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Philips Legacy #2: ‚Portrait’ von den Walker Brothers

Du hörst: Leid, Leid, Leid, Leid, Leid; dann endlich ein wenig Hoffnung.

Seit 1950 hat Philips Records so einige Albumklassiker veröffentlicht. Wir werden hier in den Backkatalog eintauchen und einige unserer Favoriten unter die Lupe nehmen. Diese Woche: das zweite Album der Walker Brothers, Portrait.

Du hörst: Leid, Leid, Leid, Leid, Leid; dann endlich ein wenig Hoffnung mit einem tief melancholischen Unterton. Und das ist nur die erste Seite von Portrait, dem zweiten Album der Walker Brothers und dem, auf dem die dunkle Erhabenheit von Scott Walker wirklich sichtbar wurde.

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Die Platte ist ein absolut großartiges Werk an Zerrissenheit, das durch die Tatsache, dass es seinen Platz wie ein dunkler, klaffender Abgrund in der Mitte der pompösen und farbenfrohen Swinging Sixties hat, noch besser wird.

Stell dir vor, Austin Powers wäre auf einmal von Nick Cave besessen und du hast eine Vorstellung, was damals passiert ist: das war keine Invasion der Bohème von Außenseitern wie Bob Dylan oder Leonard Cohen, der absolute Mainstream selbst wurde düster, kühl und sonderbar, wie ein Spuk auf einer Pyjama-Party.

Die Walker Brothers waren im Prinzip reinstes Showbiz, eine schnulzige Boyband—eigentlich nicht so weit entfernt von einer erwachsenen Version der Monkees—und sie hatten wenig mit Rock’n’Roll zu tun. Tatsächlich haben ihre großzügigen Arrangements und ihr Sinn für Melodramatik sie musikalisch näher an Tom Jones, Engelbert Humperdinck und sogar den Las Vegas Elvis als an die Beatles, Stones und Kinks herangerückt. Das amerikanische Trio hat sich dem Trend der britischen Invasion widersetzt, indem sie in Großbritannien groß rauskamen, während sie in ihrer amerikanischen Heimat Kuriositäten blieben. Wirklich alles an ihnen wirkte deplatziert und passte nicht in die Zeit: obwohl ihr Sound luxuriös und schmalzig elegant war, haben sie Musik der Entfremdung gemacht, mit dem leicht verrückten Bariton-Trällern und der einsamen Erscheinung von Scott Walker (geborener Engel) im Mittelpunkt.

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Der Vergleich mit Nick Cave ist nicht grundlos gewählt—ab dem ersten Song des Albums, „In My Room“, nimmt Scott die Art des Gesanges und die düstere Autorität eines Nick Cave vorweg. Der ist allerdings nicht der einzige moderne Sänger, der Scott zu Dank verpflichtet ist. Auf dem Album findet man den ersten Song, der komplett von Scott geschrieben wurde: der zweite Track, das absolut überwältigende „Saturday’s Child“; und in diesem Song findet sich im Prinzip die Saat der ganzen Karriere von Jarvis Cocker wieder. Tatsächlich machen die Geschichten über die Leere des sozialen Trubels und deprimierende Partys den Song zu einer 30 Jahre früher erschienenen Version von „Sorted for Es & Whizz“.

Sogar ohne die schwermütige Poesie von Scott ist die Stimmung unerbittlich dunkel, voll allgemeingültiger Themen des Verlusts. Auf der Reise durch die erste Seite findest du Besessenheit („In my Room“), Desillusionierung („Saturday’s Child“), Verbitterung („Just for a Thrill“), Dysfunktion („Hurting Each Other“) und das Grauen des Älterwerdens und Scheiterns („Old Folks“). Doch dann kommt das merkwürdige, freischwebende Herz des Albums: der letzte Song der ersten Seite, „Summertime“, ein Gershwin-Standard, dessen Hoffnung und Angst in einem schützenden Kokon aus Luxus verpackt wird.

Auf der B-Seite folgt eine unheimlich sonderbare Interpretation von „People Get Ready“ von Curtis Mayfield. Eine wirklich verwirrende Aufnahme: ein langsamer und imposanter Gospel, der scheinbar der Hoffnung beraubt wurde, aber trotzdem mit Hingabe dargeboten wird—eine Art aussichtsloser Hoffnung, die auf ehrliche Weise zum Ausdruck gebracht wird. Mit Glockenspiel, Bläsern und vernebelter Geschwindigkeit klingt es in etwa wie Spiritualized mit noch mehr Prunk. Es ist ununterbrochen großartig, ein dunkler Spiegel eines Songs, der die nie wirklich das Gleiche zweimal zeigt.

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Anschließend geht es wieder hinab in einen Abgrund durch Verlust und Voyeurismus („I Can See it Now“, den Scott mitgeschrieben hat), Verlust und Fetischismus („Where is the Girl?“), Verlust und Misstrauen („Living Above your Head“), Verlust und das Scheitern von Stoizismus („Take it Like a Man“) und Verlust, Verlust und noch mehr Verlust („No Sad Songs for Me“, das mit einem schmerzhaft langsamen Refrain endet: „it’s over… it’s all over…“).

Und dann ist die Platte zu Ende, Aus. Keine Erlösung, keine Wendung in der Erzählung, nur Leid, Leid und Leid mit diesem seltsamen Traum, dass etwas anderes in der Mitte davon schwebt. Etwas Vergleichbares gab es zu dieser Zeit nicht, aber die Platte hat eindeutig einen Nerv getroffen, denn es war die Platte der Walker Brothers, die sich am besten verkauft hat—und sie hat noch lange danach einen Nerv getroffen, was nicht nur durch Cave, Cocker und Pierce deutlich wird, sondern auch durch Cohen, Bowie, Marc Almond, Siouxie Sioux, Damon Albarn, Róisín Murphy, Thom Yorke, Portishead und so weiter. Scott selbst hat in den Jahren danach natürlich noch viel abseitigere Poesie verfolgt, aber an dieser Platte ist etwas Besonderes, Scotts einzigartige Vision, die aus dem absoluten Mainstream entsteht, durch den sie aber immer noch abgesichert ist, und die von der Dunkelheit hinter dem Glanz erzählt, von dem wir alle instinktiv wissen, dass es ihn gibt. Und hinter diesem Prunk des Showbiz lauert Schönheit. Trübselige Schönheit, aber trotzdem Schönheit.

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