Foto: imago | Karina Hessland
Vor zehn Jahren galt es noch als exotisch, mit einem stinkenden Festivalbändchen vor der Nase anderer Menschen rumzuwedeln und davon zu schwafeln, wie großartig doch dieses eine Wochenende damals war. Heute musst du schon sehr genau im Freundeskreis nach jemanden suchen, der sich noch nicht wenigstens einmal der spirituellen Reinigung eines Festivals hingegeben hat. Irgendwann waren wir doch jetzt alle schon mal Teil einer dieser campenden Massen, die zum Frühstück eine Dose warmes Bier öffnet, die guten Ravioli von Maggi löffelt und ungeduldig auf die Running Order schielt. Doch mal abgesehen davon, dass wir die gleichen Grundbedürfnisse haben, verhalten wir uns im autonomen Raum eines Festivals doch sehr unterschiedlich. Es folgt: Eine Typologie der Festival-Gänger.Schon auf der Autofahrt zum Festival hast du eine Flasche Bier und eine Flasche Billig-Vodka in deinen Händen, um die beiden wichtigsten und ehrlichsten Freunde deines Lebens direkt in deinem gierigen Schlund zu mixen. Becher sind doch eh was für Studenten und außerdem muss der Schnaps doch vernichtet werden. Auf dem Gelände herrscht schließlich Glasverbot und deswegen hast ja nicht umsonst—in einem Anflug berechtigter „Wenn sie mich kontrollieren, kann ich nicht genügend besoffen werden“-Paranoia—all die wohlgeformten Flaschen in Dosen gekippt. Kaum auf dem Zeltplatz packst du die Bierbong aus, genehmigst dir eine Ladung und schläfst ein. Zum Wachwerden natürlich erstmal ein weiterer Ritt mit der Bong und eine mit Vodka-getränkte Dose „5-Frucht Cocktail“. Dann endlich Bands anschauen gehen! Bewaffnet mit einem 1l Wein aus dem Tetrapack und einer 1,5l-Flasche Absinth-Sekt-Mische machst du dich auf den Weg, biegst aber zügig links ab. Dir ist jetzt doch mehr nach reden. Und trinken. Vielleicht auch besser so, denn selbst wenn du es zu den Bühen schaffen würdest, könntest du dich doch nur nach kurzer Zeit erschöpft hinlegen und eine der vielen Bierleichen sein, die hier regelmäßig von Jägermeister und Sangria angeschwemmt werden.Laut Plan öffnet 14 Uhr der Einlass zum Bühnengelände, also stehst du natürlich schon längst ungeduldig davor. Bevor der erste Act spielt, willst du noch fix den Merchstand durchchecken. Die letzten Wochen hast du, bewaffnet mit Textmarkern, auf der Runningordner bedächtig die Wichtigkeit der Acts markiert, dir jedes Album jeder einzelnen Band mehrmals angehört und hältst jetzt einen akribisch zusammengestellten Laufplan in den zittrigen Händen. Du weiß genau, wann du welche Bühne verlassen musst, um das Maximale an allen Konzerten rauszuholen. Denn nur so kannst du dir deine musikalische Dauerlatte erhalten. Über deine dumpf saufenden Freunde, die lieber auf dem Zeltplatz vegetieren, schnaufst du nur verächtlich. Die können ja nicht mal mehr die Setlist des Samstagsheadliners vom letzten Jahr runterbeten, geschweige denn, das Luftgitarrensolo des dritten Songs spielen.Du findest eigentlich alles kacke: Sonne, Regen, ungeduschte Menschen, schales Bier, schlechten Sound, Besoffene, und überhaupt: Festivals ganz allgemein. Da bist du trotzdem jedes Jahr wieder. Warum? Wahrscheinlich, um dich zu beschweren und um den Rest der Menschheit mit deiner schlechten Laune anzufucken. Man kann es dir nicht recht machen und dein Lieblingssatz ist: „Früher war alles besser.“ Wenn du das hier liest: Bleib diesen Sommer einfach zuhause.Musik interessiert dich eigentlich gar nicht? Dreckiger, unbequemer Sex ist genau dein Ding? Auch dann bist du auf einem Festival genau richtig. Während andere sich mit ihren Freunden vollaufen lassen, bist du auf der Jagd nach dem richtigen Sexualpartner für die Nacht. Während der Headliner das Gelände zum Jubeln bringt, bist du schon längst im Zelt verschwunden. Im besten Fall passiert dir das gleiche Freitag, Samstag und Sonntag. Leider müssen wir dich an dieser Stelle enttäuschen: Das alles ist nur deinem feuchten Traum von vorletzter Nacht entsprungen. In Wahrheit pennst du am Ende trotz aller Mühen besoffen und einsam ein. Sorry.Du weißt schon, der Typ, der mitten im Publikum steht, zu faul ist, pissen zu gehen und deshalb einfach seinen Schwanz rausholt, um die Hacken seines Vordermanns einzuölen. Der Assi halt. Der Typ, der für 20 Euro eine mit Kot bestrichene Brötchenhälfte isst, in dem aufgeblasenen Minipool baden geht, in den die Zelt-Nachbarn schon zwei Tage lang reingepisst haben oder sich selbst ins Gesicht strullt. Der an den Waschrinnen steht, um sich seine vollgeschissene Hose auszuwaschen, in den halbvollen Sangria-Becher pisst, dessen Herrchen daneben gerade seinen Rausch ausschläft, seine haarigen Eier auf die Theke legt, um damit bezahlen zu wollen oder dir heimlich Vodka in die Bierbong kippt. So einen Assi gibt es schließlich in jedem Zeltkreis.Während deine Freunde Dosenweise Bier leeren und achtlos von sich wegwerfen, reißt du eine weitere riesige blaue Mülltüte von der Rolle ab und beginnst mit leuchtenden Augen, die nach Bier stinkenden Schätze einzusammeln. Hier liegt das Geld wirklich auf dem Rasen. Deshalb gehst du auch nicht schwankend über den Zeltplatz, um mit offenem Mund entgegenkommende Menschen anzustarren, sondern hast die Augen immer konzentriert auf den Boden gerichtet. Deine Sensoren sind auf die Hartplastik-Becher eingestellt, die mindestens so viel wert sind, wie acht normale Dosen! Am Ende des Festivals sammelst du dann all die Becher ein, die du in einem Anfall angemessener Paranoia in deinem Zelt versteckt hast, stapelst sie stolz auf die Theke der nächsten Bierbude und ignorierst den verabscheuenden Blick des Barkeepers. Kann dir aber herzlich egal sein, du hast nämlich nicht nur das Geld für das Ticket wieder eingenommen, sondern auch jegliche Essenskäufe auf dem Festival. Hach, Pfand.Auf ein Festival zu gehen, bedeutet für dich wochenlange akribische Vorbereitung. Da geht es nicht nur um das Zelt-Equipment, die richtige Kleidung und das passende Essbesteck. Viel wichtiger ist das zentrale Thema eines Festivals: die Musik. Also organisierst du die dickste Anlage, die du finden kannst, und fährst extra drei Tage vor Festivalstart auf den Zeltplatz, um das ganze hochprofessionelle Equipment aufzubauen. Ironisch laut aufgedrehten Eurodance mag doch jeder Festivalgänger, wenn er auf dem Zeltplatz ist, oder? Also beschallst du von Tag 0 bis zur letzten Stunde deinen kompletten Campingbereich mit deiner liebevoll vorbereiteten Playlist (die höchstens aus 8 Liedern besteht) und sorgst für die richtige Stimmung. Dass keiner mit dir redet und alle nur blöd schauen, liegt natürlich in erster Linie am Neid und nicht etwa daran, dass der einstimmende Technosound eigentlich ein nervtötender Schlaf- und Stimmungskiller ist. Leider triffst du die Campingnachbarn nie auf dem Festivalgelände, damit sie dir zum Dank ein Bier ausgeben können. Denn du musst wegen der teuren Anlage 24/7 dein Zelt bewachen. Aber darum geht es doch beim Festival: die Liebe zur Musik.Noch vor dem ersten Bier beklagst du die schlechte Internet-Verbindung auf dem Festivalgelände. Zum Glück hast du aber eine Presse-Akkreditierung, natürlich schreibst du für irgendeinen unrelevanten Blog, weshalb du die Hälfte des Tages am Pressezelt rumhängst, wo das Wlan so halb funktioniert. Die so verplemperte Zeit nutzt du, um aufmerksamkeitsheischende Tweets abzuschicken. Während deine Freunde tanzen und juchzen, fotografierst du für Instagram tanzende Menschen und schreibst dazu, wie geil du dich gerade fühlst. Dein Lieblings-Hashtag ist Kreisch, nur kreischen tust du nie. Du musst ja noch eben deine Freunde auf Facebook markieren. Und während am nächsten Morgen der Rest der Festival-Welt schläft oder mit seiner neuesten Festival-Bekanntschaft nach einem Ort sucht, an dem man ungestört Sex haben kann, sitzt du neben der einzigen Steckdose auf dem ganzen Gelände, weil du auf deine Hosentaschen-große, bessere Hälfte aufpassen musst. Ach, da haben sich zwei gefunden.Der spannende Teil des Festivals beginnt für dich erst dann, wenn die Sonne wieder scheint. Die Auftritte der Headliner sind für dich eher lästiges Beiwerk, während du dich für die DJs danach „in Form“ bringst. Will heißen: Du konsumierst jede Droge, die man dir vor die Nase hält, damit du morgens um sechs auch wirklich abgehen kannst wie damals die Katze von Nachbar Schmidt, nachdem sie einmal in dein sorglos liegengelassenes Speed reingedippt hatte. Ins Zelt verkriechst du dich erst am späten Nachmittag. Am Montagmorgen sitzt du um 9 wieder brav am Schreibtisch.Tagsüber schwitzt du dank der erbarmungslos brennenden Sonne, wirst von aufwirbelndem Staub umschmeichelt, nimmst ein Bad im Schlamm, tanzt am Abend mit viel Körperkontakt in einer wilden Meute und schläfst noch mit einer Aftershow-Bekanntschaft. Duschen? Kostet übertriebene 2€. Lieber wiederholst du den Tagesablauf (der letzte Teil wird seltsamerweise mit jedem Abend schwieriger) und fühlst dich pudelwohl in deiner dritten Haut. Das gehört schließlich zu so einem Festival dazu.Jeder kennt ihn, jeder verachtet ihn. Gerade hast du dich mit deinen Freunden in den zufrieden-apathischen Zustand irgendwo zwischen beseeltem Vollrausch und übermüdeter Erschöpfung eingepegelt, kommt ein wildfremder Typ in euren Kreis gestolpert und fragt gutgelaunt: „Yeah! Was geht bei euch? Ich bin der Peter! Habt ihr ein Bier?“ Leider wird dein Kreis ihm kein monotones „Nein. Verpiss dich.“ entgegnen. Denn es gibt immer einen von euch, der nachsichtig lächelt, unter seinen Campingstuhl greift und ihm tatsächlich eine lauwarme Dose reicht. Jetzt macht es sich Peter bequem, öffnet grinsend die Dose, stößt mit jedem einzelnen an, erzählt dumme Geschichten und macht noch dümmere Witze. Währenddessen umklammerst du dein Bier noch ein wenig fester und kippst bedächtig Vodka in die kleine Öffnung.Ja, du kennst die Typen hier oben alle, überhaupt hast du alles schon gesehen, was jemals auf einem Open Air passiert ist. Du stehst bei jedem Konzert leicht seitlich rechts am zweiten Wellenbrecher, weil du in 120 Jahren Festivalerfahrung herausgefunden hast, dass hier die beste Sicht und der beste Sound sind—und der beste Ort, möglichst viele Festivalgänger mit deinen 700 Festival-Armbändchen anzuwedeln und mit den dazu passenden Geschichten zu beschallen. Ja, damals 1992, als Nirvana einen Gastauftritt bei den Stones an einer einsamen Waldbühne hatten, das war natürlich alles viel besser und nicht so kommerziell wie heute. Wenn alle um dich gedankenverloren nicken, bedeutet das übrigens, dass sie erstens Mitleid mit dir haben und zweitens verzweifelt nach einer Rettung aus dieser ausweglosen Situation suchen. Du kannst jetzt gerne deine Bändchen nutzen, um deine Tränen abzutrocknen.**Folgt Noisey bei Facebook und Twitter.
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