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Warum hassen die Leute Kendrick Lamars „i“ so sehr?

In gewisser Weise ist „i“ der größte Punk-Move, den Kendrick Lamar machen konnte. Kein Wunder, dass die meisten darauf nicht klarkommen.

Diese Woche hat Kendrick Lamar das Musikvideo für seine neueste Single „i“ veröffentlicht. Als der Song erschien, haben viele Fans entweder mit Achselzucken oder mit regelrechtem Zorn darauf reagiert. Oberflächlich gesehen scheint der Song nicht besonders angreifbar zu sein. Seine Message, dass es gut ist, sich selbst zu lieben, würde keine rational denkende Person bestreiten—du musst dich selbst lieben, um andere lieben zu können. Seine Melodie, die sich bei „That Lady“ von den Isley Brothers bedient hat und von einer Menge Session-Musikern wie etwa dem West-Coast Bass-Virtuosen Thundercat ausgearbeitet wurde, wurde direkt vom Mothership heruntergebeamt—dem musikalischen Raumschiff, von dem alle funky Sachen stammen. Im Musikvideo sieht man den Rapper bei einem albernen Tanz, den er vermutlich von seinem Großvater gelernt hat.

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Warum also hassen die Leute diesen Song?

Tja, das ist kompliziert. Kendrick Lamar bedeutet vielen Leuten sehr viel. In den letzten paar Jahren hat sich Lamar den Status als vielversprechendster junger Rapper erarbeitet, nicht nur durch seine Fähigkeiten am Mikro, sondern auch indem er unter seinen Fans den Optimismus verbreitet hat, dass sie den zukünftigen König des Rap hören. Er hatte die Fähigkeit, die moralische Ambiguität der Hood mit einem novellistischen Auge für Details einzufangen. Seine Songs waren gleichzeitig komplex und catchy. Er wusste wie man Spannung erzeugt, eine Geschichte aufrecht erhält, Dramatik entwickelt und dann alles mit einem guten Witz auflöst. Trotz des Mitwirkens von Dr. Dre hat er all dies getan, ohne seine Loyalität zum West-Coast-Underground zu verlieren, dem er entstammt. Er hat dabei das etwas abseitige klangliche Spektrum des HipHops bearbeitet, und war dabei so verdammt gut, dass die Leute einfach nicht anders konnten, als darauf aufmerksam zu werden. Nach der Veröffentlichung seines Meisterwerks good kid, m.A.A.d city wurde Kendrick von vielen dann als eine Art Rap-Jesus verehrt. Oder besser gesagt als der Luke Skywalker des Rap, der Balance in die Macht bringen und die Lücke zwischen Underground und Pop schließen konnte, wie nur wenige Künstler vor ihm.

Jeder Song, auf dem Kendrick nach diesem Album mitgewirkt hat, hat die Erwartung an das, was als nächstes kommen würde, nur noch gesteigert. „Fuckin’ Problems“ von A$AP Rocky hat bewiesen, dass er mühelos bei einer Party-Rap-Truppe mitmachen kann—obwohl Drake über die verdammten Beatles gerappt hat, ist die Zeile des Tracks, an die sich jeder erinnern kann, die von Kendrick, in der er lässig prahlt: „Girl, I’m Kendrick Lamar / a.k.a. Benz-Is-to-Me-Just-a-Car“. In Fredo Santanas „Jealous“ hat Lamar einen runzeligen Chicago Bluesman gespielt; vulgär, rhythmisch und deprimierend und zugleich inspirierend und übermütig.

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Und dann war da noch dieser berüchtigte „Control“-Track , auf dem eine Strophe von ihm zu hören war—beinahe drei Minuten ununterbrochenes Gift gegen seine Rap-Kollegen, auf denen er einen auf Kurupt macht und quasi das gesamte Rap-Game herausfordert (selbst Big Sean und Jay Electronica, mit denen er den verdammten Song zusammen gemacht hat). Seit den Tagen von T.I. vs. Ludacris hat ein Rapper nicht mehr so viel Dreistigkeit bewiesen. Zweihundert Sekunden damit zu verbringen, dich selbst in die Riege der Größten einzureihen, während du deine Mitstreiter vernichtest, ist wahrscheinlich das Aufmerksamkeitserregendste, was man überhaupt tun kann. Es ist fast schon so etwas wie musikalischer Clickbait. Und es hat Kendrick letztendlich sicher mehr Hype eingebracht, als wenn er sich einfach darauf konzentriert hätte, Musik von solcher Qualität zu machen, dass Kritiker und Fans ihn auf natürliche Weise zwischen Jay Z, Eminem und Nas eingereiht hätten. Andererseits lohnt es sich für den Erben manchmal auch, auf den Thron zu drängen—Lamar ist als MC zu geschickt und intensiv, um ignoriert zu werden, wenn er die Zähne fletscht und aggressiv wird.

Durch diese Strophe hat die Welt Kendrick Lamar zum „Best Rapper Alive" geweiht, mit Drake als einzigem Konkurrenten um die Krone des zeitgenössischen Rap. Könige des Rap bleiben aber nicht dadurch an der Macht, dass sie es sich mit ihren Anhängern bequem machen; sie erobern unerforschtes Gebiet und erschaffen etwas, das jeder genießen kann. Und Lamars sprichwörtlicher Einmarsch ins Feindesland ist wohl oder übel „i“.

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Oberflächlich betrachtet ist „i“ hell und sonnig und hat dieselbe Art von Mega-Refrains und Ohrwurm-Hooks wie Pharrells „Happy“, OutKasts „Hey Ya“ und Robin Thickes „Blurred Lines“, drei Songs, mit denen „i“ oft verglichen wird. Das kann natürlich so interpretiert werden, als würde Lamar seinen Fans den Rücken zudrehen und sich verkaufen—oder einfach als schlechter Song. Und falls du denkst, dass „i“ ein schlechter Song ist, dann gibt es wahrscheinlich nichts, was ich dir sagen kann, um dich vom Gegenteil zu überzeugen.

Trotzdem gibt es etwas dunkles, vielleicht verzweifeltes und gefährliches im Unterton von „i“. Vielleicht ist es die Art, mit der Lamar den Song in einer demütigen, blechernen Stimme beginnt und sich am Ende fast die Lunge aus dem Leib schreit. Vielleicht ist es das Video, in dem man Armut, Polizeieinsätze und Selbstmord sieht. Kendrick hängt aus dem Autofenster und sieht dabei aus wie der Joker in The Dark Knight. Er führt einen Marsch durch die Nachbarschaft an, vorbei an Polizisten, die einen schwarzen Mann festnehmen. Solche Bilder sind prägnant und wenn ich sie sehe, kann ich nicht anders, als an Ferguson, Missouri zu denken, und die tieferliegenden Wahrheiten, die diese Sache über die amerikanische Gesellschaft offenbart hat. „i“ existiert in einer Welt, in der schwarze Menschen kriminalisiert und schikaniert werden, aufgrund ihrer bloßen Erscheinung. HipHop wird für viele im konservativen, Fox News geprägten Amerika noch immer für etwas grundsätzlich boshaftes und etwas, dem man nicht vertrauen kann, gehalten.

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Umso bedeutender wird die Message dieses Song: Ich liebe mich selbst. Denn wenn du dein Leben lang schlechter behandelt wirst als andere, wenn dir immer wieder klargemacht wird, dass du nichts wert bist, wie solltest du da nicht an dir selbst zweifeln? Wie sollst du dich lieben, wenn dir die Gesellschaft zeigt, dass du kaum lebenswert und vor allem nicht liebenswert bist?

„i“ ist das Produkt von jemandem, der diese düstere Realität von Natur aus versteht. Wenn Lamar sagt: „it's a war outside and a bomb in the street / And a gun in the hood and a mob of police / And a rock on the corner and a line full of fiends“, dann heißt das mit anderen Worten, dass die Welt dir auf den Fersen ist, nur auf Grund dessen, wer du bist, wie du aussiehst und wo du lebst. Und dann ist das Stärkste und Mutigste, was du tun kannst, für dich selbst aufzustehen. In dieser Hinsicht beinhaltet „i“ die radikale positive Einstellung von „Jesus Walks“, gepaart mit der Pop-Sensibilität von „Touch the Sky“. Lamar hängt sich in dem Video nicht aus dem Autofenster, weil er denkt es würde cool aussehen; es dient als Erinnerung daran, dass du nicht zum Schweigen gebracht werden solltest, nur weil dich jemand anders automatisch als Bedrohung sieht. In derselben Weise wie Lamar den Anti-Alkohol-Song „Swimming Pools“ als Party-Song verkauft hat, verdreht, politisiert und unterwandert er mit „i“ Wohlfühl-Pop.

In einem Interview mit FADER hat Lamar über die schwachen Reaktionen zu dem Song gesagt: „Das ist großartig. Ich würde es hassen zu stagnieren. Ich würde es hassen, wenn du sagen würdest, es gibt kein Wachstum. Du sollst innovativ sein und nicht nur dich selbst, sondern auch deine Hörer herausfordern… Als Künstler sollte dir niemand diktieren, was du tun sollst, du solltest es einfach tun.“ Das ist ein Argument. „i“ ist nicht wirklich Kendrick, der Pop macht. Es gibt eine Million andere Dinge, die er hätte machen können und die einen legitimen zynischen Pop-Crossover-Schritt bedeutet hätten. Er hätte sich einen Beat von DJ Mustard bauen, sich von Max Martin eine Hook schreiben lassen können oder sich mit der ihn ebenfalls bewundernden Taylor Swift zusammen tun können, um etwas zu machen, das sein Mitwirken bei Imagine Dragons’ „Radioactive“-Remix wie eine Company Flow B-Seite hätte aussehen lassen. Aber das hat er nicht. Kendrick Lamar hat all die Underground- und Overground-Credibility, die er haben kann, und er hat es trotzdem geschafft, das Letzte zu machen, das man von ihm erwartet hätte. Er hat einen Song über schwarze Selbstliebe gemacht, bei dem er eine der beliebtesten schwarzen Bands aller Zeiten gesampelt hat. Dies hat er soweit beschönigt, dass die Leute es gehasst haben, was seinen Standpunkt fast schon festigt. In gewisser Weise ist „i“ der größte Punk-Move, den er machen konnte. Er hätte das machen können, was Rap-Fans von ihm erwarten und das Rap-Game durch angriffslustige Raps und gerechten Zorn erobern können, aber das wäre vorhersehbar gewesen. Und wer möchte das? Bestimmt nicht Kendrick und bestimmt auch ich nicht.

Drew Millard ist Redakteur bei Noisey. Folgt ihm bei Twitter.

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