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Wir waren auf der YouTuber-Tour und haben Liont beim „Rappen“ zugeschaut

Über 4000 Kinder haben sich in Wien die Seele aus dem Leib geschrien, um die seelenlose Performance ihrer Idole zu würdigen.

Ich habe gestern live beim Weltuntergang zugesehen und gleichzeitig war ich mitten im 21. Jahrhundert. Wer bislang gedacht hat, unsere Jugend wäre dank gewalttätiger Action-Zeichentrick-Serien und Anime versaut worden, kann jetzt beruhigt aufatmen. Wir sind toll. Schon alleine deshalb, weil weder Pokémon noch die Teletubbies eine Tour durch ganz Deutschland, Schweiz und Österreich gemacht haben, um dann im ausverkauften Wiener Gasometer vor mir auf der Bühne zu stehen.

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Auf Facebook hatte die Veranstaltung 222 Zusagen—etwas wenig für das Wort „ausverkauft”. Was ich nicht bedacht habe: Die Fans dürfen wahrscheinlich noch kein Facebook haben. Angekündigt waren Stars wie „LiontTV“, „Dagibee“, „Apecrime“, „Simon Desue“, „Die Außenseiter“ und so weiter. Bei den meisten, die angekündigt waren, wusste ich nicht, was sie eigentlich genau machen. Meine Neugierde war dementsprechend groß, was diese zwanzig Menschen in meinem Alter den über 4000 Besuchern präsentieren würden.

Schon von weitem hörte ich kreischende Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren und das verzweifelte Schweigen ihrer Eltern. Als ich die Halle betrat, war die Show schon in vollem Gange: Simon Desue fragte aufgeregt alle drei Sekunden, „ob Wien noch Lust hat“—hier ein Video von der Soundkulisse, die sich eine Stunde lang durchgezogen hat:

Dieses Video beschreibt ganz gut, was da passiert ist: Es wurden Sachen in die Menge geschmissen, Kram verlost und die Kinder wurden im Abstand von einer Minute immer wieder zum Kreischen animiert. Nachdem Simon Desue unterschriebene Shirts in die Menge geschmissen hat und die Kinder aufgehört haben, Tinitus-erzeugendes Geschrei von sich zu geben, hat er Dagibee angekündigt. Das laute Gekreische und komplette Prozedere ging von vorne los. Das war die Show. Es war faszinierend und zugleich auch widerlich, wie wenig man heutzutage können muss, um sehr viel Geld zu verdienen. Einer der YouTuber hat es anscheinend sogar geschafft, Playback zu sprechen. Nicht singen, sprechen. Immer wieder kam Dagibee mit einem Honiglächeln rausgehüpft, um die nächsten Stars anzusagen. Als endlich Musik angekündigt wurde, ist Dagibees „Schatzi“ (sprich: Liont) rausgekommen und hat einen Song über sein Doppelkinn gesungen. Der Track hat es sogar in die iTunes-Charts und die allmorgendliche Playlist von so manchem Radiosender geschafft. Ein Song. Über ein Doppelkinn. Von einem YouTuber. Mh.

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Gebrochene, taube Eltern auf der Seite.

Verständlicherweise kollabierten jetzt ein paar Kinder und wurden von Sanitätern rausgetragen. Verdammt, Tokio Hotel hat das wenigstens noch durch ein richtiges Konzert geschafft! In Nähe der Bar standen gebrochene Eltern mit einem Bier in der Hand und Ohropax in den Ohren. Ich habe mich mit einem Paar unterhalten—der Vater schon angesoffen, die Mutter tapfer nüchtern. Sie schauten mich nur resigniert an, als ich sie fragte, wie sie das 21. Jahrhundert so fänden. Der Vater meinte bedrückt: „Najo, zumindest sans kinderfreundlich und schimpfen ned.”

Davon abgesehen, dass sie die ganze Zeit wirklich, wirklich laut rumschrien, hatte auch jedes Kind sein Smartphone draußen. Es wurde sogar zum Smartphone-Gebrauch aufgerufen. Irgendwann hieß es, dass man doch den Blitz anmachen solle. Feuerzeugromantik geht anders.

Smartphone-Blitzlicht-Getrauer

Als letzte Aktion haben Dagibee und der andere gesagt: „Die Stadt, die am lautesten abgeht, kommt in unsere Tour-DVD, also jetzt geht bald Musik los und ihr müsst springen. Versteht ihr?“ Sogar das wurde für das Video gefaked. Noch bevor es hieß, dass man jetzt seine Stars treffen kann, habe ich panisch den Ausgang gesucht. Ein paar Kinder sind ganz schnell zum Merchandise-Stand gelaufen und haben sich Pullis mit einer Dagibee-Aufschrift gekauft. Ich musste mich zuhause eine Stunde duschen, um das zu verarbeiten. Außerdem habe ich verschiedenste Verhütungsmethoden nachrecherchiert. Sicher ist sicher.

Fredi ist noch nicht bei YouTube, aber bei Twitter: @schla_wienerin.

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