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„Das Meer ist viel schöner in der Nacht“—Sierra Kidd im Porträt

Sierra Kidd erlebt gerade am eigenen Leib, wie schnell man heute vom verhassten Nirgendwer zum allseits beliebten Kidd of Rap werden kann. Anfang Juli erscheint sein Debüt.

Foto: Sascha „Heks“ Haubold / Indipendenza

Sierra Kidd wohnt jetzt in Berlin, in der Nähe vom Boxhagener Platz in Friedrichshain. „Zugezogener Rapper aus F-Hain“, lacht er in Anspielung auf Karate Andis Song „Generation Andi“, als ich ihn darauf anspreche. Trockener Humor und Selbstironie sind also schon mal vorhanden—aber was soll man von einem Ostfriesen auch anderes erwarten. Sierra Kidd ist ein netter Kerl, der im Gespräch älter—oder reifer—wirkt, als er tatsächlich ist. Einer, der sich in den kommenden anderthalb Stunden ab und zu in Witz oder Floskeln flüchtet, wenn Fragen unangenehm werden, der auf sympathische Art frech werden kann, der aber auch sehr ernsthaft mit Themen umgeht. Etwa wenn wir über seine Familie sprechen. Oder seine ersten Schritte in Berlin.

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„Berlin hat mir eher einen Ego-Down gegeben als einen Ego-Push, weil ich hier halt allein bin. Und ich bin es gewohnt, dass immer jemand dort ist, wenn ich aufstehe und runter in die Küche gehe.“ Der Umzug nach Berlin, die Verlorenheit in der großen Stadt, die Entfernung zur ostfriesischen Heimat und vor allem zu seiner Familie scheinen den Jungen gerade schwer zu beschäftigen. Wir sprechen über seine sechs Geschwister—drei Jungs, drei Mädchen, er selbst ist der Älteste—und das Verhältnis zu den einzelnen. „Als ich noch zuhause gewohnt habe, hatte ich natürlich wenig mit meinen Geschwistern am Hut, weil ich mich um meinen eigenen Kram gekümmert habe. Jetzt, wo ich sehr oft weg bin und meine Familie selten sehe, nutze ich jede Sekunde mit ihnen.“ Je älter Sierra Kidd wird, desto enger wird die Verbindung zu seiner Familie.

Ähnlich mit der Heimat. „In den ersten Monaten war ich eigentlich richtig froh, dass ich nicht mehr dort sein musste. Aber seit ich häufig auch mal ein, zwei Monate nicht in der Heimat bin, vermisse ich das schon sehr.“ Je weiter man weg ist, desto mehr weiß man zu schätzen, wo man herkommt.

Berlin

Weg. Das bedeutet, dass der erst 17-jährige Manuel Jungclaussen aus Emden gerade die ersten Schritte völlig auf sich gestellt macht. Was gar nicht so einfach ist. Seit etwa vier Monaten ist er jetzt hauptsächlich in Berlin, aber angekommen ist er bisher kaum. Zum Beispiel ist die Wohnung null eingerichtet, wie er erzählt, er müsste unbedingt mal zu Ikea. Noch nicht mal Müslischalen oder gar Löffel besitzt er, weshalb er auf seine geliebten Cornflakes verzichten muss. Dafür hat er jetzt die Musik, die große Stadt, mit all den Vor- und Nachteilen.

Zu den Vorteilen gehört die Nachbarschaft zu Raf Camora. Seinem Mentor, seinem Freund. „Raf ist für mich der beste Produzent in ganz Deutschland, deswegen war für mich sehr schnell klar, dass ich zu seinem Label Indipendenza will. Als wir uns kennenlernten, meinte er irgendwann zu mir: ‚Du kannst jederzeit zu mir kommen‘. Also bin ich zu meinem Manager Hadi gegangen und habe gesagt: ‚Lass uns zu Indipendenza gehen.‘ Das war die beste Entscheidung.“

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Zu den Nachteilen gehört die Einsamkeit und Verlorenheit in der großen Stadt. Obwohl Einsamkeit offenbar kein allzu großes Problem für Sierra Kidd ist. „Für mich ist das cool, weil ich gern einsam bin. Aber ich glaube, dass dich das auch zerfressen kann.“ „Kannst du daraus Inspiration ziehen?“, frage ich. „Ich ziehe wenig daraus. Ich bin eher in meiner Kleinstadt. Ich kann hier auch keine Musik schreiben, ich will das am liebsten immer Zuhause machen. Hier habe ich nicht das Feeling.“

Das Feeling hat er in Emden, wenn er auf dem Dach seiner Eltern sitzt. „Ich mache das Fenster auf, ich setz' mich aufs Dach, gucke runter auf die Hauptstraße und schreibe meine Songs. Das ist für mich das Inspirierendste, was es gibt. Ich kann vom Dach aus aufs Wasser gucken, kann das Meer sehen.“

Der Aufstieg

Sierra Kidd erlebt gerade am eigenen Leib, wie schnell man in Zeiten der sozialen Netzwerke vom Niemand zum Jemand wird. Oder besser vom verhassten Nirgendwer zum allseits beliebten Kidd of Rap. Vor nicht einmal anderthalb Jahren veröffentlichte er seinen Song „Kopfvilla“ bei YouTube. Einen Song, den der damals 16-Jährige in der Nacht auf einen Beat aus dem Internet geschrieben hat, in einer Zeit, in der es ihm definitiv nicht gut ging.

„…und sie mischen sich ein.
Sie wollen alle ein Teil,
und wenn nich', dann dass ich draufgeh'.“

Damals schloss er mit einem Freund eine Wette ab. Wenn er bis zum Jahresende 10.000 Abonnenten auf seinem Kanal habe, würde dieser ihm 50 Euro zahlen. Vier Wochen später hatte Sierra Kidd die Wette gewonnen. Aber damit nicht genug, der HipHop-Manager Hadi El Dor war einer der Abonnenten. Er schrieb Sierra Kidd an, bekam dessen Handynummer raus, rief ihn an und bot ihm aus dem Stegreif einen Vertrag an. „An dem Abend habe ich geweint, das weiß ich noch. Das ging mir dann später nochmal so, als Hadi mich zu Vega nach Frankfurt eingeladen hat. Ich habe die ganze Zeit nur gewartet, bis ich mal allein bin und irgendwann liege ich dann allein im Gästezimmer und fang richtig an loszuheulen. Aber so richtig, aus Dankbarkeit, Freude, Glück.“

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Für Sierra ist das vollkommen unwirklich. Ein Märchen. Alles geht so schnell, dass er gar nicht darüber nachdenkt, was gerade passiert. „Ich denke die ganze Zeit an die Zukunft, schaue immer voraus. So war es auch bei meinem ersten Solokonzert—seit ich aus dem Magnet Club raus bin, habe ich nicht mehr an diesen Gig gedacht, obwohl das eigentlich krass war.“ Stattdessen denkt er daran, was er beim nächsten Mal besser machen kann, wie er sich auf die Festivalsaison vorbereiten kann, auf die danach folgende Solo-Tour.

Der Profi

Beeindruckend, wie fokussiert und professionell dieser Junge sein Ding durchzieht. Genau wie die Produktion seines Albums, das am 4. Juli erscheint, Nirgendwer. „Ich arbeite so krass an diesem ganzen Projekt, weil ich unbedingt will, dass es funktioniert.“ Ich unterbreche: „Stresst dich das nicht, setzt du dich damit nicht unter Druck?“ Sierra Kidd stockt kurz, denkt nach. „Doch schon, aber ich habe immer noch Spaß dabei.“

Sierra wurde von Anfang an immer wieder mit Cro verglichen, was aber eher daher kommt, wie er zu Bekanntheit kam, als dass es musikalisch begründet wäre. Daher setzt sich nach und nach eher der Spitzname Anti-Cro durch. „Der Begriff Anti-Cro hat mir sehr gefallen, das mag ich.“ Ich frage, was ihm daran gefällt. „Dass ich rüberkomme wie der nachdenkliche Cro. Cro macht unfassbare Hits, das ist beeindruckend, aber du kannst nicht hinter den Song gucken, weil es kein hinter dem Song gibt. Für den Anti-Cro bedeutet das das Gegenteil, nämlich dass es mehr gibt.“

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Die Rache

Dieses mehr ist vor allem die Verarbeitung von Dingen, die Sierra Kidd in seinen jungen Jahren schon erlebt hat. Das erkennt man unweigerlich schon an dem Albumcover von Nirgendwer: Darauf ein Kindergarten-Gruppenfoto, auf dem von allen Kindern bis auf eins die Gesichter ausgekratzt und mit schlechten Monsterfratzen übermalt sind. Nur ein Junge mit Topfschnitt schaut deutlich erkennbar wenig glücklich nach links unten: der kleine Manuel aka Sierra Kidd. Schon damals wurde er von seinen Kameraden so sehr gemobbt, dass er nichts als Hass empfand. „Schon ein bisschen psycho“, lacht Sierra Kidd heute darüber, dass er als Kind die Gesichter übermalt hat. „Aber ich habe die gehasst. Ich habe alle gehasst, ich habe Menschen gehasst.“

Eine Geschichte, die sich in der Schulzeit nahtlos fortsetzte. „Ich war ein mieser Außenseiter, der Junge, der in der Ecke sitzt und es läuft einfach jemand grundlos an ihm vorbei und gibt ihm eine.“ So etwas hat Sierra Kidd immer wieder erlebt und natürlich hat es ihn geprägt. In Songs wie „Splittermeer“ verarbeitet er diese Erlebnisse, macht sie zum Thema. Offenbar erreicht er damit auch seine ehemaligen Folterer. „Es gibt viele Leute, die mich ansprechen, zu mir kommen und sich entschuldigen. Da muss ich wirklich meinen Respekt für aussprechen. Es gab aber auch andere Leute, die sagen: ‚Guck, du warst wirklich ein Spast damals‘. Da werde ich schon sauer.“

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Ich sitze diesem sympathischen, offenen, eloquenten Kerl gegenüber und frage mich, warum ausgerechnet er zu einem Hass-Objekt in seiner Schule wurde. „Ich war nie wie alle anderen und ich habe mich leicht provozieren lassen.“ Seine Familie war schon immer seine Achilles-Ferse. Sag nie etwas gegen seine Familie. „Ich bin mal sehr hart mit einer Lehrerin aneinander geraten, nachdem sie meine Familie beleidigt hat. Da habe ich mit einem Stuhl nach ihr geworfen. Das Krasse war, dass der Direktor unfassbar cool war. Ich habe ihm erzählt, was sie gesagt hat und er meinte nur: ‚Ist kein Problem, ich regel das.‘ Megakorrekt, der Typ.“

Das Gefühl, dass die meisten Lehrer sich nicht für ihn interessierten, nicht als Hilfe für ihn da waren, hatte er sehr häufig in seiner Schulzeit. Wenn er von Klassenkameraden verprügelt wurde, wenn er runtergemacht wurde. Heute ist er derjenige, der Fans hat. Heute ist er derjenige, der mit Raf im Studio sitzt, Chakuza, Vega und Prinz Pi kennengelernt hat, eine Wohnung in Berlin hat. „Ich genieße das schon krass. Das macht mich schon stolz. Aber ich würde denen das nie irgendwie zurückzahlen wollen. Das wäre das Schlimmste, was ich machen könnte. Ich will lieber, dass die daraus lernen und sowas nicht mehr machen.“

Team Fuck Sleep

Sierra Kidd ist das, was Marketing-Menschen und Soziologen als Digital Native bezeichnen, jemand der mit Social Media aufgewachsen ist und die Möglichkeiten besser nutzt, als sich das Mark Zuckerberg je hätte erträumen können. Als solcher hat er etwas geschafft, an dem große Werbe- und Social-Media-Agenturen sich immer wieder die Zähne ausbeißen: Er hat ein eigenes Hashtag etabliert, das inzwischen viel mehr Menschen benutzen als nur er: #TeamFuckSleep oder einfach #TFS. Als ich ihn auf diesen Clou anspreche. „Eigentlich müsste es TeamLoveNight heißen“, erklärt er, denn es gehe gar nicht darum, nicht zu schlafen, es geht darum, nicht nachts zu schlafen. „Ich liebe die Nacht. Diese Sonne jetzt gerade“, er zeigt auf das sonnige, heiße Kreuzberg um uns herum, „ist schrecklich. Ich hasse die Sonne.“ Ich kann es nicht glauben, froh, dass endlich der Sommer kommt. „Aber du kommst doch vom Meer, wie kann man am Meer aufwachsen und die Sonne hassen?“, frage ich. „Das Meer ist viel schöner in der Nacht“, antwortet Sierra Kidd.

Wer diesen Satz versteht, ihn vielleicht sogar nachvollziehen kann, wer schon mal lange, warme Nächte am rauschenden Meer verbracht hat und sich nichts weniger gewünscht hat als die aufgehende Sonne und die Touristen, die die Sonne immer mitbringt, der kann Sierra Kidd verstehen. Der wird seine Musik verstehen, seine Themen nachvollziehen, die Schönheit und die Melancholie spüren. Das ist Sierra Kidd: „Nachtblauer Himmel, und du sitzt am Strand auf einer Insel und schaust über das Meer…“

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Sierra Kidds Nirgendwer erscheint am 4. Juli bei Indipendenza / BMG. Bestellt euch die limitierte Box-Edition oder die MP3-Version.

Noisey präsentiert Sierra Kidd auf Tour, kauft euch hier Tickets.
02.Oktober Augsburg / Kantine
03.Oktober Basel / Sommercasino
04.Oktober Karlsruhe / Substage
05.Oktober Dresden / Scheune
09.Oktober Gießen / Jokus
10.Oktober Stuttgart / Keller Klub
11.Oktober Frankfurt/Main / Das Bett
12.Oktober Freiburg / Schmitz Katze
16.Oktober Bremen / Tower
17.Oktober Köln / Underground
18.Oktober Hannover / Musikzentrum
23.Oktober Kassel / Nachthallen
24.Oktober Innsbruck / Weekender
25.Oktober Graz / PPC
26.Oktober Wien / B 72
30.Oktober Münster / Skaters Palace
31.Oktober Hamburg / Logo
01.Oktober Kiel / Orange Club

Folgt Ayke bei Twitter: @suethoff

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