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Wie „German Whip” Grime zu einem unerwarteten Comeback verhilft

„Das ist die Geschwindigkeit in der mein Herz schlägt—140 BPM.”

Das Telefon klingelt und ich nehme ab. „Hallo?”—Pause—„Hier ist Mr. Blacked Out Windows Leaning Back.”

Du kannst Meridian Dan quasi durch den Hörer grinsen hören und es ist offensichtlich, warum. Der Track „German Whip” des Londoner MCs ist der größte Grime-Hit seit Jahren—eine authentische Hymne, die sich rasant nach Oben gearbeitet hat und keine Anzeichen von Ermüdung zeigt. Die lyrische Huldigung des Abhängens hinter abgedunkelten Fenstern von Premiumschlitten wurde bei den Londoner Radiostationen 1Xtra und Rinse rauf und runter gespielt, Zane Lowes arbeitet am Two Inch Punch-Remix und das Video hat auf Youtube die Millionenmarke inzwischen locker geknackt. Ende Januar wurde bekanntgegeben, dass Meridian Dan bei PMR unterschrieben hat. Das Label von Disclosure und Jessie Ware wird die Single dann am 31. März offiziell veröffentlichen.

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Ich frage ihn, ob er sich zu irgendeinem Zeitpunkt bewusst war, wie groß „German Whip” wird. „Ich hatte dieses Radiointerview mit Charlie Sloth,” erklärt Dan, „und er sagte zu mir ‚Das ist ein Hammer Song!’ Ich dachte bis dahin immer, dass die Leute nur nett zu mir sein wollten. Das hat meine kühnsten Erwartungen bei Weitem übertroffen.”

Die ganze Sache mit „German Whip” ist deshalb so eine Überraschung, weil der Song das Potential hat, ein riesiger Erfolg im Underground und im Mainstream zu werden. PMRs Geschichte ist gepflastert mit Charterfolgen und Meridian Dan hofft jetzt auf einen Top 40 Einstieg für „German Whip” und das kommende Album I Am London.

In das Mainstreampotential von Grime wurde schon einmal viel Hoffnung gesteckt und für eine gewisse Zeit sah es auch so aus, als ob dieses Potential erfüllt werden würde. Dizzee Rascals hoch gelobtes Debut Boy In Da Corner landete auf Platz 23 und der Nachfolger Showtime stieg sogar auf Platz 8 in den Charts ein. Aber selbst in Zeiten des Durchbruchs hatte Grime ein angespanntes Verhältnis zum Mainstream. Lethal Bizzles „Pow! (Forward)” brachte es zu einer beeindruckenden Nummer 11 in den Charts, aber führte auch zu einer kleinen moralischen Krise. Der Track verursachte Ausschreitungen in Clubs und wurde von fast so vielen Radiostationen verbannt wie er gespielt wurde. Manche sagen sogar, dass der Song mit ein Grund für die Einführung der Form 696 war, ein Werkzeug der Polizei zur Risikoeinschätzung, die es von den Veranstaltern verlangte, die Ethnizitäten der erwarteten Gäste anzugeben, und die letztendlich dafür sorgte, dass Grime aus den Clubs verschwand.

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Schon bald fing die Welle der Hits an, abzuflauen. Tracks wie Tempa Ts „Next Hype” wurden zwar richtige Underground-Hymnen, aber nichts davon berührte mehr den Mainstream. Mitte der 2000er erreichte Grime seinen kommerziellen Höhepunkt. Was ist also in der Zwischenzeit passiert?

Die Antwort, die auf der Hand liegt, ist die, dass die Pioniere von damals Grime den Rücken gekehrt haben. Dizzee ist inzwischen einer der größten Popstars Großbritanniens, aber die Chancen, dass er ein weiteres Boy In Da Corner abliefert, gehen gleich null. Stattdessen macht er sich gerade ein schönes Leben damit, über seinen Urlaub zu rappen und mit Leuten wie Armand Van Helden zusammenzuarbeiten. Wiley, der schon mit unterschiedlichsten Labels Techtelmechtel eingegangen war, hat mit seinem neunten Album und seinem ersten für Warner, The Ascent, einige beträchtliche Charterfolge feiern können—darunter drei Top Ten Singles, inklusive „Heatwave” seiner ersten Nummer eins. Allerdings ist The Ascent eine astreine Popscheibe und hat nicht mehr viel mit Grime zu tun. Man merkt ihm buchstäblich an, wie sehr es sich den Charterwartungen eines Majorlabels gebeugt hat, und so wurde daraus, obwohl die kommerziellen Ziele erfüllt wurden, kein wirklich gutes Album. Anscheinend ist Wiley selber mit Warner unzufrieden. Er drohte im April letzten Jahres damit, das Label zu verlassen.

Tatsächlich sind die Vorstöße vieler Grime-Künstler in charttauglichere Gefilde gescheitert. Dizzee lieferte sich einiges an verbalem Ausfall gegenüber Radio 1 für den in seinen Augen mangelhaften Support seines neusten Werkes durch den Sender—und genau dieses Album, das so offensichtlich auf einen Erfolg in den USA schielte, bekam vernichtende Kritiken und war ein vergleichbarer Flop. Thinchy Stryders Third Strike machte es gerade so in die Top 50. Allzu häufig haben Grime-Künstler sich von Grime abgewandt, nur um herauszufinden, dass die Charts sie immer noch nicht wollten.

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Aber vielleicht macht man es sich mit dieser Erklärung auch zu einfach. Dizzee steht zum Beispiel immer noch für die erfolgreichste Unterwanderung anderer Genres durch Grime. Obwohl man seine Musik nicht mehr als solchen bezeichnen kann, repräsentiert Dizzee auf eine gewisse Art noch Grime. Als er 2012 bei der olympischen Eröffnungsfeier in einer Baseball Jacke mit dem „E3” Aufdruck—der Postleitzahl von Bow, einem Stadtteil im Osten Londons, dem Geburtsort von Grime—auftrat, repräsentierte er auch immer noch etwas von den Spirit seiner musikalischen Wurzeln. Der Chef von Rinse FMs Grime Show, Spyro, mahnt davor, die erste Grime-Welle in Vergessenheit geraten zu lassen. „Es gibt Leute, die als Grime-Pioniere angesehen werden, die aber keine große Medienpräsenz haben und sich nicht jede Woche im Radio um Kopf und Kragen reden—die aber trotzdem ungemein zur Szene beitragen. Jammer macht die Lord Of The Mics-Seite; Cheeky und Wiley veranstalten die Eskimo Dance Partys. Die Leute von früher machen immer noch einiges für die Szene.”

Spyro glaubt aber auch, dass das kommerzielle Potential von Grime vor allem durch den Inhalt der Texte eingeschränkt wird. Er sagt, „manchmal sind die Sachen, über die die MCs rappen, einfach zu … Es wird ihnen jetzt nicht persönlich zur Last gelegt, aber es ist dann schon ein Grund, für die Leute zu sagen ‚OK, das wollen wir nicht.’ Die MCs rappen halt über das, was sie durchgemacht haben. Manche davon sind Lügner, manche erzählen die Wahrheit. Aber der Grund, warum so viele Menschen dagegen sind, sind die Themen, die sie behandeln.” Es hat sich aber inzwischen unter einigen Grime-Künstlern herumgesprochen, dass sie sich etwas zügeln müssen, wenn sie erfolgreicher werden wollen. Dies hat zu einigen extrem widersprüchlichen Abweichungen zwischen Image und Umsetzung geführt. Eine der offensichtlisten und bizarrsten Auswüchse davon erschien 2010 mit der Veröffentlichung von „The Phone Call” des selbsternannten ‚London City Warlord’ Riko Dan. In dem Video geht es um eine Schießerei mit Riko, der in fast allen Einstellungen mit einer Knarre rumfuchtelt. Das Ganze endet dann aber mit Anti-Cannabis und Anti-Waffengewalt Aufrufen von Trident, der kontroversen Anti-Gang Einheit der Londoner Polizei.

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Die entscheidendste Änderung im Post-Chart-Grime lässt sich aber an der Musik selber sehen. Dazu wieder Spyro: „Wenn du damals an Grime gedacht hast, dachtest du nur an die MCs, nicht die Producer oder die DJs. Es drehte sich alles um die MCs.” In letzter Zeit hat sich das Blatt jedoch gewendet. Der MC gibt nicht mehr so sehr den Ton an, ein Großteil der jüngsten Grime Veröffentlichung ist rein instrumental.

Diese neue Welle (vielleicht Grimes dritte?) hilft der Szene, wieder Kurs auf einen kreativen Höhepunkt zu nehmen. Simon Hiscocks leitet Oil Gang—ein Label, das sich auf diesen neuen instrumentalen Grime spezialisiert hat—und ist Mitveranstalter von Boxed, einer Londoner Partyreihe, die ebenfalls nur diese Richtung bedient. Wie auch Spyro ist Hiscocks eine Veränderung im Ton der MCs aufgefallen. „Als ich auf Grime stieß, ging es den Leuten immer nur darum die besten Bars abzuliefern—die Bars, die einen Rewind bekommen; die Bars, die alle abfeiern. Mir hat das damals wirklich gefallen, aber die Lyrics fingen an, immer komplizierter zu werden. Das war dann irgendwann nicht mehr mein Ding.” Hiscocks war schon während der ersten Welle von der rein instrumentalen Seite Grimes angezogen. „Alle lieben diese alten Sachen, als die Instrumentals einfach nur Wahnsinn waren—die ganzen Youngstar Tunes. Meine persönlichen Favoriten kamen dann etwas später mit so Sachen wie D Darks ‚Mission Riddim’. Diese Instrumentals haben mich wirklich angefixt.”

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Oil Gang hat inzwischen acht Platten rausgebracht und den Sound der neusten Grime-Welle entscheidend mitgeprägt. Ihre dritte Veröffentlichung kam von Darq E Freaker, dessen Cherryade EP bislang der größte Erfolg des Labels ist. Der Londoner Produzent, dessen Track „Trojan” das Highlight auf Grime 2.0, Ninja Tunes Szenequerschnitt, war, ist außerdem verantwortlich für Tempa Ts „Next Hype”. Inzwischen hat er Produktionsgefälligkeiten für Danny Brown übernommen. Das Video für „Blueberry”, eine ihrer Kollaborationen, ist das perfekte Amalgam aus Detroit-Hausparty-Hedonismus und Grime-Verweisen. Es macht ausgiebigen Gebrauch von Außenaufnahmen des Trellic Towers—eines ehemaligen sozialen Wohnungsbaus, der sich aber inzwischen zu einer exklusiven Wohnadresse entwickelt hat—und führt vor, welch fruchtbare Inspiration das Genre weiterhin für internationale Künstler bereithält.

Von den ganzen vorherrschenden Trends neuen instrumentalen Grimes stechen zwei besonders hervor. Einer davon, zu dem auch Dark E Freaker zählt, greift sich die futuristischen Aspekte, die Grime innewohnen, und dreht noch einmal ordentlich an der Zeitmaschine. So entstehen ungekannte Klangwelten, die sich anhören wie die Bauten von Richard Rogers (Lloyds und Centre Pompidou) aussehen. Der andere Trend kann mehr als eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gesehen werden. Entweder sind es körperlose Vocals aus alten, schlecht aufgenommenen Radiobattles, die in komplett neuen Formen zusammengesetzt werden—wie auf Wens großartiger Commotion EP—oder eine direkte Hommage an die alten Grime-Klassiker, wie auf Mr. Mitchs Downtempo Peace Dubs-Remix-EP.

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Es kommt aber auch vor, dass sich diese beiden Strömungen treffen. Letzte Woche spielten Future Brown—eine Art amerikanischer Supergroup mit vier DJs und Producern wie Fatima Al Qadiri und Nguzunguzu—ihr erste London-Show in Hackneys Oslo. Diese Gruppe verfolgt eine ähnliche Ästhetik wie das Night Slugs-Label, und ihre Musik scheint noch mehr die schwindelerregenden Höhen und drückenden Tiefen der Club Constructions-Reihe auszuloten, diese dann aber gleichzeitig in konventionelleren Songstrukturen zu komprimieren. Future Brown sind aber auch gut mit den alten Grime-Pionieren vernetzt: So arbeiteten sie mit Prince Rapid und Dirty Danger von Ruff Sqwad und Roachee von Roll Deep zusammen. Viele von Ruff Sqwad und ihren Verbündeten inklusive Riko Dan nahmen an der Londoner Show teil—und die Live-Kollaboration schien schon einen Vorgeschmack auf die weitere Entwicklung von Grime zu geben. Während Riko klassische Roll Deep-Bars über Future Browns Instrumentals schleuderte und Future Brown Ruff Sqwad-Beats zu rauen schnellen Freestyles abfeuerten, bekam man ein Gefühl davon, wie Grime der Vergangenheit und der Zukunft eine perfekte Synthese eingehen.

„Für mich ist das einfach nur Grime,” sagt Prince Rapid über Future Brown, „aber sie haben ihre eigene Art, genauso wie Ruff Sqwad ihren eigenen Sound haben.” Rapids kommende EP wird die erste auf dem neuen Ruff Sqwad Entertainment-Label sein. In seinen Soloarbeiten klingt er inzwischen wie ein ehrwürdiger Staatsmann, der die ganzen Texte über „Kämpfen und Klauen” hinter sich gelassen hat. Er sagt über seine künstlerische Vergangenheit, dass er über etwas rappen wollte, das zum Nachdenken anregt. „Wenn du dir viele alte Ruff Sqwad-Tracks anhörst, merkst du, dass ich auf der Straße war. Aber jetzt lebe ich ein anderes Leben. Ich unterrichte Jugendliche in Bow. Ich versuche mein Leben zu verbessern.” Zusammen mit Future Brown scheinen allerdings auch Ruff Sqwad und Riko die Weiterentwicklung von Grime mitzumachen—weg von den angepissten Straßen-Tunes, hin zu einer neuen Flut schillernder Produktionen.

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Der Einstieg von PMR bei „German Whip” könnte auch ein Zeichen dafür setzen, wie Mainstream-Labels in Zukunft mit Grime umgehen. Labelchef Ben Parmar sagt, dass Grime „beim Radio und in den Medien etwas aus der Mode gekommen ist. Es ist sehr schade,” führt er fort, „dass dem Ganzen in den Mainstream-Medien so ein negatives Bild anhaftet. Viele Künstler aus der Ecke mussten ihren kompletten Sound umkrempeln, um etwas kommerziellen Erfolg zu haben und davon leben zu können.” Jetzt ist Parmar aber optimistischer. Für ihn steht der Erfolg von „German Whip” symptomatisch für eine neue Musiklandschaft, in der Underground und Mainstream sich treffen—die gleiche Musiklandschaft in der PMR mit Disclosures „Latch” einen Welterfolg feiern konnten und dieselbe Musiklandschaft, die—so Parmar—jetzt empfänglicher für eine neue Art von Grime-Crossovern ist. Er sagt, „die Grenzen zwischen Underground Musik und kommerzieller Musik verschwimmen immer mehr. Wenn etwas gut ist und die Leute darauf abfahren, kannst du daraus auch einen kommerziellen Erfolg machen.”

Der Vertrag mit Dan zeigt einen möglichen nächsten Schritt im Umgang der Musikindustrie mit Grime. Vielleicht ist er die neue kommerzielle Hoffnung des Genres, aber Grime selber hat seinen Pioniergeist nie verloren. Sei es die erste, die zweite oder jetzt voraussichtlich die dritte Welle: Grime hat nie aufgehört zu existieren—mit der richtigen Chartplazierung für „German Whip” könnte sich Grime wieder zurück in das Popgedächtnis katapultieren. Diese Musik, die ihrer Zeit immer etwas voraus ist, könnte sich so mit all ihren avantgardistischen Auswüchsen wieder einen Platz im Mainstream sichern. Dan fasst es zusammen: „Das ist die Geschwindigkeit in der mein Herz schlägt—140 Bpm. Das ist meine Musik.”

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