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Interviews

Wir haben mit den schottischen Typen gesprochen, die die Musikindustrie um 75.000 Pfund erleichtert haben

Weil niemand einem Rap-Duo aus der schottischen Provinz einen Plattenvertrag geben würde, haben Billy Boyd und Gavin Bain sich neu erfunden und als Silibil N’Brains die Musikindustrie verarscht.

Silibil N’Brains sollten das größte Rap-Duo seit Outkast werden. Zwei Kids aus Kalifornien, die es absolut draufhaben, dir ihren Nu-Metal-Flow entgegenzuspeien. Stell dir vor, The Offspring träfen Busted—Mittelfinger, unaufgeräumte Zimmer und Cargo Shorts wären das Ergebnis.

Nachdem sie um die ganze Welt getourt sind, wurden sie dabei beobachtet, wie sie eine Spelunke in East London zerlegten und anschließend von Sony unter Vertrag genommen wurden, 75.000-Pfund-Vorschuss und unbegrenzte Studiozeit inklusive. Das Label hielt sie für ein Signing von erster Priorität, war also davon überzeugt, das Debütalbum würde es auf Platz eins schaffen.

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Einziges Problem: Silibil N’Brains waren nicht die, für die sie sich ausgaben. Billy Boyd und Gavin Bain waren noch nie in ihrem Leben in Kalifornien. Die beiden sind zwei Jungs aus Dundee, die von der Stütze lebten, total verschuldet und wild entschlossen waren, die Musikindustrie mit ihrer eigenen Heuchelei zu schlagen.

Eine frühere Erfahrung im Rampenlicht hatte bei den beiden die nötige Verbitterung ausgelöst. Nach einer zwölfstündigen Fernbus-Odyssee zu einer Label-Audition in London wurden sie dort als „die rappenden Proclaimers“ verlacht. Sie fuhren also wieder heim, suchten sich eine Kleinstadt an der West Coast und beschlossen, dass sie der Welt künftig erzählen würden, sie hätten sich bei einem Rap-Battle in San Francisco kennengelernt. Mit ausgeklügelten Lügen, neuen Klamotten und perfektionierten Akzenten wurden sie zu Silibil N’Brains. Nach zwei Jahren voller ausgeschmückter Lügen wurden sie schließlich von Sony hofiert, feierten Partys mit Madonna, fuhren zu Popworld und bekamen Access-All-Areas-Pässe für die Brit Awards. Je mehr sie ihre Trottel-Alter-Egos mit Scheißegal-Haltung aufbauschten, desto begeisterter fraßen die Musikbosse die Maskerade, warfen ihnen jede Menge Geld vor und investierten damit in zwei Leute, die im Grunde die Musikindustrie verarschten.

Ihre schauspielerische Leistung und ihr Einsatz waren zeitweise wirklich bewundernswert. Schon morgens beim Aufwachen mussten sie sich ihrer Rolle entsprechend verhalten. Gegenüber ihrem Manager, gegenüber ihren Freunden, sogar gegenüber Leuten, mit denen sie ausgingen. Zu behaupten, dass sie schon seit Ewigkeiten mit D12 befreundet sind, war ein Bestandteil der ausgefeilten Lüge. Als sie die Gruppe dann aber bei einem Konzert in Brixton supporten sollten, befürchteten sie, dass sie jetzt total am Arsch wären. Boyd musste wohl oder übel zu Proof rübergehen, ihn umarmen und ihn fragen, wie es ihm geht. Zum Glück war Proof zu höflich, um ihn blöd stehen zu lassen.

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Irgendwann holten sie die Drogen, der Alkohol und die ganzen Lügen dann aber doch ein. Sie hörten auf, miteinander zu sprechen, wurden deprimiert und paranoid—und eines Tages stieg Billy einfach ins Auto, fuhr heim nach Dundee, und damit war die Sache vorbei.

Nachdem sie zehn Jahre kaum miteinander gesprochen hatten, sind Silibil N’ Brains jetzt zurück im Studio. Mit der Doku The Great Hip Hop Hoax wurde ihre Geschichte verfilmt.

Noisey: Ihr wurdet damals beim Vorspielen für Polydor als „the rapping Proclaimers“ bezeichnet. Wie sehr hat euch das mitgenommen?

Gavin: Wir dachten ursprünglich, dass wir nach London kommen und alle von uns überzeugen würden. Wir wollten es ihnen richtig besorgen. Ich glaube, auf der dreizehnstündigen Heimreise sprachen wir dann drei Worte miteinander. Wir haben an das geglaubt, was wir da erschaffen hatten, womit wir die letzten beiden Jahre unseres Lebens verbracht hatten, und sie haben uns nicht mal die Chance gegeben, ihnen zu zeigen, was wir können. Als sie hörten, dass wir aus Schottland kommen, haben sie bloß gelacht.

Billy: Wir waren naiv genug, um an sowas wie Talent zu glauben. Wir dachten, wenn du etwas drauf hast, stehen die alle Türen offen. Die Fahrt nach Hause war ein höllischer Albtraum. Wir haben eine ganze Weile nach der Sache nicht miteinander gesprochen.

Wessen Idee war es, euer reales Leben aufzugeben und zwei Rapper aus Kalifornien zu werden?

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Billy: Wir sind in diese Identitäten quasi reingefallen, als ein Resultat unseres Gefühlszustands. Wir entschieden, dass wir entweder komplett aufhören oder etwas total Verrücktes machen mussten.

Gavin: Der HipHop, den wir hörten, war amerikanisch, also ahmten wir beim Singen unter der Dusche den Akzent nach. Mit dem Akzent rappen war also kein Thema, und irgendwann fingen wir an, auch so zu sprechen. Uns wurde klar, dass wir nicht da hinfahren und mit diesem kalifornischen Akzent rappen konnten, aber wie zwei Landeier aus Dundee sprechen. Leute aus der Branche hätten das für ziemlich lächerlich gehalten. Also kamen wir zu dem Punkt, an dem es um alles oder nichts ging.

Wart ihr überrascht, wie schnell die Branche sich euch öffnete?

Billy: Wir wussten ja, dass wir es draufhatten, auch was das Schreiben angeht. Wir wussten, dass, würde sich ein Publikum mal die Zeit für uns nehmen, wir sie überzeugen würden. Aber auf Leute, die sagten „Oh wow, das ist wirklich gut, weil es Amerikanisch ist“ waren wir nicht vorbereitet. So kam es dazu, dass wir mit dem Schauspiel weitermachten: Wir wollten unsere Ehre zurück und die Musikindustrie ficken.

Gavin: In unseren Hinterköpfen hatten wir eine Ahnung, dass es so kommen würde. Ich erinnere mich daran, wie ich diese „Glaub an dein Talent“-Ratgeber gelesen habe. Diese Scheißbücher, die nur Lügen verbreiten. Wie soll jemand an sein Talent glauben, wenn er aus diesem Teil Schottlands kommt, über den sich alle lustig machen. Woran du wirklich glauben musst, was wir auf recht brutale Weise lernen mussten und was wir am Ende bloßgestellt haben, ist der Glaube der Industrie an Marketing. Wenn du nur irgendwie reinkommen und einen Plattenvertrag bekommen willst, brauchst du kein Talent, du brauchst nichts außer Know-How. Aber der Film zeigt, wie weit wir gegangen sind. Zwei Jahre in diesen Rollen? Das bedurfte Talent. Wir haben jeden überzeugt, dass wir die nächsten Eminems sein würden. Die Idee war, sie nach den Gesetzen des Marketings zu verarschen.

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Dieses Promotion-Video wurde in den frühen 00ern aufgenommen, als sie sich noch als kalifornische Rap-Stars ausgaben.

Ihr wurdet von Jonathan Shalit, der auch N-Dubz, Jamelia und Charlotte Church gesignt hat, unter Vertrag genommen. Ist er ein guter Typ?

Gavin: Shalit ist ein Arsch. Er ist absolut kein cooler Typ, und er war vermutlich in seinem ganzen Leben niemals cool. Aber für diese kurze Zeit, die er uns begleitet hat, war er cool. Er hat einen riesigen Aufwand betrieben, um sich auf die Kids einzulassen. Mit ein paar Sachen hat er sich angestellt, aber ansonsten war er ein guter Manager. Er hat für uns gekämpft. Er hat sich für uns mit Sony angelegt. Aber das größte Arschloch, das wir getroffen haben, war der Chef von Sony BMG, der seinen Finger immer auf dem ‚Karriere-Ende“-Knopf hatte. Als wir zum finalen Meeting mussten, hat er seine komplette Show abgezogen. Nannte uns „nicht überzeugend“, obwohl wir die ganze Musikindustrie für dumm verkauft hatten.

Billy: Das ist ihm wahrscheinlich peinlich. Wir waren diese idiotischen Typen, die es der Industrie richtig gezeigt haben. Wir haben alles gefilmt—Aufnahmesessions, Partys—und es vor allen anderen auf unsere Webseite gestellt. Inzwischen ist sowas Gang und Gäbe bei Bands. Uns hat damals niemand gesagt, dass wir das machen sollen, es kam von uns. Man hat uns gesagt: „So machen Menschen in der Musikindustrie das aber nicht“. Aber wir haben uns unsere eigene Fangemeinde aufgebaut. Ich wüsste zu gerne, was die jetzt denken. Ich glaube, Sony hat Angst vor dem Film.

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Was hat der Stress, Silibil N' Brains aufrechtzuhalten, mit euch gemacht?

Billy: Wir kamen ohne Jobs und mit Schulden nach London, und plötzlich hatten wir 75 Riesen auf dem Konto. Wir hatten eine unglaublich gute Zeit in London, aber der Stress, diese Rollen durchzuhalten, war eine schwere Last. Paranoia war ein großes Thema, das uns überall hin verfolgte. Wir hatten ununterbrochen Angst, aufzufliegen. Erst als wir aufhörten, wurde uns klar, dass niemand je einen Grund hatte, zu hinterfragen woher wir kommen. Aber wir haben uns diesen ganzen Stress angetan, indem wir uns gegenseitig fragten „Was, wenn wir erwischt werden? Was passiert dann?“

Gavin: Als das Geld kam, dachten wir nur noch: ‚Fuck, los geht’s‘. Wir gingen zu jedem Event, jeden Abend, eine Lüge hier, ein Bluff da. Wir wurden geradezu süchtig danach. Wir mussten zugängliche, lustige, ausgelassene Typen sein. Und wir wollten, dass einfach jeder mit uns feiern wollen würde. Uns wurde schnell klar, dass wir Leute um uns herum brauchten, die für uns waren, eher als Leute gegen uns. Aber wir waren 21-Jährige, wir wusste noch gar nicht, wer wir wirklich waren, und wir wurden bald abhängig von diesen Rollen, die so viel cooler waren als wir selbst. Der Plan war eigentlich, sich in die Musikindustrie einzuschleichen und dann die Wahrheit auszupacken. Aber wir fingen an, unser Ziel aus den Augen zu verlieren. Nach sechs Monaten, die wir diese Rollen gespielt und Erfolg gehabt hatten, fingen wir an zu vergessen, wer wir eigentlich waren. Wenn ich ein Bild meiner Eltern sah, dachte ich: „Ich bin nicht mehr ihr Sohn.“ Wir haben uns so viel Mühe gegeben, zu diesem abhängigen Charakteren zu werden, und am Ende wurden wir selbst abhängig.

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Weitere Infos über The Great Hip Hop Hoax gibt es auf http://hiphophoax.com. Am 6. September kommt der Film in die britischen Kinos, ein Starttermin für Deutschland steht noch nicht fest. Neben dem Film wird es in Kürze ein neues Album von Silibil N' Brains geben.

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