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Mahraganat hilft den Ägyptern, sich auszudrücken

Ägyptens politische Dance-Szene erreicht Europa. Wir haben MC Sadat und DJ Figo in den Rinse FM-Studios in London getroffen.

Die Revolution in Ägypten, an deren Ende Hosni Mubarak als Präsident gestürzt wurde und die die ersten demokratischen Wahlen des Landes zur Folge hatte, begann ziemlich genau vor drei Jahren—am 25. Januar 2011. An diesem Tag war ein MC namens Sadat, damals 24 Jahre alt, unter den Hunderttausenden, die auf den Straßen Kairos protestiert und den Wandel gefordert haben. Als er in dieser Nacht nach Hause kam, konnte Sadat nicht schlafen.

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„Ich habe angefangen zu schreiben und ging am nächsten Tag zum Haus von Figo, um einen Song zu schreiben und zu komponieren“, erklärt er mithilfe eines Übersetzers, während er in einem Hinterzimmer der Rinse FM-Studios in Ost-London sitzt. „Es ging darin um Korruption und Mord und alles, was ich beobachtet habe.“

Sadat und sein Kollaborateur DJ Figo bildeten zusammen mit ein paar anderen schon vorher die Spitze einer Underground-Dance-Szene, die viele Leute „Electro Chaabi“ nennen (was sich grob mit „Electro Folk“ übersetzen lässt), Sadat selbst aber lieber als „Mahraganat“ (Festivals) bezeichnet, da es für ihn etwas Neues ist und nicht nur eine Elektroversion von etwas, das es schon gab.

Nach den Protesten veränderte ihre Musik sich jedoch. Während Sadat Beobachtungen von der Straße aufschrieb, kümmerte sich Figo, der sich durch YouTube-Tutorials selbst beigebracht hat, Beats zu produzieren, um die Musik. „Wir haben darüber nachgedacht, wie wir Musik machen können, die reflektiert was gerade passiert“, sagt Sadat. „Wir haben uns gefragt, wie die Musik die Herzen der Leute erreichen kann, denn wenn ihnen die Musik nicht gefällt, werden ihnen die Texte auch egal sein. Um die Leute dazu zu bringen, dass sie sich die Texte anhören, musst du die richtige Art von Musik machen. So denke ich über HipHop. Das Erste, was mich an einem HipHop-Song anzieht, ist die Melodie. Das bringt mich dann dazu, mir anzuhören, was der Typ sagt.“

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Sie haben den fertigen Song „The People And The Government“ (الشعب والحكومة) genannt und ihn direkt bei YouTube veröffentlicht:

Die Revolution hat sich weiter ausgebreitet und die Musiker haben sie weiter mit Songs begleitet. Ein weiterer Mahraganat-MC, der den Namen Knaka trägt und mit DJ Diesel arbeitet, erzählt mir, dass er am stolzesten auf seinen Song „The Dream Of Development“ ist. „Es ging hauptsächlich darum, zu sagen, dass es nicht wichtig ist, welcher Partei der Präsident von Ägypten angehört“, sagt er. „Ob er nun der [Muslim-] Bruderschaft angehört oder einer anderen Partei ist nicht wichtig. Das wichtigste ist, dass die Leute das Land zusammen mit dem Präsidenten entwickeln.“

Mahraganat ist nicht unbedingt Protestmusik. Die Szene existierte bereits vor den verschiedenen Aufständen, die Ägypten in den letzten drei Jahren gesehen hat, aber erst nach dem Sturz von Mubarak wurde sie von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Sie hat den Menschen auf der Straße eine Stimme gegeben. Hier ist eine Übersetzung einiger Textzeilen aus Sadats „The People And The Government“:

„Das Volk und die Regierung, die Maschinengewehre und die Prügel / Ägypten ist aufgestanden, sogar die, die es vorher nicht interessiert hat / Ich spreche über die, die standhaft sind, die Überlebenden und die Toten / Ich spreche über die Kirche, die Moscheen und die Bruderschaft.“

Das ist, was Mahraganat ausmacht; es bietet den Leuten eine Möglichkeit, um über verschiedene Dinge reden zu können. Sie können ausdrücken, was nicht gesagt werden kann. „Bevor ich mit dem Singen angefangen habe, habe ich amerikanischen HipHop gehört“, sagt Sadat. „Mir ist aufgefallen, wie sehr die Rapper auf ihre Texte vertrauen, nicht auf ihren Gesang. Sie haben etwas zu sagen. So etwas gab es in Ägypten nicht. In Ägypten dreht es sich in den meisten Texten um Liebe und schöne Dinge, aber niemanden interessieren die echten Probleme des Lebens. Mir wurde klar, dass HipHop genau das schafft und dass das in Ägypten fehlt. Unsere Art von Musik ist unabhängig und wir können singen, was auch immer wir wollen.“

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Einer von Sadats ersten Songs, auf den er besonders stolz ist, ist „All Our Youth Is Gone“ und er handelt von seiner Angst, dass die ägyptische Jugend ihr Leben verschwendet und von Schmerzmitteln und Medikamenten abhängig wird. „Mein Song hat sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und beschrieben wie verschlafen und unkonzentriert die Jugend ist“, sagt Sadat. „Ich habe all die Arten von Tabletten in dem Song aufgezählt. Das sind eigentlich verschreibungspflichtige Medikamente, aber sie sind überall zu kriegen. Diese Tabletten könnten eine ganze Generation zerstören. Hasch hingegen ist in Ordnung, das zerstört die Jugend nicht so sehr wie diese Tabletten.“

Mittlerweile ist Mahraganat nicht nur auf den Straßen extrem beliebt, sondern wird auch dafür genutzt, ägyptische Filme zu bewerben—ohne dass die Studios den Künstlern eine Gage dafür zahlen, dass sie ihre Musik verwenden. „Sie zocken uns ab“, sagt Sadat. „Die Medien nehmen uns nicht ernst und sagen, dass die Musik, die wir machen, keine Kunst ist. Sie sagen, dass sie nur ein Phänomen sei und bald vorbei ist. Aber wir entwickeln uns. Alles hat seine Zeit.“

Das Einzige, mit dem sie Geld verdienen, sind Live-Konzerte und Auftritte auf Hochzeitspartys. Zur eigenen Hochzeit von Sadat kamen Tausende. „Wir vertrauen auf die Leute, die uns mögen, unsere Fans; niemand kann uns daran hindern, Musik im Internet hochzuladen“, sagt er. „Selbst wenn sie uns aus dem Internet verbannen, können sie nicht verhindern, dass wir auf den Straßen Musik machen. Wenn Hosni Mubarak noch an der Macht wäre, würde er das Internet lahmlegen oder uns in unseren Häusern gefangen halten.“

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Mahraganat wird sowohl in der ägyptischen Heimat als auch im Ausland immer bekannter. Sadat, Figo, Knaka und Diesel sind nach London gekommen, um an einem Projekt namens ‚Cairo Calling’ teilzunehmen. Sie sind, unterstützt von der britischen Botschaft, in einem Studio von Rinse FM mit Leuten wie Kode9, Artwork und Faze Miayke zusammen gekommen, um mit ihnen aufzunehmen. Die Idee dahinter ist, sie mit ihren frenetischen Beats aufeinander loszulassen, wovon wir bereits einen Vorgeschmack in den Fluren des Studios erhaschen konnten. Rinse erhofft sich, Mahraganat einem breiteren Publikum in Großbritannien bekannt zu machen und dadurch die Entwicklung der ägyptischen Szene zu fördern, also haben sie die vier Künstler ebenfalls eingeladen, an einer furiosen Boiler Room-Session in London teilzunehmen. Selbst die von uns, die den feuernden arabischen Reimen nicht folgen können, können sich der Kraft, die Sadat und andere Leute in ihrer Heimat zu Helden gemacht hat, nicht entziehen. Die Zukunft in Ägypten wird immer ungewisser. Dem Sturz des ersten gewählten Präsidenten Mohammed Mursi folgte vor kurzem eine Abstimmung über eine neue Verfassung, die von 98,1% der Stimmen unterstützt wurde. Die meisten Ägypter denken, dass die neue Verfassung General el-Sisi den Weg ebnen und die Macht ermöglichen wird, dessen bewaffnete Truppen den islamistischen Mursi letzten Juli gestürzt haben. Sadat und Figo sind sich nicht sicher, was sie davon halten sollen. Figo sagt ernüchtert: „Ich bin nicht sehr hoffnungsvoll, was die Zukunft betrifft. Das Land wird weiter herunterkommen.“ Sadat ist etwas zurückhaltender:

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„Die Leute sind in zwei Lager gespalten. Meine Musik hören sie in beiden. Entweder meine Aussagen und Worte erreichen alle oder ich bleibe stumm und singe gar nicht mehr. Die Menschen waren in Ägypten immer eins. Heutzutage sind sie geteilt. Es gibt Leute, die für die Verfassung sind und Leute, die gegen die Verfassung sind. Die Leute sind sehr engstirnig. Sie lassen sich nicht auf die andere Seite ein und verschließen ihre Augen vor all den schlechten Dingen, die auf der anderen Seite passieren. Ich möchte keine Partei der anderen bevorzugen. Ich zähle mich zu keiner Kategorie von Leuten. Meiner Meinung nach sollte Kunst jeden erreichen.“

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