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Philips Legacy #3: ‚Pastel Blues’ von Nina Simone

Nina Simone hat Blues hypermodern, sogar futuristisch gemacht.

Seit 1950 hat Philips Records einige Albumklassiker veröffentlicht. In dieser Reihe tauchen wir in den Backkatalog ein und nehmen einige unserer Favoriten unter die Lupe. Diese Woche: ‚Pastel Blues’ von Nina Simone, ein Album, auf dem Blues gleichermaßen als urban und weltgewandt dargestellt und mit Bewusstsein und Leidenschaft für die Geschichte des Genres dargeboten wird.

Die ersten Takte von Pastel Blues sind unerwartet abstrakt. Es erklingen vier leise, nur entfernt wahrnehmbare Anschläge, anschließend entsteht aus einem lauten Clap und einem Beckenschlag ein Offbeat, der dich immer wieder komplett unvorbereitet erwischt—egal, wie oft du das Album schon gehört hast. Immer wieder. Und wieder. Und wieder. Die Klänge könnten fast alle elektronischen Ursprungs sein, so unbestimmt klingt ihre Herkunft und so unglaublich präzise sind sie platziert. Dann setzt Nina Simones Stimme ein—die sich ebenfalls immer und immer wiederholt. Immer wieder singt sie „be my husband and I’ll be your wife“ und ihre Stimme klingt, als ob ihr etwas Unmenschliches innewohnen würde. Im Gegensatz zum Schlagzeug ist ihre Stimme nicht bearbeitet oder mit Hall versehen, nur durch ihre außerordentliche Beherrschung erschafft sie dieses Fremdartige: Jede Note dreht sich, windet sich oder bricht in einen stillen Schrei, aber immer auf eine Art und Weise, die dir zeigt, dass dies mit voller Absicht geschieht. Jede Note gleicht einer Skulptur, ähnlich monumental und von minutiöser Präzision; alle Sänger, die versucht haben, mit ihrer Stimme neue Wege zu gehen—von Diamanda Galas bis zu Thom Yorke über Jarboe bis zu John Lydon—haben ihr viel zu verdanken.

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Im Grunde ist es, wie der Titel bereits vermuten lässt, ein Blues-Album. Es präsentiert Blues allerdings als gehobene Wissenschaft: In einer Ära, in der die Rolling Stones und alle, die darauf folgen sollten, das Genre für die Popmusik umcodiert und die Ursprünge in der ärmlichen und ländlichen Bevölkerung mit einer Art musikalischer Schludrigkeit romantisiert (oder gar fetischisiert) haben, hat Simone einen Ansatz verfolgt, der hypermodern, wenn nicht sogar futuristisch war. Ihre Art von Blues ist gleichzeitig urban und weltgewandt und wird mit ausgeprägtem Bewusstsein und Leidenschaft für seine Geschichte präsentiert. Er ist mutiger und kraftvoller, als die weißen Rocker es jemals sein konnten, verfügt dabei aber auch über die Finesse, Ausgereiftheit und Abstraktionskunst, die Simone ihrer klassischen Musikausbildung an der renommierten Juilliard-School zu Verdanken hat. Sie war in der Lage, die rohe Experimentierfreude von John Lee Hooker oder Bessie Smith zu kanalisieren, hatte dabei aber ein ausgeprägtes Verständnis dafür, dass diese Musik kein instinktiver Erguss des Edlen und Wilden war. Für sie war Blues eine Musikrichtung mit einem eigenen Regelwerk, die es mit Jazz und Klassik aufnehmen konnte.

Inhaltlich setzt sich das Album mit klassischen Blues-Thematiken auseinander. Es geht um Versagen („Noboy Knows you When you’re Down and Out“), Aussichtslosigkeit („Trouble in Mind“) und um Sehnsüchte (jedes einzelne Lied auf dem Album spielt auf unbefriedigte Bedürfnisse an). Trotzdem ist das Album nicht finster—es ist voller Witz, Katharsis und sogar Spaß („Trouble In Mind“ ist einer der fröhlichsten Partysongs, den du in Simones Diskografie finden kannst). Thematisch wird hier viel mehr als nur persönlicher Kummer in standardisierten Blues-Metaphern ausgedrückt. Schließlich handelt es sich um Nina Simone, eine militante Menschenrechtlerin und die Frau, die ein Jahr zuvor das wütende „Mississippi Goddam“ als Antwort auf rassistische Morde im Süden der USA geschrieben hat—und auch ohne ihre mitreißende Version von „Strange Fruit“ („black bodies hanging from southern trees“) gehört zu haben, wirst du verstehen, dass Blues hier Ausdruck von Leid, Hoffnung und Ängsten eines Kollektives und nicht eines Individuums ist.

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Jeder Song auf dem Album ist so nackt wie das beinahe schon erschreckend karge Intro. Simones Klavierspiel und Stimme, ein mit Besen gespieltes Schlagzeug und vielleicht hier und da die Töne einer Harmonika—all das wurde aus nächster Nähe aufgenommen, um die angsteinflößende Präzision und das intensive Gefühl des Spiels einzufangen. Wobei Nähe nicht unbedingt gleichbedeutend mit Intimität ist: Simone interessiert sich letztendlich nicht für DICH. Sie bringt dich allerdings der ganzen Kraft, Wut, dem Gefühl und der Technik ihres Spiels nahe. Wenn du dann bei ihrer Interpretation von „Strange Fruit“ angelangt bist (die in meinen Augen um Längen besser als die von Billie Holiday ist, da sie zorniger und weniger hoffnungslos ist), ist die Macht dieses Liedes einfach brutal. Das traditionelle Spiritual „Sinnerman“, welches das Album abschließt, lässt dich dann zwar nicht direkt vom Haken, gibt dir trotz all der Brutalität aber zumindest einen Hoffnungsschimmer zurück. Der Song ist ein rhythmischer Zufluchtsort, der auch heute noch von DJs geliebt wird—und unter anderem von Masters at Work geremixt wurde. Er bietet dir keine Erlösung, aber einen Fokus für deine Wut und ist ein Voodoo-Gospel-Groove, der all die Sehnsüchte des Albums zusammenfasst und sie in Bewegung, Sex und Funk umleitet. Dieses Album zeigt eine der talentiertesten Musikerinnen des 20. Jahrhunderts auf der Spitze ihres Könnens und Simone verwendet ihr ganzes Talent dafür, um unnachgiebige Fragen zu stellen und harte Tatsachen zu erzählen. Es macht hochgradig süchtig, aber wie die meisten Süchte, kann auch diese hier überaus beunruhigend sein.

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