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Turbonegro sind so was von zurück

Warum waren die letzten Jahre nur so unglaublich langweilig? Ach ja, Turbonegro haben gefehlt.

Falls du in den letzten Jahren diese Leere in dir gespürt hast, falls du dich fragtest, warum alles irgendwie so grau, so harmlos und so langweilig ist, dann hat das einen wirklich einfachen, noch nicht mal rezeptpflichtigen Grund. Turbonegro haben gefehlt. Die gute Nachricht ist: Turbonegro sind zurück. Die Nachricht, die mancherorts für Irritation sorgte ist: Turbonegro haben einen neuen Sänger. Die Nachricht wiederum, mit der wir nach eingehender Prüfung des neuen Albums, nach kritischer Einschätzung ihrer aktuellen Live-Show und nach dem gleich folgenden, knallharten Interview, jeden Anflug eines Zweifels in den Schlund ewiger Darkness schieben, ist: dieser Tony Sylvester (ex-Dukes of Nothing) treibt Turbonegro zu einer Hochform an, in der man sie seit mindestens zehn Jahren nicht erlebt hat. Wir trafen Tony und Happy Tom in Oslo in dem Hotelzimmer, in dem auch nicht unwesentliche Teile des neuen Albums Sexual Harassment entstanden sind.

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Noisey: Wie geht’s? Schon genervt von den Interviews?
Tony: Neeeeiin, niemals.
Tom: Die Medien … wir hassen sie.

Perfekte Voraussetzungen. Na dann los. Wie oft würdet ihr schätzen, habt ihr bislang jemanden sagen hören, Turbonegro ist einfach nicht dasselbe ohne Hank.
Tony: Nicht so oft, wie wir ursprünglich dachten. Das nimmt jetzt erst zu. Ich erkläre dir, warum. Die Hardcore-Fans, oder Early Adopters, wie wir sie nennen, sind vor allem Fans der Band an sich und waren froh, dass die Band wieder zurück ist. Jetzt gibt’s mehr Leute, die sich beschweren, weil sie entweder erst mit dem Hype zur Band gekommen sind oder weil sie einfach keine Veränderungen mögen. Es ist ganz witzig, ich verfolge das ja ein bisschen im Internet und es passiert immer noch recht häufig, dass Leute sagen: ’Moment mal, sie haben einen neuen Sänger?’ Und ich lebe ja nun schon seit einem Jahr damit und für mich ist es mittlerweile normal. Und es werden jetzt noch mehr kritische Stimmen kommen, wenn die Leute die neuen Songs zum ersten Mal hören.
Tom: Andererseits gibt es aber auch Leute, die zunächst skeptisch waren und es nun mögen, nachdem sie es zum ersten Mal gehört haben.
Tony: Der Idealfall wäre es, und das hatten wir damals auch besprochen, wenn wir 50% Zustimmung und 50% Ablehnung bekommen. Aber so war es am Anfang echt nicht, da gab es fast ausschließlich positives Feedback. Das lässt jetzt wieder nach, weil es logischerweise Leute gibt, die meine Stimme nicht mögen. Aber so ist das nun mal.

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Ich selber war erstaunt, wie schnell man sich daran gewöhnt.
Tony: Es ist natürlich von Vorteil, dass wir ein ziemlich starkes Album aufgenommen haben, ein sehr charakteristisches Album. Und es ist von Vorteil, dass wir ein Album aufgenommen haben, dass gut mit meiner Stimme funktioniert. Alles andere wäre ja auch ziemlich idiotisch.
Tom: Aber man kann schon sagen, dass unsere Fans sehr konservativ sind. Immer wenn wir ein Album rausbringen, kommen sie und beschweren sich: ‚Das neue Album ist scheiße. Das letzte war ganz gut.’ Zwei Jahre später dann: ‚Eigentlich war das letzte doch in Ordnung. Aber das neue – total Scheiße.’ So ist das immer. Und vor allem ihr Deutschen. Die bauen sich direkt vor dir auf, nur ein paar Zentimeter von deinem Gesicht entfernt und dann: ‚DAS NEUE ALBUM IST SCHEISSE!!! DAS LETZTE WAR BESSER!’

Was ist los mit den Deutschen?
Tom: Keine Ahnung, sie sind wohl sehr ehrlich.

Oder sie brauchen einfach ein bisschen mehr Zeit … Wie seid ihr eigentlich auf Tony gekommen?
Tony war vor einem Jahr in Oslo und ich fragte ihn: ‚Tony, eventuell spielen wir eine Turbo-Show in Hamburg. Wer könnte da die Vocals übernehmen?’ Die Idee war, verschiedene Leute verschiedene Songs singen zu lassen. Tony war ein guter Freund, hat vor 15 Jahren die Turbojugend London gegründet und kennt einfach viele Leute im Musikgeschäft. Und er kam mit einer Liste. Wir sind da auch ein bisschen durchgedreht, hatten Marc Almond drauf oder Udo Dirkschneider. Aber auch realistischere Sachen, Leute wie Mike Patton, Jello Biafra und so. Dann ein paar Tage später saß ich da so rum, tatsächlich habe ich mir gerade Pornos angesehen und mir einen runtergeholt, da ging mir ein Licht auf. Ich dachte: ‚FUCK! TONY!!!’
Tony: Ja, er steht total auf vintage Bikerporn und dann hat er da diesen bärtigen fetten Typ gesehen und musste natürlich sofort an mich denken.
Tom: Eigentlich waren es Seemänner. Aber egal. Jedenfalls dachten wir dann darüber nach, wie offensichtlich es doch eigentlich war, Tony an Bord zu holen. Tony ist halt ein typischer Hardcore-Sänger, kommt so aus der Ecke Jerry A. von Poison Idea, John Brannon von Negative Approach, aber unter dieser rauen Oberfläche hat er auch eine Menge Soul. Das war uns schon klar, weil wir seine Band Dukes Of Nothing kannten. Also gingen wir hin und sagten: ‚Was denkst du?’ Und er meinte: ‚Klar, ich will es unbedingt ausprobieren.’ Dann kam er vorbei, wir haben geprobt und schon nach ein paar Minuten habe ich nur zu Rune und Knut rübergeblickt und sie standen da mit Grinsen im Gesicht und ich dachte nur: ‚Fuck!’ Es klang verdammt großartig und mir war in dem Moment klar: ‚Wir sind verdammt noch mal zurück. Oh mein Gott, es geht los. Heilige Scheiße, wir sind wieder da.’ Und dann ging es an die Hamburg-Show und wir erwarteten echt einen Shitstorm. Also haben wir es einfach nur als unverbindliche Turbo-Party deklariert. Aber dann schon ab der ersten Minute war alles perfekt. Ich hab Leute heulen sehen, andere sind von der Empore gesprungen.
Tony: Ja, um zu fliehen, haha.
Tom: Und danach kam dann dieser Typ zu mir, ganz nah, wie gesagt, und sagt: ‚Ich habe deine Band 18 Mal gesehen. Und das war die beste Show von allen.’ Und ich so: ‚Alles klar.’
Tony: Ich dachte, er sagt so was wie: ‚Das war die sechzehntbeste Show, die ihr gespielt habt.’
Tom: Ja genau. Nein, es war die beste Show. Jedenfalls mochten es die Fans, also warum nicht einfach so weitermachen? Andere Bands haben auch schon ihre Sänger gewechselt. Auch der Vorsitzende der Turbojugend Oslo sagte neulich im norwegischen Fernsehen, dass sie einen neuen Sänger wollten. Hank war ein toller Frontmann, aber manchmal eben auch nicht. Es war mit ihm oft eine hit-or-miss-Situation. Aber eigentlich machen wir die Fans für das Comeback verantwortlich. Sie wollten es so. Wenn der nächste kommt und sagt: ‚DAS NEUE ALBUM IST SCHEISSE!’, dann sagen wir einfach: ‚Selber Schuld!’

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Aber Tony, man macht sich doch sicher ein paar Gedanken, wenn man zusagt, der neue Turbonegro-Sänger zu sein?
Tony: Pass auf, das ist so eine große Sache, dass ich mir das nur schrittweise bewusst gemacht habe. Es war eher so: ‚Wie wird diese Probe laufen?’, dann kam die Hamburg-Show und es ging darum, routiniert genug zu sein, um die Songs auf der Bühne zu präsentieren. Und dann ging es weiter mit neuen Songs. Also Songs, die Turbo-Klassiker sein könnten, aber eben auch dieses neue Line-up repräsentieren. Das ganze lief also in Etappen. Wenn ich mir überlegen würde, dass es eine ganz schön große Sache ist, dann kann man nur sagen: ‚Ja, es ist eine große Sache.’ Das hätte der Situation aber nicht gut getan. Deswegen habe ich einfach so getan als sei es keine große Sache und bin ganz gut damit gefahren. Und letztendlich ist es ja so: Es sind fünf Leute in einem Raum. Ok, fünf Leute mit einer zwanzigjährigen Bandgeschichte, aber dennoch fünf Leute in einem Raum. Und wenn es nicht so wäre, dass wir gern zusammen abhängen und wenn man es zu sehr durchdenken würde, dann hätte es auch nicht funktioniert.

Meine Vermutung war, dass es einem schon etwas Bauchschmerzen macht, einen so ikonischen, wiedererkennbaren Sänger zu ersetzen.
Tony: Total. Darüber haben wir auch geredet. Darum war auch die ursprüngliche Idee, gleichfalls ikonische Frontmänner wie Damien von Fucked Up oder Mike Patton oder Jello Biafra die Songs singen zu lassen. Das hätte aber nur ein Mal funktioniert, als Konzert für Bangladesh oder was auch immer.
Tom: Wohl eher als Konzert GEGEN Bangladesh, haha.
Tony: Genau. Aber wir haben festgestellt, die Tatsache, dass ich relativ unbekannt bin, ist eigentlich ein Vorteil, so können wir eher eine Art Neuanfang versuchen. Meine Stimme ist anders als die von Hank und ich bin charakterlich anders als er und ich denke, das ist der einzige Weg, wie es funktionieren kann. Alles andere wäre bescheuert. Turbo-Karaoke.
Tom: Und er bringt ja auch tolle neue Einflüsse mit ins Gesamtbild. Die Geschichte der britischen Hooligans, Vaudeville. Er ist so eine Art Mischung aus Jack the Ripper und Benny Hill.

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Ihr hattet ja dann noch diese andere Band The Germans.
Tom: Ja, das waren ich, Knut und Tommy, unser neuer Drummer und Nick Oliveri. Ein paar der Songs sind auf dem neuen Album. Wir hatten sie erst für Turbonegro geschrieben, Turbo ging dann den Bach runter. Dann haben wir sie für The Germans genommen und nun sind ein paar davon auf dem neuen Album gelandet. Aber mit Nick ist es auch nicht so einfach. Er ist plötzlich verschwunden und keiner wusste ein halbes Jahr lang, wo er ist. Aber jetzt sehen wir uns wieder, er ist ja zurück mit Kyuss.
Knut (aus der anderen Ecke des Raumes): Da ist er auch wieder raus.
Tom: Nick hat bei Kyuss wieder aufgehört? Mann, der Typ ist eine Naturgewalt. Er ist ein Tornado aus Fleisch. Wie auch immer. Mit Tony hat es sich einfach natürlich angefühlt, deswegen haben wir mit Turbonegro weitergemacht. Außerdem hat Hank nie Songs geschrieben. Und die Leute wussten ja immer, dass Turbonegro mehr ist als nur ein ikonischer Frontmann. Und jetzt haben wir ja einen neuen ikonischen Frontmann.
Tony: Klar war Hank ein Wahnsinnsgewinn für die optische Seite von Turbonegro. Aber gleichzeitig hattest du ja noch die anderen Jungs, die mindestens genau so wieder erkennbar waren.

Ja, so wie Comic-Charaktere.
Tony: Genau, wie ein Haufen von Superhelden. Die meisten Bands sind ja der Frontmann, der Leadgitarrist und dann noch ein paar andere. Turbo waren nie so. Das hat es auch etwas erleichtert, diesen Wechsel vorzunehmen.
Tom: Denk nur mal an den Bassisten von The Offspring. Mir wurde erzählt, er wollte in einem Supermarkt einkaufen und er kam nicht rein, weil sich die Türen nicht öffneten. (Gelächter) Die Türautomatik hat ihn einfach nicht erkannt. Howlin’ Pelle von The Hives hat mir diesen Witz erzählt, aber es ist einfach wahr. Sein Punkt war: Manche Leute in der Rockszene haben einfach kein Charisma. Und es sind einfach arme Schweine. Jeder kennt den Sänger und Gitarristen in Offspring, aber was ist mit dem Bassisten?

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In welchem Geisteszustand muss man sich befinden, um Turbo-Lyrics zu schreiben?
Tony: Betrunken und du musst dich in diesem Raum hier befinden.
Tom: Tony wohnt in genau diesem Raum, wenn er in Oslo ist. Hier in diesem Raum haben wir Vocaldemos aufgenommen. Und wir haben hier auch Texte geschrieben. „Hello Darkness“ haben wir hier geschrieben, „Nihilistic Army“, die Demos zu „Mister Sister“ sind hier entstanden, „Dude without a Face“ ebenfalls.
Tony: Da drüben stand ein Rechner mit Garage Band, ich hatte Kopfhörer auf und hab mir die Seele aus dem Leib geschrien.
Tom: Und hinterher musste ich das Display säubern, es war total vollgesabbert.
Tony: Es gab nur einen Text, den ich komplett unabhängig von der Band geschrieben habe, das war „Buried Alive“. Die meisten anderen Sachen basieren auf Ideen von Tom und Knut und wurden dann von uns gemeinsam ausgearbeitet. Und so werden wir auch weiter verfahren, das hat ganz gut funktioniert.

Um wen geht es in „Mister Sister“?
Tom: Da geht es um einen Transvestiten, der mit Hilfe chemischer Hilfsmittel eine Geschlechtsumwandlung vornimmt. Er macht das, weil ihm von einem TV-Produzenten versprochen wurde, dass er in eine Reality-Show kommt. Diese Show wird dann aber nicht produziert und der Typ ist irgendwo zwischen den Geschlechtern hängen geblieben.
Tony: Es geht aber noch weiter. Vordergründig wird ihm versprochen, dass er in die Show kommt, die Art und Weise, wie er verarscht wird, ist dann aber letztendlich die Reality-Show.
Tom: So wie in der Truman Show. Ich stehe total auf Reality-TV. Und da das jetzt schon so lange läuft, werden die Formate immer absurder, weil sich die Leute erwünscht verhalten. Und das macht es für mich noch interessanter. Es geht also darum, dass du dich zwischen den Geschlechtern befindest und darauf wartest, dass die Kameras zu laufen beginnen. Und dann gehst du in den Supermarkt und die Türen öffnen sich nicht.

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Ah, verstehe, in dem Song geht es um den Offspring-Bassisten!
Tom: Pssssshhh! Erzähl es nicht weiter. Aber gibt es nicht gerade einen Musiker, der sein Geschlecht wechselt?
Tony: Ja, der Sänger von Against Me! Interessanterweise hat Keith Caputo ja das gleiche gemacht, aber es hat irgendwie keinen interessiert. Er hat die letzte Life Of Agony Tour schon als Frau gespielt. Das finde ich viel interessanter als die Against Me!-Geschichte. Life Of Agony klingen ja viel mehr nach Macho-Hardcore-Band. Klar war er immer der kleine verletzte Junge, aber die Musik war schon sehr macho. Sie sind eine verdammte New York-Hardcore-Band. Aber davon abgesehen: Eine Geschlechtsumwandlung ist schon eine große Sache, wenn du ein normales Leben führst, in einer Bank arbeitest oder was auch immer. Du musst dich mit deinem sozialen Leben arrangieren. Aber wenn du der verdammte Sänger in einer Band bist?! Du veränderst ja nicht nur deine Optik und deine Stimme, du musst auch noch akzeptiert werden. Das ist echt mutig. Andererseits, wenn du dir vorstellst, dass ihre Texte immer von Angst und Problemen angetrieben wurden, worüber singen sie denn dann jetzt? ‚Ich bin total glücklich?’, haha.
Tom: Das ganze ging ja los mit Rob Halford. ‚Leute, ich hab euch was zu sagen. Ich bin schwul.’ Und jeder so: ‚Und, was ist die Neuigkeit? Gibt es ein neues Album?’ (Gelächter)

Lieferten dennoch solche Charaktere, Rob Halford oder Freddy Mercury die Anregung für das Homo-Image von Turbonegro?
Tony: Auf alle Fälle Freddy Mercury. Ich war und bin ein riesen Queen-Fan, das war eine der ersten Bands, auf die ich total abfuhr, als ich so elf, zwölf Jahre alt war. Und die Art und Weise wie Freddy mit seiner Sexualität umging und sie der Welt präsentierte war einfach unschlagbar. Was die Band angeht, ist aber eher diese rohe, subversive Art der Homosexualität entscheidend, dieses Straßending, eher Tom of Finnland und Lou Reed. Die Vibes hast du vor allem auf Ass Cobra.
Tom: Für uns war es einfach immer sehr interessant, dass es diese homoerotischen Tendenzen in Hardrock und Rock gab und die Leute das aber irgendwie nicht wahrhaben wollten. Und wir wollten da einfach noch etwas stärker auf die Knöpfe drücken. Wie gesagt: fünf Jungs in einem Raum, und die wenigsten davon haben obenrum etwas an. Das ist Rockmusik.

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Und ihr meint nicht, dass die Idee langsam durch ist?
Tom: Sie war schon zwei Minuten nachdem wir sie hatten durch.
Tony: Bei Turbo geht es oft darum, auf der Schneide des Messers der Belästigung zu tanzen, nicht nur für dich als Hörer, sondern auch für uns selbst. Ich glaube, dass die Band gerade deswegen so gut ist. Wir hatten es auch beim Schreiben dieser Platte so häufig, dass wir dachten: ‚Es so oder so zu machen wäre so offensichtlich und klischeehaft … also lass es uns machen!’ Es geht darum, diese Klischees auszureizen und diesen Effekt leichter peinlicher Berührung zu erreichen.
Tom: Es ist so als wärst du in einem Cartoon gefangen und du versuchst das Beste daraus zu machen. Es ist so was wie eine Mischung aus Satanismus und der Welt von Matt Groening. Die Macher der Simpsons stehen auch vor der Herausforderung, dass das Grundgerüst einfach fest steht und nicht verändert werden kann und sie trotzdem in jeder Staffel etwas Großartiges abliefern müssen. So ähnlich ist das bei uns auch.

Könntet ihr theoretisch mit noch einer anderen Image-Idee kommen, abseits von der Schwulensache? Gibt es noch etwas, das in der Szene so gut funktionieren könnte?
Tom: Naja, wir sind ja keine transgressiven hippen Künstler, die darüber philosophieren, ob es noch neue Wege künstlerischer Provokation gibt.
Tony: Es gibt nichts Peinlicheres als einen gescheiterten transgressiven Künstler. Ich war neulich auf der Abschlussveranstaltung einer Kunsthochschule und da stellten all diese Konzeptkünstler aus und ich konnte dort durchlaufen und sagen: Gilbert & George, Chris Burden, Cosey Fanni Tutti und so weiter. Also all dieses Zeug, das vierzig Jahre alt ist, wird heute noch als innovativ verkauft. Das Beste war aber diese Frau, die in dem berühmten Crass-Font „Gender Bender“ an die Wand gesprüht hat. Und ich dachte nur: ‚Um Himmels willen, erschieß dich doch bitte einfach. Du warst Jahre lang auf dieser Schule und das ist alles, was du zu bieten hast?’
Tom: Bei Turbo geht es letztendlich nicht darum, unbedingt die Regeln zu brechen, es geht darum, eine gute Zeit zu haben.
Tony: Aber vielleicht ist das Wechseln des Sängers ja der ultimative Tabubruch?

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Jetzt verstehe ich, das ganze Ding ist ein Kunstprojekt?
Tom: Genau, du befindest dich in einer Installation.
Tony: Ja, irgendwann werden wir das Geheimnis lüften. In Wahrheit bin ich Schauspieler und werde für all das bezahlt.

Und Hank ist dahinten im Badezimmer und kommt gleich raus?
Tom: Haha, genau. Tony war auf derselben Schauspielschule wie Daniel Radcliffe.

Wie akzeptiert seid ihr eigentlich in der gay-community? Habt ihr tatsächlich schwule Fans?
Tom: Interessieren die sich nicht ausschließlich für den Eurovision Song Contest?
Tony: Wir sind eher interessant für die Bear-Community.
Tom: Er ist ne große Bear-Ikone. Kennst du die Bear-Homos? Knut ist eher so ein midsize-Bear.
Tony: Ein Wolf.
Tom: Ach, das ist ein Wolf?
Tony: Ja, die weniger fetten mit Bart und grauen Haaren sind die Wölfe. Du bist ein Cub.

Bitte was?
Tony: Ein kleiner Bär. Vielleicht auch eine Kreuzung mit einem Otter. Aber um ehrlich zu sein, ich habe ein bisschen Aufmerksamkeit in der Szene. Ich hab ein paar Modeljobs gemacht.
Tom: Kennst du seine Burberry-Kampagne?

Ja, kenne ich.
Tony: Das Bob Mould in L.A. hat eine Bear-Night namens „Blow Off“ (Gelächter). Sie haben diese sehr auffälligen Flyer und der Typ, der sie designt, hat z.B. die Cover für American Nightmare und Give Up The Ghost gemacht. Er fragte mich, ob ich für die Flyer modeln könnte. Willst du es sehen? (sucht den Flyer in seinem iPhone)

Na dann gibst du der ganzen Schwulensache ja doch endlich etwas Substanz!
Tony: Da hast du’s. Ich fand es total lächerlich, dass wirklich Leute mit der Kritik kamen, dass das ganze gay-Ding jetzt wirklich zu ernst wird. Einfach weil ich tuntiger bin als die anderen in der Band. Das sagt schon viel aus über die Leute.

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Du arbeitest ja auch für GQ Style. Wenn du jetzt mal ein wenig von deiner Rolle als Turbo-Sänger löst, wie würdest du den Turbo-Style einschätzen und hättest du Verbesserungsvorschläge?
Tony: Ich schreibe da vor allem über Heritage-Kram, die Klassiker der Menswear, den Einfluss des Militärs, die Einflüsse des Kolonialismus. Also das Style-Grundgerüst von Turbonegro, das Denim- und Matrosending passt da schon sehr gut rein. Ich werde auf der Bühne klassische englische Tweed-Teile tragen und alte Tom of Finland artige Jeans und Marine-Klamotten.

In deinem Image findet man auch ein paar Einflüsse aus „Clockwork Orange“. Wie wichtig ist der Stoff oder Alex als Charakter für dich?
Tony: Sehr wichtig. Der Film ist wahrscheinlich etwas wichtiger als der literarische Stoff. Es geht ja vor allem darum, wie sich Großbritannien in der Zeit verändert hat. Es spielt in dieser Vorstellung einer Zukunft und ist dabei so extrem repräsentativ für die Siebziger. Der Soundtrack ist dafür das beste Beispiel. Es ist echt einer meiner Lieblingsfilme. Ironischerweise hattest du zeitgleich Alice Cooper, ohne dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hatte, aber beide benutzten dieses Make-up. Aber beide sind schon große Einflüsse für meine Optik. Man muss aber auch sagen, dass bereits englische Hooligans den Look übernommen hatten. Danach dann auch The Addicts und andere britische Oi!-Bands. Es war schon immer ein großer Einfluss in bestimmten Szenen.
Tom: Also sind wir nicht homosexuell oder metrosexuell, wir sind retrosexuell. Wir stehen auf alles, das mindestens dreißig Jahre alt ist.

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Tom, ich habe gehört, dass du das Angebot abgelehnt hast, in der Jury für das norwegische „Idol“ zu sitzen?
Tom: Das stimmt.

Warum das?
Tom: Naja, ich hatte zum einen keine Zeit und ich bin kein großer Fan der Show.

Aber ich dachte, du stehst auf Reality-Formate?
Tony: Ha, jetzt hat er dich!
Tom: Ich finde, das Potential an Talenten in Norwegen ist so mäßig … außerdem habe ich einen Vertrag mit einem anderen Sender und arbeite bereits für das Fernsehen. Also ich fragte sie, ob ich das „Idol“-Ding machen kann und sie sagten: ‚Wir würden dich das wahrscheinlich machen lassen, aber wir halten es für keine gute Idee.’
Tony: Also wolltest du es eigentlich machen und sie haben dich nicht gelassen. Ich schlag mich mal auf deine Seite.
Tom: Ach Mann, das ist doch langweilig. Du sitzt in einem Raum und hörst Leuten beim Singen zu. Wenn da nur bescheuerte Leute auftauchen würden, wäre es ok, aber die meisten sind zu normal.

Du könntest die Bescheuerten unterstützen und weiterlassen.
Tom: Dann würden das die anderen drei Juroren sabotieren. Du siehst, es hat keinen Sinn.

Was ist dieser andere Job, den du im Fernsehen machst?
Tom: Ich habe eine Talkshow. Es ist ein bisschen wie VICE-TV.

Wie war das eigentlich als Hank Scientology beigetreten ist? Hat er mit euch darüber geredet?
Tom: Wir hatten danach Scientologen mit auf Tour. Sie schwirrten ständig um Hank herum und haben sich um ihn gekümmert. Das ist seine Entscheidung. Wir wollen damit nichts zu tun haben. Es war interessant, diese Leute reden zu hören.

Warum?
Tom: Es ist eine sehr verquere Weltsicht. (der neue Drummer Tommy gesellt sich dazu)
Tommy: Ich habe damals als Drumtechniker für sie gearbeitet. Eines Abends habe ich die Drums eingerichtet und dann kam dieser Typ, der sich um Hank kümmerte. Erst saß er nur so rum wie die anderen Crew-Leute, aber dann begann er sich allen vorzustellen, sagte, dass er für Hank arbeiten würde. Und ich so: ‚Hey, schön, dich kennenzulernen.’ Und dann legte er los: ‚Ich würde gern wissen, was du in diesem und jenem Alter gemacht hast, welche Drogen du genommen hast, ob du eine Freundin hast, welcher Religion du angehörst und so weiter.’ Und er hat nicht aufgehört, irgendwelche Informationen aus uns herauszupressen, um zu checken, ob wir ein akzeptabler Umgang für Hank sind. Er wollte nicht, dass Hank mit Crew-Leuten abhängt, wenn sie nicht von ihm genehmigt wurden. So habe ich diesen neuen Lebensstil kennen gelernt.
Tom: Aber das ist jetzt schon eine Weile her und wir müssen uns zum Glück nicht mehr damit herumschlagen.
Tony: Tom weiß noch nicht, dass ich plane, meine absonderliche Weltsicht und meine Betreuer mit auf Tour zu bringen, haha.
Tom: Es ist einfach absurd, jemanden, der vom Sozialstaat gelebt hat, sagen zu hören: ‚Wenn du arm bist, ist das deine eigene Schuld. Es ist Karma oder kosmisch oder was auch immer.’ Und du denkst nur: ‚Sieh nur, wer da spricht.’ Das ganze Ding gibt es nur, um Millionären ein gutes Gefühl zu geben und ihr Arschlochverhalten zu legitimieren. Sie sind Gott näher als wir es sind. Ich kann nur sagen: ‚Alles klar, Religionsfreiheit. Knock yourself out!’

Ich finde übrigens, dass ihr auf dem neuen Album Material habt, das apokalyptischer ist als das meiste Material eurer apokalyptischen Trilogie.
Tony: Echt? Welche Songs? Das interessiert mich! Oder warte, lass uns später darüber reden, wenn wir betrunken sind.

Ich trinke leider nicht.
Tom: Echt, hast du es mal versucht? Es ist gut. Aber immerhin wärst du wahrscheinlich von dem Scientology-Typen approved worden.

Vielleicht bin ich ja selber Scientologe und schreibe für die Hubbard-Telegraph?
Tony: Oooh neeeeiiin!!! Haha, dann müssen wir das Interview jetzt leider beenden.

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Turbonegros Sexual Harassment ist bei Volcom Records erschienen.