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„What a lovely town Poland is...“—Eindrücke vom Off Festival in Katowice

Polen gehen wegen der Musik zum OFF Festival. Polen sind aufmerksam und quatschen nicht während der Sets. Polen reden ohnehin nicht sehr viel. Unser Interesse war geweckt.

Wenn du als Schreiber noch nicht komplett abgestumpft und schwunglos bist, dann ist der erste Besuch eines bestimmten Festivals insgesamt ein bisschen so wie das erste Mal. Du weißt nicht, was dich erwartet und versuchst auf sämtliche Vorkommnisse optimal vorbereitet zu sein. Für jeden Noisey-Redakteur ist Abgestumpftheit logischerweise ein Fremdwort und als ich mich letzte Woche erstmals auf den Weg zum OFF Festival in Katowice, Polen machte, pulsierten augenblicklich journalistische Sorgfaltspflicht und wissbegieriger Recherchedruck in mir.

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Was ich am Frühstückstisch mit einer Abgesandten des polnischen Kulturinstitutes lernte:

Polen gehen wegen der Musik zum OFF Festival. Polen sind aufmerksam und quatschen nicht während der Sets. Polen reden ohnehin nicht sehr viel. Mein Interesse war geweckt.

Was ich bei der sich anschließenden Stadtrundfahrt, aka gruppensynergetisch-vertrauensbildenden Maßnahme der eingeladenen Journalisten, lernte:

Katowice, Hauptstadt des Verwaltungsbezirkes Schlesien, hat keine Altstadt. Die nette Frau am Mikrofon insistierte dennoch darauf, dass es eine schöne Stadt sei. Sie habe sich außerdem vom Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie zu einem Kulturmittelpunkt entwickelt. (Also die Stadt, nicht die Frau) Und während andere Städte an Architekten horrende Summen zahlen, um ihnen schwarze, stylische Häuser zu bauen, hat man in Katowice einfach den Jahrzehnte alten Kohlestaub an den Wänden gelassen. Kein Witz. Trotzdem verfüge Katowice über eine grüne Lunge 40 prozentigen territorialen Ausmaßes.

Endlich mit ausreichend Vorwissen ausgestattet besuche ich am Donnerstag folgende Warm-up-Konzerte:

Dirty Beaches, die jetzt endgültig von angegothten Rockabillies zu unterkühlten Postpunk-Strebern konvertiert sind. Behäbige Loop-Gebinde, denen die auto-exorzistische Würze eines völlig austickenden Alex Hungtai fehlt. Bereits hier ist spürbar: beim Frühstück wurde nicht zu viel versprochen. Das polnische Publikum lauscht gebannt und demütig. Das Set schaukelt sich nach 40 Minuten unter Zuhilfenahme von 4/4 Bumms in so eine Art LoFi-Rave hoch. Irgendwann landen sie eben doch alle beim Techno. Tuxedomoon, die 2014 nicht viel mehr zu bieten haben als ein verspultes Lounge-Jazz-Kabarett mit beknackten Visuals. Frage mich die ganze Zeit, ob ich für den Quatsch noch zu jung oder bereits zu alt bin.

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Earth, die in der evangelisch-protestantischen Kirche im Zentrum Katowices spielen und deren Knitterzausel Dylan Carlson vor dem Amp-Beichtstuhl seine zahlreichen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz in Slowmotion Riffpsalmen läutert. Ohnehin meistens annähernd, diesmal aber wirklich: eine Messe.

Dann der erste Tag. Festivalgeländebegehung mit meinen neuen Freunden von der britischen Presse, die meinen Erkenntnis dürstenden Arbeitseifer vielleicht nicht gänzlich teilen:

Dabei wird schon auf diversen Bühnen Lokales präsentiert. Auf der von Sub Pop kuratierten Experimentalstage verausgaben sich Wild Books, so etwas wie die hiesigen Black Keys. Und nur unweit davon entfernt spielt Anthony Chorale, ein Indie-Schöngeist, der aus dem Falsetthimmel zarte Tweepop-Melodien regnen lässt und die zu Dutzenden vor der Forest Stage auf dem Wiesenboden sitzenden Girls fauchen milde erzürnt, wenn man ihnen aus Versehen die Sicht auf den schönen Jüngling nimmt. Zauberhaft.

Dann ein Kapitel aus der hoffentlich bald bei Noisey startenden Serie „Bands, die ohne ihren Frontmann besser dran wären“—Cerebral Ballzy. An sich ja solide runter gebretterte Punkrock-Bagatellen, aber die unfreiwillige Clownerie von Sänger Honor Titus ist echt nur schwer zu ertragen. Es ist ok, wenn jemand bereits durch die Wahl seiner Kopfbedeckung signalisiert, der nächste Pete Doherty sein zu wollen. Abgesehen von der Tatsache, dass wahrscheinlich niemand sonst auf der Welt gern Pete Doherty wäre, eingeschlossen Pete Doherty. Es ist auch irgendwie noch ein bisschen ok, wenn man meint, auf der Bühne so eine Art GG Allin Mini Playback Show aufzuführen, die selbst Marijke Amado vor Fremdscham hätte erstarren lassen. Wenn dann aber die eine Ansage lautet „This song is about not going to school.“ Und die nächste: „What a lovely town Poland is…“, dann weiß man, es ist nun wirklich Zeit, die Bühne zu wechseln.

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Da ist man dann sogar erleichtert über die leichte Kost von Los Campesinos! auf der Hauptbühne, deren Auftritt von technischen Problemen am Synthie überschattet wird. Macht aber nichts, Sänger Gareth lässt den Prince Charming heraushängen, gewinnt mit seinen Geschichtchen sämtliche Zuschauerherzen und die Band schöpft das Euphoriepotenzial von Sync-freundlichem Indiepop voll aus.

Dann bei Perfume Genius zeigt sich am allerdeutlichsten der Segen eines polnischen Publikums. An sich ist ja hier nicht viel mehr zu hören als die Geräusche eines leidenden jungen Mannes, der seine zarte Hühnerbrust öffnet. Aber jede in den Äther geseufzte Schmerzschwingung durchdringt das Zelt ohne an geistesabwesendem Gelaber zu zerschellen.

Der erste wirkliche Publikums-seitige Kontrollverlust ist erst bei den Black Lips zu verzeichnen. Aber das war auch nicht anders zu erwarten. Passenderweise beginnt es jetzt zum ersten Mal überhaupt ein bisschen zu tröpfeln, fast schon als wäre der Schauer bestellt gewesen, um den Moshpit zu kühlen. Coles Kommentar zur meteorologischen Situation „Hope y’all don’t mind the rain. Some of you probably need a shower anyway. Well, I do.“

Das war schon nahe an der heutigen Bestleistung, der endgültige Höhepunkt ist dann aber doch das Set von Oranssi Pazuzu. Die Finnen könnten mit ihrem Unterwelts-Gebläse den ganzen Haufen, der zeitgleich in Wacken behauptet, Metal zu sein, aus dem Stand an die Wand furzen. Ein Bann dröhnendes Spektakel, zu dem ein ulkig anzusehendes, nicht mehr ganz so frisches Pärchen, beginnt, es sich am Bühnengraben gegenseitig zu besorgen. Immer wieder teilt er ihre Schenkel a tergo mit dem Knie. Immer wieder reibt er seinen Schritt im Takt an ihren feisten Backen. Wer kann es ihnen verübeln, schließlich werden hier gerade donnernde Klangorgasmen entladen.

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Nehme auf dem Rückweg noch ein bisschen von Michael Rothers aufgewärmtem Neu!-Material mit, das tatsächlich gar nicht mal so von gestern klingt.

Tag zwei beginnt auf dem Shoegaze-Teppich von Hookworms, der so an sich ganz hübsch, nur einfach nicht wiederzuerkennen ist, weil viel zu viele My Bloody Valentines, Stone Roses, Sucides und Spacemen 3s bereits ihre Dreckbotten daran abgetreten haben.

Auf der Hauptbühne dann Teil zwei der Bands, die ohne ihren Frontmann besser dran wären: Deafheaven. Erweitert durch das Unterkapitel „Bands, die ohne ihre anscheinend Genre-bedingte Geschichtsdoofheit noch viel besser dran wären“. Einen Tag vorher machte die Band noch einen kleinen, auf Instagram belegten Ausflug zum KZ Auschwitz, und jetzt spurtet der sauber gescheitelte George Clarke schon wieder im Stechschritt an den Bühnenrand, wo er die rechte gehobene Hand gerade noch so in eine Grußgeste umlenken kann, wo er seinen Mikroständer wichst, literweise Sabber über die Bühne verteilt und in seinen abrupten gestischen Spasmen wirkt als würde er gleichzeitig ein Sinfonieorchester und einen Reichsparteitag dirigieren. Er ist einfach ein Idiot und die Band, auch mit dem starken Material von Sunbather im Rücken, meilenweit von der umfassenden Sogwirkung einer Performance wie beispielsweise der gestrigen von Oranssi Pazuzu entfernt.

Zum Glück gibt es so Typen wie Frank Fairfield, der den Nachgeschmack dieser Darbietung einfach wegfiedelt. In unwiderstehlichem Hillbilly-Charm weist er das Publikum gleich mal an, doch nicht allzu euphorisch zu applaudieren, am Ende finden sie die Musik ja gar nicht so gut und dann wäre es ihm unbehaglich, die Erwartungen nicht erfüllt zu haben. Aber alle Tiefstapelei ist ohne Grund, das aufs Äußerste reduzierte Set (zwei Männer, zwei Geigen und noch ein Saiteninstrument hier und da) wird frenetisch gefeiert. Der Beat kommt ohnehin meist automatisch vom Klatschen und Stampfen der ausrastenden Leute.

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Danach dann Pendeln zwischen der fernöstlichen Punkrock-Hysterie von Bo Ningen und dem Steuererklärungsrock von The Notwist. Dank des Notwist-Drummers, der das Bandphlegma einfach totprügelt, geht das ganze unentschieden aus.

Und schließlich: The Jesus And Mary Chain. Ich sag mal so, Jim Reid, mir ist klar, es ist nicht mehr 1986. Das Haar ist schütter nun und angegraut. Der Bauch nicht mehr der eines hungrigen Megalomaniacs mit Drogenproblem. Aber muss man ihn unter einem großzügig geschnittenen Kurzarmhemd verstecken? Dazu Bootcut-Jeans? Warum nicht gleich noch Crocs dazu, um direkt jeden Zweifel zu zerstreuen, dass da oben gerade nicht eine der coolsten Rockbands aller Zeiten, sondern der Vorstand des ortsansässigen Kleingartenvereins in Stellung geht? Der optische Alarmzustand wird dann von einem lustlosen Set quittiert, das in jeder seiner in Chloroform getunkten Minuten zu gähnen scheint: Ja, es stimmt, wir geben uns echt überhaupt keine Mühe.

Trauriger Rekord: Ich habe keine andere Band auf diesem Festival gesehen, die sich so oft verspielte wie der Headliner.

In den dritten und letzten Tag lasse ich mich von Perfect Pussy hinein nerven. Witzig: das Set soll 45 Minuten gehen, dabei hat die Band gerade mal 15 Minuten Musik veröffentlicht. Bzw. das, was sie Musik nennen. Ich gestehe: Ich habe das Album nicht verstanden und ich verstehe auch diesen Auftritt nicht. Ich könnte genau so gut der Eurythmiestunde einer Waldorfschule oder dem Einbruch einer ADHS-Selbsthilfegruppe in eine Rasselfabrik beiwohnen, der Sound wäre der gleiche. Das Set erstreckt sich dann doch auf beachtliche 23 Minuten, bevor der obligatorische Noise-Staubsauger angeworfen wird.

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Zum Glück hat sich bereits Andrew WK seine speckig weiße Stretchjeans übergeworfen und entwickelt auf der Bühne sein nun wirklich jedem, sogar mir einleuchtendes Konzept: „We are not musicians, this is not a show. We are partyers and this is a party.“ Und dieser gerissene Hund peitscht dieses Konzept 2014 gnadenlos auf die Spitze. Was vor ein paar Jahren noch ein bisschen nach Rock’n’Roll-Parodie roch, folgt heute dem EDM-Hype und perforiert den Status Quo US-amerikanischer Popkultur mit 210 bpm Drummachine-Gebretter. Dazu E-Piano-Solos des Meisters in Lichtgeschwindigkeit und kongeniale Choreographien seines schönsten Bandmembers. Der kindlichste und wahrhaftigste Auftritt auf diesem Festival, der sogar den reserviertesten Teil des Publikums nachhaltig nass macht.

Danach wird auf der Hauptbühne das „Song Reader“ Material von Beck orchestral interpretiert, aber nach einer Andrew W.K. Show scheint Musik erst mal für mindestens eine Stunde keinen Sinn zu ergeben.

Bei Nisennenmondai kehrt so langsam das popkulturelle Bewusstsein zurück, um dann bei Slowdive endlich die Ehrenrettung des frühneunziger Shoegaze zu erleben. Jedes Delay gedehnte Saitenpicking transportiert hier mehr Stimmung als die gestrige Gesamtleistung von TJAMC. Jeder dieser alten Songs scheint sich über die Jahre noch zusätzlich mit Dramatik und Tränendrüsen massierendem Reverbblei gesättigt zu haben und der Open Air Resonanzraum ist hier jeder Clubshow überlegen, denn er öffnet den Weg dorthin wo die Sound-Signatur dieser Band hingehört: zum Firmament.

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Die sich anschließenden Belle & Sebastian darf man sich da wohl schenken und das Off Festival 2014, das in Sachen Booking-Qualität, Organisation und Atmosphäre nicht nur in Deutschland, sondern europaweit seinesgleichen sucht, für bestmöglich gelungen erklären.

Mehr über Festivals:

Der Noisey Guide To Ferropolis

Wie man sich mit Mitte Zwanzig auf einem Festival verhält

11 Arten von Arschlöchern, die Musikfestivals besuchen

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