannier war. Diesem Typen:

Das Paar musste erst eine wilde Kakophonie musikalischer Ideen rausschleudern, bevor es sich wohl genug fühlte, die Musik bis auf das Gerippe runterzubrechen und neu aufzubauen. Während ich das Buch 33 1/3 über das Album schrieb, war ich nicht unbedingt an den Mechaniken des Albums oder an den im Stil eines Nachrichtensprecher gehaltenen Erinnerungspassagen interessiert (worüber an anderer Stelle schon zu Hauf geschrieben wurde). Mein Interesse galt mehr dem damaligem Kontext und dem Erschaffer selber. Gainsbourg und Melody Nelson passten einfach nicht in die kulturelle Landschaft ihrer Zeit—er schrieb über den Holocaust, den Einfluss des Surrealismus, Poétes Maudits, Pop Art und die feine Brücke zwischen Zynismus und Romantik.

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Es ist problemlos möglich, Histoire de Melody Nelson zu genießen, auch ohne den Text zu verstehen. Manche Menschen mögen das sogar bevorzugen, wenn man bedenkt, dass das Album letztendlich von einem abgehalfterten Rolls Royce-Fahrer mittleren Alters mit fragwürdigen Moralvorstellungen handelt, der ein minderjähriges Mädchen auf ihrem Fahrrad anfährt, sich in sie verliebt und etwas Spaß mit ihr hat, bevor sie dann in dem klassischen Szenario eines durch polynesische Anhänger eines Kargo-Kultes herbeigeführten Flugzeugabsturzes auf dem Weg nach Sunderland stirbt. Wenn wir uns aber nur auf die musikalischen Qualitäten des Albums konzentrieren, dann verpassen wir so viel von Gainsbourgs Talent für Erzählung, Wortspiel und Dekonstruktion.

Oberflächlich betrachtet handelt Histoire de Melody Nelson von Jane Birkin, Gainsbourgs damalige Schauspielerin-Model-Sängerin-Freundin. Sie lernten sich während der Dreharbeiten zu Slogan kennen und verliebten sich im Mai '68, als um sie herum die Unruhen in Paris ausbrachen. Obwohl es äußerliche Unterschiede gibt (Melodys Haare sind zum Beispiel rot), war sofort klar, dass es sich bei Melody eigentlich um Jane handelte. Auch bei dem echten Paar bestand ein bemerkenswerter Altersunterschied, den Gainsbourg auf dem Album dann noch mal auf unbequeme Weise vergrößerte. Das war typisch für ihn—Gainsbourg liebte es einfach, die Hörer zu schockieren. Auf den Alben davor gab es Geschichten über einen krankhaft depressiven Ticketknipser („Le Poinçonneur des Lilas"), Halbstarke, die mit den Fingern schnippen („Le Claqueur des Doigts“), ein sich zankendes Pärchen, das in einem Autowrack endet („Du Jazz dans le Ravin“) und einen pedantischen Freund, der die Rechtschreibfehler in dem Abschiedsbrief seiner Freundin korrigiert, die sich gerade umgebracht hat („En Relisant ta Lettre“). Alle verfügten über Witz, waren poetisch und hatten einen Galgenhumor, an dem es damaliger Popmusik eindeutig mangelte.

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Gainsbourg hatte über eine Dekade lang anspruchsvolle Chansons geschrieben, nur um auf fast schon bittere Weise seine größten Erfolge mit zwar genialem aber letztendlich doch banalem Yéyé-Pop für pubertierende Teenager zu feiern. Dieser Mann wurde von Menschen wie Boris Vian beeinflusst und hatte plötzlich, wie aus Versehen, den Euro Vision Song Contest gewonnen. Eine heiße Affäre mit der damals begehrtesten Frau der Welt, Brigitte Bardot, hatte ihn zu seiner erfolgreichsten songschreiberischen Periode angespornt. Es handelte sich allerdings um profane Popmusik, wie formvollendet auch immer. Gainsbourg hatte in seinen jungen Jahren Malerei studiert, bevor er seine ganzen Werke in einem Anfall von Frustration zerstörte, und er wollte auch jetzt noch ein Künstler sein. Er entschloss sich also dazu, aus diesem Wegwerfmedium etwas zu machen, was so tiefgründig war wie die Kunst und die Romane, die er bewunderte. Dafür musste er immer mal wieder liebliche Melodien als trojanisches Pferd einsetzen, um düstere und substantielle Themen zu transportieren.

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Aber eigentlich handelt Histoire de Melody Nelson überhaupt nicht von Jane Birkin. Genau so wenig, wie es in Nabokovs Lolita um Dolores Haze, dem Objekt der Begierde des Erzählers Humbert Humbert, geht. Gainsbourg war von dem Buch fasziniert. Er hatte Ausschnitte davon im Fernsehen vorgelesen und versuchte auch die Rechte für eine musikalische Adaption zu kaufen, nur um herauszufinden, dass sich Stanley Kubrick diese schon für seinen Film gesichert hatte. Das, was Gainsbourg wirklich daran interessierte, ist der wahre Kern der Geschichte, was gleichzeitig offenbart, worum es eigentlich auch bei Melody Nelson geht. Tatsächlich drehen sich beide Geschichten um den Erzähler, das männliche Ego und die ganze obsessive, destruktive Dekadenz und der Wahn, die ihr zu Eigen ist. Wie das Buch handelt auch das Album von einem Monster, das sich hinter einer Studie der Schönheit versteckt. Als Erkenntnis über die männliche Psyche sind die Resultate keineswegs schön, egal wie ansprechend sie auch präsentiert werden. Auf dem Umschlag zu seinem ersten Album findet sich ein Hinweis auf das, was tief in seinem Inneren schlummert.

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„Wenn Sie nicht Sie wären“, fragte man Gainsbourg, „wer würden Sie dann gerne sein?“

„Der Marquis de Sade“, war die Antwort, „Robinson Crusoe.“

Jahre später sollten diese beiden Charaktere auf Histoire de Melody Nelson miteinander verschmelzen.

Wenn es wirklich eine Liebesgeschichte ist, dann ist es eine, die mutig genug ist, anzumerken, dass es kein ‚und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende’ gibt. Es ist auch eine, die ehrlich genug ist, zu zeigen, dass die Liebe gleichzeitig eine monströse, heimtückische Sache ist. „Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt“, schrieb Oscar Wilde in Das Bildnis des Dorian Gray, „sind die Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vor Auge halten.“ Wir tendieren immer dazu, diejenigen anzugreifen, die uns solche Dinge zeigen, weil sie die notwendigen Lügen und Anstandsregeln ins Wanken bringen können, die unsere Zivilisation, die öffentliche Moral und das Privatleben im Gleichgewicht halten. Wie Nabokov und Wilde war auch Gainsbourg ein Provokateur. Er war clever und spitzbübisch. Er spielte nicht nur mit den verdorbenen Fantasien des Erzählers und einem abgründigem Konzept von Liebe, sondern auch mit dem Publikum selber. Gainsburg hatte erkannt, dass Abstoßung und Anziehung die Kehrseiten der gleichen Medaille sind; auf nichts Anderem fußt die vorherrschende voyeuristische Geilheit der Boulevardmedien, mit der täglich schreckliche Geschehnisse rausgesucht und bis ins kleinste, grausame Detail ausgeleuchtet werden. Gainsbourg wusste von der elektrifizierten Spannung, die beim Flirt mit Tabus und Gefahren entsteht. Er hielt sich deswegen immer im Vagen. Der Hörer füllt die Lücken selber. Das Ergebnis ist immer auch ein Produkt deiner eigenen versauten Gedanken. Du kannst über seine Sachen empört sein, du kannst dich davon angezogen fühlen, oder beides zugleich. Ihm ist es egal. Das Publikum ist in jedem Fall ein Teil des Ganzen.

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Wir könnten einfach Mensch und Aussage voneinander trennen und darauf hinweisen, dass, über Perversion zu schreiben, nicht automatisch bedeutet, sie auch zu rechtfertigen—geschweige denn, sie selber auszuleben. Wie aber auch bei Nabokov und Wilde (zwei andere Meister von Doppeldeutigkeit und komplexen Moralkonstruktionen) ist man sich dessen nie ganz sicher. Haben wir es hier mit einer doppelten Täuschung zu tun oder vielleicht mit gar keiner? Um es in den Worten von Groucho Marx zu sagen: „He may look like a pervert and talk like a pervert but don’t let that fool you. He really is a pervert.“ Das ist einer der Aspekte, die Gainsbourg auch heute noch so faszinierend und modern macht, sowohl im Guten wie im Schlechten. Er war ein aufopfernder Familienvater, ein Freidenker, ein Künstler, ein heimlicher Romantiker; er war verdorben und moralisch zugleich. Keiner dieser Charakterzüge schließt sich gegenseitig aus—so gerne wir das auch hätten. Immer wieder reden wir uns mit einer geradezu untypischen Naivität ein, dass das Leben nur zwei Seiten kennt, dass Menschen entweder gut oder böse sind. Und jedes Mal sind wir überrascht, wenn wir das Gegenteil erleben. Gainsbourg selber hatte als Jude nur um Haaresbreite den Holocaust überlebt, der auch von einer nicht unerheblichen Zahl seiner Landsleute unterstützt und gefördert worden war. Gerade deswegen verfügte er eben nicht über ein solch illusorisches Menschenbild. Sein ganzes Leben lang konfrontierte er die vermeintlichen Moralverfechter, da er als Junge hinter die Fassade geblickt hatte und wusste wie faul und von Grund auf verdorben das ganze Konstrukt eigentlich war. In gewisser Weise war seine Karriere auch ein Rachefeldzug.

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Am Ende muss der Erzähler von Histoire de Melody Nelson in einer Art Fegefeuer für seine Sünden büßen. Er ist dazu verdammt, ziellos durch die Gegend zu irren und von Melody zu träumen. Ihr Geist „sucht das Archipel heim, auf dem die Sirenen leben.“ Es liegt seit den alten Griechen in der Natur der Tragödie, dass der Gequälte wahrscheinlich nichts anders machen würde, selbst wenn er die Gelegenheit dazu bekommen würde. Wir quälen uns selbst und genießen es. Als Metapher muss Melody sterben, um den hoffnungslosen Mythos perfekter Liebe zu komplettieren. Eigentlich geht es auch dabei um den Erzähler, der sich jetzt mit seiner Einsamkeit und seiner Sterblichkeit auseinandersetzen muss. Es kann eigentlich kein Zufall sein, dass der Kettenraucher und Trinker Gainsbourg kurz nach der Veröffentlichung des Albums fast an einem Herzinfarkt gestorben wäre. Es ist auch kein Zufall, dass er und Birkin nicht lange als Pärchen bestanden, als er immer weiter in den Alkoholismus abdriftete. Er wusste, dass die Zeit nicht auf seiner Seite war. Und, wie du vielleicht schon freudig festgestellt hast, ist sie auch nicht auf unserer Seite. Es gibt aber wundervolle Musik, die wir hören können, während sie uns wie Sand zwischen den Fingern verrinnt.

Darran Anderson ist der Autor von dem Buch über Serge Gainsbourg’s Histoire de Melody Nelson: 33 1/3.

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