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Was Festivals in diesem Jahr unbedingt verändern müssen

Die Kommerzialisierung und Veranstaltungsflut der Festivals wird immer extremer, doch irgendwann wird die Blase platzen.
Ryan Bassil
London, GB

Das älteste Musikfestival der Welt, das Reading, war ursprünglich mal als Jazzfestival konzipiert worden, aber Alkohol und Nachfrage machten daraus ein zweifelhaftes Heiligtum für europäische Jugendliche, die es darauf abgesehen hatten, sich lästiger Gehirnzellen zu entledigen. 1961 ging es los und nun, 54 Jahre Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften später, hat der Vorverkauf für die diesjährige Ausgabe begonnen.

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Die Tage, in denen man auf einen weitläufigen Acker pilgert, um dort kübelweise verdünnten Fusel zu saufen, während einen The Transglobal Underground musikalisch beim Abstieg in ein pissedurchtränktes Wald- und Wiesen-Nirvana begleiten, sind längst gezählt. Heutzutage sind Festivals eine zahme, professionell vermarktete Interpretation einer Vergangenheit, die so eigentlich nie existiert hat—besucht vom schlimmsten Menschenschlag überhaupt. Das heißt jetzt nicht, dass sie komplett furchtbar sind—wie dir wohl jeder, der letzten Sommer in einem von einem Energydrink-Hersteller gesponserten Zelt eine gute Zeit hatte, bestätigen kann. Festivals sind und bleiben einfach eine der besten Zerstreuungen vom bitteren Ernst des Lebens. Es ist nur so, dass sie sich verändert haben und noch weiter verändern.

Um sicherzugehen, dass die Events 2016 nicht wie ein verwässerter Abklatsch enden, der aussieht, als hätte man einen dieser entsättigten Instagram-Filter drübergelegt, und klingt, als hätte Shazam das Line-Up kuratiert, müssen sich einige Dinge ändern.

Foto: Johannes Brugger

Am erschreckendsten war letztes Jahr wohl, dass es bei manchen Festivals um Leben oder Tod ging. Auch wenn viele Veranstaltungen harmloser und ordentlicher geworden sind, sind Drogen—und Todesfälle durch Drogen—häufiger denn je. Allein beim Bestival konnten letztes Jahr Drogen im Wert von 32.200 Euro sichergestellt werden und fast jedes Wochenende flatterten neue Meldungen über Zwischenfälle ins Haus—dabei wird klar, dass die Gesetzgebung in diesem Fall kaum jemanden zu kümmern scheint. Menschen werden wohl nie aufhören, sich dubiose Substanzen, die sie bei wildfremden Leuten erstanden haben, in ihre Körper zu jagen. Festivalveranstalter müssen sich endlich eingestehen, dass manche ihrer Gäste flüchtigen Bekanntschaften, deren Nummer sie unter „Karl Koks“ im Telefon abgespeichert haben, viel zu viel Vertrauen entgegenbringen.

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In der Dokumentation What’s in My Baggie vom letzten Jahr bekam man Einblicke in die Arbeit einer Gruppe, die auf amerikanischen Festivals die verschiedenen Pülverchen testet, die die Besucher mitgebracht haben. In der Mehrheit der Fälle entpuppte sich das vermeintliche MDMA als Badesalz und andere Drogen waren mit gefährlichen Substanzen wie Fentanyl gestreckt, einem potenten Opioid, das vor allem bei Krebsbehandlungen eingesetzt wird. In Europa und Großbritannien ist PMA/PMMA—eine Chemikalie, die wesentlich tödlicher ist als MDMA—verantwortlich für eine Reihe von Todesfällen. Letztendlich sind das Unfälle, die hätten vermieden werden können, wenn die Menschen gewusst hätten, was sie sich da einfahren.

Das alles ist nichts Neues. Wahrscheinlich hat schon jeder Drogennutzer irgendwann mal dubiose Anästhetika durch die Nase gezogen, aber wenn auf Festivals derartig viele Teenager (oft zum ersten Mal überhaupt) unbekannte Substanzen konsumieren, muss darauf von den Organisatoren verantwortungsvoll reagiert werden. Diese wissen sehr gut, dass sich nicht alle Besucher an dem Wochenende lediglich durch die verschiedenen Fressbuden probieren werden. Die Gruppe von What’s In My Baggie testet zwar die Drogen auf Festivals, riskiert damit aber auch immer ihren Rausschmiss aufgrund des sogenannten Rave-Acts: einer Gesetzgebung in den USA, die es Clubbesitzern und Veranstaltern verbietet, auf ihrem Gelände Drogen testen zu lassen. Dieses könnte der Logik der Gesetzgeber zufolge ja schließlich als Ermunterung zum Drogenkonsum wahrgenommen werden. Durch den Verkauf von Testkits würde man sich eingestehen, dass sich Drogen auf dem Gelände befinden und im Vorfeld nicht ausreichend präventive Maßnahmen durchgeführt worden waren. Maßnahmen zur Schadensbegrenzung werden aus unerfindlichen Gründen ungerne gesehen, obwohl damit Leben gerettet werden können. In Deutschland ist Drug-Checking nicht generell verboten, allerdings fehlen bis auf ungenaue Analysen durch Marquis-Reagenz-Tests und rein qualitative und kostspielige Untersuchungen durch Apotheken hierzu die Möglichkeiten—auf Festivals fehlt ein derartiges Angebot meist komplett. Hier braucht es definitiv mehr Drug Scouts, die sich um all diejenigen kümmern, die sich ihre Kiefer ausrenken wollen, ohne in den Abendnachrichten zu landen.

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Während manche kein Problem damit haben, ihre Drogen von dreckigen Utensilien zu ziehen, bevorzugen andere den Luxus sauberer und geräumiger Toiletten. Als die breite Öffentlichkeit um den Jahrtausendwechsel herum auf den Geschmack von Festivals kam, fingen die Veranstaltungen an, sich zu verändern. Die großen Brauereifirmen rollten an, lebensgefährliche Bands wurden durch die Killers ersetzt und große Konzerne machten aus Opiumhöhlen Waschstraßen für Menschen. Diese Entwicklung fand ihren bisherigen Höhepunkt mit der letztjährigen Ausgabe des Wireless Festivals—einer Veranstaltung, die uns zeigte, wie auf britischen Festivals die Unterhaltungsindustrie langsam die Musikindustrie verdrängt.

Wie mittlerweile auf vielen anderen Festivals gab es auch beim Wireless einen VIP-Bereich—ein exklusiv abgetrenntes Gehege, für das die besser betuchten Besucher Geld ausgeben konnten, um dann dort noch mehr Geld auszugeben—Cocktail-Pitcher gab es für schlappe 125 Euro. Die Abgeschiedenheit vom gemeinen Fußvolk hatte aber noch mehr zu bieten als eine höhere Prosecco-Bar-Dichte. So war den VIP-Gästen der Bereich direkt vor der Bühne zugedacht, was buchstäblich einen Keil zwischen beide Besuchergruppen trieb. Diejenigen mit weniger Taschengeld mussten dann mit dem hinteren Publikumsbereich vorlieb nehmen. Schlussendlich ist eine derartige Regelung die Antithese zu dem, was ein Musikfestival eigentlich darstellen sollte: Eine Veranstaltung, auf der alle gleich und gleichermaßen frei sein sollten.

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Das Wireless war ein ernüchternder Blick in eine Zukunft, in der Festivals von Firmen kontrolliert werden, die dir ansonsten Wellnesstage in Vier-Sterne-Hotels oder Ballonfahrten verkaufen. Anstatt sich darum zu kümmern, eine ähnlich tolle Atmosphäre wie die auf dem Glastonbury Festival zu schaffen, verlangte man vom Publikum einen Haufen Geld für eine halbgare Festival-Inszenierung und wollte dann auch noch, dass die Besucher per Social Media ihren daheimgebliebenen Freunden und Bekannten das furchtbare Konzept schmackhaft machen. Gegen etwas Werbung ist nichts einzuwenden, aber Veranstaltungen, die für Ungleichheit und Segregation unter den Besuchern sorgen, sollten in der Unterhaltungsbranche nur die obersten Ränge besetzen—auf Musikfestivals hat so etwas nichts zu suchen.

Foto: Robin Hirsch

Ganz klar, egal, ob bei der Sekt- und Zaubertroll-Frisuren-Crew vom Wireless oder den verstrahlten Gymnasiasten auf dem Reading, Festivals sind bei Menschen jedweder sozialen Schichtung angesagt, auch in Deutschland. Das Resultat davon ist eine Industrie, die momentan auf Hochtouren läuft und vielleicht kurz vor ihrem Zusammenbruch steht—in Deutschland allein gibt es momentan mehr als 350 Festivals, dazu kommen noch unzählige mehr in Europa und der restlichen Welt. Dieser Zustand hat schon öfter zu der Überlegung geführt, ob angesichts der Veranstaltungsflut die Blase bei den Sommerfestivals nicht bald platzen wird.

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Festivals sind eine äußerst lukrative Einnahmequelle für Künstler, da sich die Festival-Line-Ups auf der ganzen Welt allerdings aus den immer gleichen Acts zusammensetzen, geben die Booker immer mehr Geld aus, um sich Exklusivverträge zu sichern. Das wiederum führt zu höheren Ticketpreisen für die Fans—welche viele sich einfach nicht leisten können—und am Ende zu schlecht besuchten Festivals. Die Zahl der Events, die sich letztes Jahr aus dem Geschäft verabschieden mussten, ist weiter angestiegen und auch wenn einige von ihnen verständlicherweise noch in ihren kreativen Kinderschuhen stecken, muss 2016 eine größere Selektion im Festivalangebot stattfinden. Dann könnten die Line-Ups wieder abwechslungsreicher werden und die einzelnen Veranstaltungen ihr jeweiliges Publikum besser bedienen.

Da das in absehbarer Zeit allerdings nicht passieren wird, müssen in der Zwischenzeit die großen Festivals stärker daran arbeiten, ihr Publikum zu kultivieren und bei der Stange zu halten. Bei Festivals wie T in the Park wurde in einigen Bereichen schon daran gearbeitet, Glastonbury-ähnliche Areale zu erschaffen, aber solange das nicht vernünftig gemacht wird und über Auftritte von kleinwüchsigen Jongleuren hinausgeht, sollte das besser unterlassen werden. Noch mal zum Mitschreiben: Egal, ob die Veranstaltungsausrichtung der neuste heiße Scheiß oder dystopischer Spaß lautet, Festivals müssen ihren Fokus schärfen.

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Foto: Katrin Ingwersen

Musikfestivals gehören definitiv zu den schönen Dingen im Leben. Sie haben uns schon großartige Dinge beschert: Legendäre Auftritte von Nirvana bis hin zu Kanye West, unfassbare Storys (beim Leeds Festival 2009 steckte ein Mädchen, von da an Poo Girl genannt, kopfüber in einem Dixiklo fest und letzten Sommer bekam ich hautnah mit, wie jemand bei einem Clean Bandit-Auftritt gefingert wurde) und mehr als alles andere ein Gefühl ungeahnter Freiheit, dass fernab der grausamen Welt mit ihren ausgereizten Dispos und der verzweifelten Nahrungssuche in Lidls Reduziert-Box doch noch eine spirituelle Ausgeglichenheit erlangt werden kann—befeuert durch eine geteilte Vorliebe für Livemusik, Freundschaft und gutes Ecstasy.

Die Welt der Festivals ist in keinem schlechten Zustand, aber diejenigen, die das Sagen haben, müssen ihre Prioritäten vernünftig legen. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, was sie einem bieten und wofür sie stehen wollen. Passiert das nicht, dann haben wir es bald nur noch mit überteuerten und langweiligen Pseudofestivals zu tun, bei denen die einen Teenager ihr Geld verlieren und die anderen ihr Leben.

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