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The Fat White Family sind fett, weiß und hässlich

Der dilettantisch hingerotzte und gerade deshalb so coole Garage-Sound des Sextett um Frontmann Lias Saoudi ist so unangepasst, dass einem fröstelt.

Alle Fotos: Chris Bethell

Was haben Is this it von den Strokes und Up The Bracket von den Libertines gemeinsam? Beide sind Debütplatten von Anfang des neuen Jahrtausends, richtig. Noch was? Beide Platten kamen musikgeschichtlich aus dem Nirvana. Je nachdem, ob einem der 60er-Heroin-Sound von The Velvet Underground geläufig war oder eben nicht, hatte man so unfassbar laszive Songs wie die von Julian Casablancas und Co. noch nie oder oder zumindest lange nicht mehr gehört. Ähnliches bei den Libertines—zu deutsch: die Wüstlinge, Freidenker—, die ihrem Bandnamen alle Ehre machten. Hier stand der 70er-Punk von The Clash und The Jam Pate. Im Jahr 2004 dann das Ende, leider nur das vorzeitige, von Pete Doherty und Carl Bârat. Und Startschuss für fast zehn Jahre immer langweiliger und belangloser werdende britische Gitarrenmusik.

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Das Debüt der Fat White Family trägt den bitterbösen Titel Champagne Holocaust, kam bereits Ende letzten Jahres raus. Hitverdächtigen ist alleine schon das Artwork: Ein abgemagerter Männerkörper mit Schweinekopf, auf dem Schweinekopf die besagte Champagnerflasche. Aus dem linken traurigen Schweineauge perlen zwei Tränen, um den Hals eine Kette mit Kreuz. Arme, stoppelige Beine und den bis zu den Knien baumelnden, beschnittenen Schwanz spreizt die „Kreatur“ von sich. In der linken Hand ein blutbefleckter Hammer, in der rechten eine blutbefleckte Sichel. Kunsthistoriker vortreten und analysieren bitte!

In erster Linie muss man das Artwork als eins verstehen: perfekte Provokation, kontrovers und polarisierend. Man liebt es oder man hasst es. Gleiches trifft auf die Band, ihre Selbstdarstellung in den Medien und nicht zuletzt ihre jetzt schon berühmtberüchtigten Live-Performances zu.

Philosophie: Möchte man alles oder fast alles richtig machen, so macht man eine Sache grundlegend falsch. Soll eine Sache tatsächlich grundlegend richtig werden, so muss man alles oder fast alles falsch machen. Man muss sich also entscheiden. Und wissen, dass Grundlegendes wichtiger ist als Oberflächliches—gerade wenn es um Kunst, wenn es um Musik geht. The Fat White Family haben sich entschieden. Alles oder fast alles falsch machen heißt im Falle des britischen Sextetts, musikalische Traditionen brutal zu zertrümmern—muss man sich erstmal trauen!—und sie dilettantisch neu zusammenzuschustern. Das Ergebnis ist ein raubeiniger Lo-Fi-Garage-Punk-Mix, der zwischen den Musik-Über-Nationen Großbritannien und Amerika hin- und herschaltet und dabei so abartig pervers-psychedelisch rüberkommt, dass einem kurz schlecht wird. Oder wie Sänger Lias Saoudi sagt: „Ich denke der Punkt bei Rock'n'Roll Musik als Kunstform ist, dass jeder daran teilhaben kann. Es ist so verdammt einfach—es sind nur zwei Noten.“

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Richtig schlecht (im positiven Sinne)—und dass entweder aus blankem Entsetzten oder berauschter Euphorie—wird einem spätestens dann, wenn man Fat White Family live erlebt. Wenn das Format Konzert ins Format absurde und letztendlich absurd-brilliante Kunst-Performance kippt. Wenn der halbnackte, stinkend-verschwitze Lias seine Songtexte wie ein Besessener ins Publikum brüllt und sich The Fat White Family in eine schweinisch grunzende Live-Bestie verwandelt. In solchen Momenten wird einem dann klar, wie sehr man sich auf den meisten Konzerten gelangweilt hat, weil alles perfekt war. Perfekt ist im Falle einer Fat White Family-Show höchstens das Unperfekte, der Mut zur prickelnden Hässlichkeit—Champagne Holocaust halt—oder das Negieren von gängigen Musikunterhaltunsmustern. Ihre Shows versprechen Adranelinschübe, dessen Herkunft—Angst, Ekel, Erregung—man nur schlecht lokalisieren kann. Und das hypnotisch-erhabene Gefühl, Teil von etwas Besonderem gewesen zu sein.

Architektonisch wird es niemals gelingen, das britische und das amerikanische Festland miteinander zu verbinden. Musikalisch schon—Fat White Family sind der beste Beweis dafür. Sie lassen die Aura des britischen 70er-Punk, von der sich die Libertines nährten, mit der verdrogten 60er-Garage-Psychedelik, an der sich die Strokes labten, verschwimmen. Und sie gehen in ihrem provozierenden, Borderline verdächtigem, Gestus noch ein ganzes Stück weiter. The Fat Whity Family sind musikalisch „krank“, so ein englische Musikmagazin. „Krank, nicht im Sinne von schräg oder überdreht, sondern im echten Wortsinne—dabei aber gleichzeitig brillant“. Kann man so nur unterschreiben. Punkt.

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