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Der Sexismus der Musikindustrie wird endlich angeprangert

Warum das aber erst der Anfang ist.

Vor ein paar Wochen hat die Musikjournalistin Jessica Hopper ihren beinahe 30.000 Twitter Followern eine einfache Frage gestellt: „Wann hattet ihr (in Musikindustrie, -journalismus, -szene) das erste Mal das Gefühl, dass ihr nichts zählt?“ Ich habe den Tweet zuerst nicht gesehen. Ich würde jetzt gerne sagen, dass der Grund dafür war, dass ich etwas über den Börsencrash in China oder die Waldbrände in Washington gelesen habe, große Nachrichten, die an diesem Tag wichtig waren. Oder besser noch, dass ich etwas offline gemacht habe, aber laut Instagram habe ich den Nachmittag damit verbracht, Videos von meinen Hunden zu machen, die sich verfolgen und dann zum Pinkeln anhalten. Ich habe Hoppers Tweet erst ein paar Tage später gesehen, nachdem die Huffington Post darüber berichtet und jemand den Artikel bei Facebook verlinkt hat. Die Überschrift lautete: „Das ist die Art von Mist, der du als Frau in der Musikindustrie begegnest."

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Ich bin eine Frau. Ich arbeite in der Musikindustrie. Ich bin viel Mist begegnet. Größtenteils habe ich die Erfahrung gemacht, dass niemand darüber sprechen darf, also war mein Interesse geweckt. Ich habe drauf geklickt.

@jesshopp working at a record store men ignore me & seek out other men to answer questions. Then they're referred back to me.

— Sam ♡'Rama (@samorama) 24. August 2015

OK, ja, das klingt vertraut.

@jesshopp Having people insinuate that I was sleeping with someone in order to get an internship at a record label (I wasn't).

— Jocelyn Brown (@clericalerror) 24. August 2015

Habe ich ebenfalls schon gesehen und erlebt.

@jesshopp Being asked to leave backstage (with my toddler in tow) because girlfriends weren't allowed. I was in the band.

— Caroline Brooks (@carobeelove) 26. August 2015

Oh je. Aber immer noch etwas, was ich erwartet hätte.

@jesshopp When a man I was interviewing said to me "I hope your writing is as good as your tits"

— rachel syme (@rachsyme) 25. August 2015

Und dann das von Meaghan Garvey, einer Kollegin von Hopper bei Pitchfork:

you know what? in 2015, i was actually raped over this shit. like, not a metaphor. i got invited to do a feature, & was raped.

— ZESTY DUDE (@meaghan_garvey) 24. August 2015

Garvey hat anschließend noch die Details geschildert, die sehr bestürzend sind und die ich hier auf ihren Wunsch nicht wiedergeben werde. Der Hinweis, dass ihre Geschichte nicht die einzige dieser Art war, sollte genügen. Es war, als hätte eine komplette Gemeinschaft unterdrückter Leute von dem Moment an, an dem sie zum ersten Mal unterdrückt wurde, ihren kollektiven Atem angehalten und nur darauf gewartet, dass jemand fragt: Wirst du regelmäßig auf unverschämte Weise belästigt? Und die Antwort war ein lautstarkes Ja.

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Auch wenn ich aufgrund der vermeintlichen Akzeptanz und der Häufigkeit der sexuellen Übergriffen, die beschrieben wurden, eine tiefe Wut gefühlt habe, überrascht hat mich keine der restlichen mehreren hunderten Antworten auf Hoppers Tweet. Ich habe in den letzten zehn Jahren, seit ich angefangen habe, als Musikjournalistin zu arbeiten, in dunklen Ecken von Bars von Zeit zu Zeit versucht, diese Unterhaltung mit anderen (meistens) weiblichen Journalistinnen und Leuten aus der Industrie zu führen. (Meistens) wurde darauf mit unangenehmer Stille, nervösem Rutschen auf dem Sitz und dem Ordern einer weiteren Runde reagiert. Niemand wollte darüber sprechen. Aber der tiefsitzende Sexismus hätte nicht offensichtlicher sein können. Er war eindeutig sichtbar, an der Menge an Frauen, die auf der Bühne zu sehen waren, in den Redaktionen der Magazine oder bei Labels.

Wenn du irgendwo als Frau im Kleid auftauchst, wird oft angenommen, dass du da bist, um die Band zu bedienen. Als ich einmal im Auftrag des NME unterwegs war, wurde ich von der Security gebeten, den Backstage zu verlassen, weil sich die Band auf das Interview mit dem Reporter des NME vorbereiten müsse. Ein anderes Mal hat der Chefredakteur eines großen Musikmagazins einem anwesenden Rockstar den einzig männlichen Praktikanten mit Namen vorgestellt, die anderen fünf weiblichen Praktikantinnen jedoch als „die anderen“ bezeichnet. Ich erinnere mich daran, mich merkwürdig erleichtert gefühlt zu haben, weil er es einfach geradeheraus ausgesprochen hatte. Im Sinne von: Ach ja, wir sind uns einig, wie die Dinge hier laufen: Frauen sind irgendwie alle gleich unwichtig und Männer sind Leute mit Namen.

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Ich habe einmal einen ganzen Essay für ELLE darüber geschrieben, wie ich von einem Magazin aufgrund meiner Kenntnisse der Rockszene in Manhattan angeheuert wurde und dann so umgestylt wurde, dass ich ihrer Meinung nach mehr wie eine Frau aussehe, die über Rockmusik in Manhattan berichtet. (Das beinhaltete rote Haare und einen Personal-Trainer). Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Geschäft sexistisch ist, und zwar eines, von dem ich den Eindruck hatte, dass wir es alle für uns behalten müssen, wenn wir in dem Bereich arbeiten wollen. Was mich an Hoppers Tweet überrascht hat, war nicht der Inhalt der Antworten, sondern die Entrüstung, die darin enthalten war und die sie hervorgerufen haben. Über die Tweets von Hopper und ihren Followern wurde überall berichtet, vom A.V. Club bis zum Guardian, wo mein Vater, Philosophieprofessor in Albuquerque, New Mexico, während seines morgendlichen Studiums der Fußballergebnisse darauf gestoßen ist.

Wenn du bei Google in diesen Tagen nach dem Wort „Frauen“ suchst, dann wird dich das überwiegend deprimieren. In Indien wurden vor Kurzem zwei Frauen von den Dorfältesten zu einer öffentlichen Vergewaltigung verurteilt, um sie für ein Verbrechen zu bestrafen, das ihr Bruder begannen hatte—der mit seiner verheirateten Liebhaberin einer höheren Kaste davon gelaufen war. In Saudi-Arabien dürfen Frauen endlich wählen, doch zumindest anfangs haben sich nur wenige registriert und es hat bei Gegnern für Aufregung gesorgt, die eine Kampagne gegen das neue Gesetz bei Twitter initiiert haben. Politiker in Großbritannien denken darüber nach, Zugteile nur für Frauen einzuführen, um mit sexueller Belästigung und Übergriffen im öffentlichen Nahverkehr fertig zu werden. Und The Pretenders-Sängerin Chrissie Hynde denkt, dass Mädchen in kurzen Röcken selbst schuld sind, wenn sie vergewaltigt werden.

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Und trotzdem, weißt du was?! Frauen in Saudi-Arabien können jetzt wählen! Sie dürfen nicht Autofahren und brauchen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds, um zu reisen oder zu arbeiten, aber es gibt jetzt den klitzekleinen Hoffnungsschimmer, dass sie dabei helfen können, Leute zu wählen, die das ändern würden. Die sogenannte „Rache-Vergewaltigung“ in Indien, Berichten zufolge keine seltene Praxis in einem Land, in dem es eine große Kluft zwischen dem formalen, demokratischen Rechtssystem und lokalen Autoritäten gibt, hat für einen solche Aufruhr gesorgt, dass die Männer, die dafür verantwortlich sind, womöglich bald festgenommen werden. Außerdem hat die Gulabi Gang in Indien—eine Gruppe von Frauen in pinken Saris, die 2007 gegründet wurde, um gegen Gewalt an Frauen anzukämpfen—mittlerweile angeblich 400.000 Mitglieder. Und wo wir gerade bei offenen Geheimnissen bezüglich Mist in der Musikindustrie sind: Chrissie Hynde hatte schon immer eine frauenfeindliche Ader. 1994 hat sie als Regel Nummer Eins für „Mädels in Rockbands“ folgendes genannt: „Jammere nicht darüber, dass du ein Mädchen bist, komm nicht mit Feminismus an oder beschwer dich über sexistische Diskriminierung. Wir wurden alle schon mal die Treppe runtergeschmissen und verarscht, aber niemand will eine jammernde Frau hören…“ Es ist also nicht so, als hätten wir hier einen besonders hellen Kopf verloren. Gleichzeitig hat die American Civil Liberties Union vor Kurzem dem Justizministerium näher gelegt, Hollywood-Studios auf unfaire Arbeitsbedingungen zu untersuchen, Frauen können in den USA bald zum ersten Mal bei den Navy Seals eintreten und 2016 haben wir vielleicht eine Frau als Präsidentin.

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Der mit Abstand entmutigendste Aspekt bezüglich sexueller Belästigung/Gender-Bias, dem ich als Frau im Musikgeschäft—und allgemein als weiblicher Mensch dieser Welt—begegnet bin, ist die Vorstellung, dass ich nicht darüber reden darf. Dass, um Miss Hynde zu zitieren, „niemand eine jammernde Frau hören will“. Dass es Gejammer ist, wenn ich mich darüber beschwere, bei Festivals begrapscht oder jedes Mal für einen Groupie gehalten zu werden, wenn ich mich Backstage aufhalte. Dass es Gejammer ist, wenn ich es anprangere, 2015 als Frau nur 78% vom Gehalt eines Mannes zu verdienen. Vor zehn Jahren haben Billy Cosbys (mutmaßliche) Opfer noch im Stillen gelitten, Dr. Dres Ex-Freundinnen haben geschwiegen und ich saß in den bereits genannten dunklen Bars und habe versucht, andere Leute davon zu überzeugen, dass unsere Branche—unsere Welt—ein Problem hat. Jetzt postet Jessica Hopper einen Tweet und daraufhin beginnt eine weltweite Diskussion. Es verändert sich etwas. Vor ein paar Wochen erst erschien bei THUMP Michelle Lhooqs Erörterung über die kraftvolle Rolle, die soziale Medien dabei spielen können, sexuelle Übergriffe im Nachtleben von New York aufzudecken. Vielleicht ist es ein Ausgleich für die ganzen Pornos, die bei Männern die Vorstellung haben entstehen lassen, dass Sex eine One-Man-Show mit ihnen in der Hauptrolle ist (lest ein wenig Anais Nin, Typen), aber wenn es darum geht, die Diskussion über Sexismus und Gender-Bias anzustoßen, ist das Internet eine gute Sache für Frauen. Worte sind natürlich keine Taten. Aber es ist möglich, dass wir auf diesen Moment der Geschichte als Wendepunkt zurückschauen, als den Moment, an dem Frauenfeindlichkeit in der Unterhaltungsindustrie und die Gewalt, die sie in unserer Gesellschaft hervorruft, öffentlich gemacht, untersucht und letztendlich abgelehnt wurde.

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Nimm zum Beispiel die Video Music Awards—das alljährliche, belustigende/schockierende Spektakel ist auch eine mikrokosmische Repräsentation der Identität unserer Popkultur und somit unserer Gesellschaft. Falls du das Drama vor der Show verpasst hast: Nicki Minaj hat die VMAs beschuldigt, die Videos von dünnen, weißen Frauen gegenüber denen von Frauen mit dunkler Haut und großem Hintern zu bevorzugen. Talyor Swift hat das als Spitze gegen sich aufgefasst (was es auch war) und Nicki beschuldigt, eine schlechte Feministin zu sein. „Ich habe dich immer geliebt und unterstützt. Es passt nicht zu dir, Frauen gegeneinander aufzubringen.“

Noch vor zehn Jahren tatest du gut daran, das Wort Feminismus nicht zu erwähnen, wenn du im Radio gespielt werden wolltest (was immer noch das größte Sprungbrett für Mainstream-Bands in den USA ist), aber in den letzten zwei Jahren sind Feminismus und Popkultur unzertrennlich geworden. Zumindest in Hollywood. Sieh dir Patricia Arquettes Rede bei den Oscars nochmal an, in der sie Gleichheit bei Bezahlung und auch sonst einfordert, inklusive euphorischen Reaktionen von JLo und Meryl Streep. Oder lies dir durch, wie George Clooney darüber spricht, dass der Vorteil des Hackerangriffs auf Sony war, dass dadurch Geschlechterungleichheiten in Hollywood öffentlich gemacht wurden. Aber auch in der Musik. Immer öfter geben Popstars der Bewegung eine Stimme. Alleine in den letzten Wochen haben Grimes, Anna Calvi und Lauren Mayberry von Chvrches über Sexismus, dem sie als Frauen in der Musik begegnet sind, gesprochen. Feminismus ist zu einem Hashtag für die coolen Kids geworden und das ist, wenn auch auf kleine, aber wichtige Weise, ein #Fortschritt.

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