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Irgendwann wird Sean Nicholas Savage einen richtig guten Kitsch-Song aufnehmen

„Ups, jetzt hätte ich dich fast geküsst.“—Wir haben einen nicht mehr ganz nüchternen Sean Nicholas Savage getroffen.

„Ups, jetzt hätte ich dich fast geküsst.“ Die blasse Gestalt wankt einen Schritt zurück, grinst, ein paar noch blassere Zähne zum Vorschein bringend. Ungewöhnlich blass für diesen Lebensstil. Seans Ausschnitt ist tief, er trägt ein Sakko und einen rotblonden Moustache. Es ist Hochsommer. Um uns herum, in der Wohnung, läuft eine Party, zu der sich eine Art Berliner Szene eingefunden hat. Musik gibt es von den Acts des neuen Labels Mansions and Millions, Fenster und einigen anderen, die wie Sean heute in einem der vollgestandenen Zimmer auftreten werden. Der Kanadier dachte allerdings, er würde früher spielen. Jetzt ist er also schon gut dabei. Früher hat er mal kurz in dieser Neuköllner WG gewohnt, mehr oder weniger. Und seit er das erste Mal in einer Mischung aus Pyjama und Trainingsanzug vor mir stand, frage ich mich, wie er das macht.

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Damals, irgendwann vor drei Jahren, ist Sean Nicholas Savage auf irgend so einem Theater- oder Lyriktreffen aufgetreten. Nur eine Handvoll Leute lümmelte auf der kleinen Tribüne, vor der sich der dürre Sean mit strahlenden Grinsen und Gitarre vor der Brust positioniert hatte. Und dann sang er, mit der Inbrunst einer Whitney Houston zu Bodyguard-Zeiten, dem lässigen Groove eines 80er-Serienstars, der eine heimliche Affäre mit Arthur Russell hatte, und, nunja, in fast schon schmerzlich hoher, beinahe komisch verzerrter Tonlage. Klar, dass so jemand von der Liebe erzählt, von triefendem Flirt, dem Schmerz, dem Fallenlassen und dem Abhandenkommens des Verstands. Seans Sicherungen waren glaubhaft durchgebrannt und mir fallen nur wenige Sängerinnen und Sänger ein, bei denen das Herz derart grell in Flammen steht wie bei ihm. Gleichzeitg war er ganz Verführer, wenn auch ein unwahrscheinlicher—ein wahrer modern lover.

Flamingo, sein—wenn ich mich nicht verzählt habe, und das ist bei der leicht unübersichtlichen Ausgangslage möglich—achtes Album, war einige Monate zuvor erschienen. Jetzt legt er mit Other Death sein Elftes vor. „Ich möchte den einen, richtig guten, kitschigen Song aufnehmen. So etwas wie ‚Don't Speak‘ von No Doubt“, sagt Sean. Wir sitzen in einer Neuköllner Kneipe, die noch genauso aussieht und das gleiche Klientel zieht, wie zu jenen Zeiten, als noch keine Junggesellinnenabschiede trunken die Tische der zahllosen Weserstraßen-Bars umschmissen. Ein einsamer Renter, der hier jeden Tag ist, wird uns die ganze Zeit zuhören, aber nur einmal den Kopf wenden. Zwischen den Alteingesessenen und Festgeklebten begrüßt der Wirt immer wieder junge Zugezogene mit kumpelhafter Umarmung. „Ist das nicht wie ein Menschenzoo hier?“, frage ich Sean. „Keinesfalls. Für mich ist das wie in meiner Kindheit. Mit meinem Vater ging ich immer in Diner, die genau so aussahen, wie der Laden hier.“ Nach dem Bier will er noch ins Studio, um schon wieder an neuen Songs zu arbeiten. Seit drei Jahren nun ist Berlin schon sein zweites Zuhause in der Welt.

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Daheim in Montreal gehört Sean zur Szene rund um das ehemalige Lab Synthèse, einem selbstverwalteten DIY-Kunst- und Musikzentrum in einer alten Textilfabrik. In knapp zwei Jahren wurde hier der Samen für so ziemlich alles an guter Musik gepflanzt, durch die wir uns heute klicken: TOPS, Blue Hawaii, Majical Cloudz, und—allen voran—Grimes, bevor diese als internationaler Pop-Star von Magazincovern grüßte. „Im Lab hat man immer nur bewertet, wie gut jemand musikalisch war“, erinnert sich Sean. Bis zu einer gewissen Zäsur: „Claire wurde nicht entdeckt, sondern hat sich ihren Weg selbst geebnet. Dennoch hat ihr Erfolg die Szene auf seltsame Weise verändert. Ich aber war nie neidisch auf irgendjemanden—nicht auf Mac (DeMarco), nicht auf Claire. Im Gegenteil: Für mich war es inspirierend. Ich hatte zunächst gedacht, ihre Sachen wären viel zu weit draußen, und dabei unterschätzt, wie viele Enthusiasten es in der Welt gibt. Und dann: Okay, man muss nicht Pop sein, man kann auch total abgehobene Musik machen und das auch noch selbst.“

Bei Sean findet sich dieser Wagemut in seiner Art zu singen wieder. „Ich glaube an mich, meinen Gesang und meinen Ansatz“, bekennt er freimütig. Keinesfalls sei ihm seine Stimme zu dünn. „Ich weiß auf jeden Fall, wie man singt, und kann es auch anderen beibringen. Dabei war ich für lange Jahre selbst ein schlechter Sänger, habe live oft mal übersungen, vor allem jedoch sehr flach. Aber guck dir mal Boy George an! Der ist auch ein guter Sänger und singt doch die ganze Zeit flach.“ Seine Stimme hält er für sein stärkstes, gesundestes Organ. Noch nie habe er sie durch Krankheit kurzzeitig verloren. Und viel wichtiger als die Ausführung sei ohnehin der Charakter, den man einbringen muss: „Künstler träumen größer, als es die Realität zulässt. Deshalb sind sie zum Scheitern verdammt. Aber genau darin liegt die Schönheit. Beim Singen ist es wie beim Sport: Ich versuche immer etwas zu erreichen, dass ich eigentlich gar nicht kann—und das ist dann das, was ich den Leuten zeige, etwas Einzigartiges.“ Nur zu tight dürfe er sich nicht selbst produzieren, dann nämlich, findet auch er, gehe seine Stimme in der Musik verloren.

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Seans Produktionen selbst sind übrigens sehr abwechslungsreich, kokettieren dabei stets mit einem offensiven Retrocharme: „Als ich vierzehn war, sah ich mir die ganze Zeit diese Retrovideos auf einem Sender namens MuchMoreMusic an. Seitdem liebe ich 80's Pop. Das ist meine Musik, meine Welt.“ Mal gibt es dazu Countrygitarren, mal nimmt er ein ganzes Album allein mit Computer und Keyboard auf einer zweitägigen Zugfahrt auf. Other Death wiederum läuft mit all seinen Balladen förmlich über vor satten Keys, garniert mit ein paar astreinen Engtanznummern. Es ist Seans aufgeräumteste Produktion bislang. Nur das mit dem Songschreiben, das geht ihm auch bei Album Nummer elf noch nicht so leicht von der „schweren“ Hand, wie er selbst sagt. Wenn dabei aber komplett unpeinliche Meditationen über enttäuschte Versprechungen oder Songs wie „Propaganda“, in dem Sean politische Kommunikation mit jener der Liebe abgleicht („I'm a freak, not a country.“), ist doch alles gut.

„Es ist hart, die Balance zu finden, zwischen schön und … na du weißt schon, wahrhaftig. Das Album sollte jedenfalls nicht so schwer sein“, meint er. „Ich glaube, das Album ist echt ziemlich positiv. Ich habe mich selbst abgebrannt.“ Und zwar ganz anders, als noch vor drei Jahren, als Sean nach Europa flüchtete und seinen bereits erwähnten Manager Sebastian anflehte, ihn auf endlose Tour zu schicken—„was erstaunlich leicht ging, schließlich hatte ich kein Zuhause.“ Damals trank er auch noch mehr als heute, vor allem auf der Bühne. Mittlerweile hat er das wieder im Griff, tourt auch mal komplett nüchtern.

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Auf Other Death liefert er feinste Sonnenuntergangsmusik, etwa in „Don't B Sad“, das mit TOPS entstanden ist, ebenso im absoluten Höhepunkt „One More Chance“. Laut Credit wurde dieser von Ramona Gonzalez alias Nite Jewel produziert. Aber die Zusammenarbeit ging tiefer: „Ich habe Ramona vor einem Jahr für zwei Wochen besucht“, erzählt Sean. „Wir haben zusammen Songs geschrieben und wollten eigentlich eine Band gründen. Aber der Gedanke war absurd. Keine Zeit. Einer dieser Songs war aber so gut, dass ich ihn unbedingt haben wollte. Ich brauchte ihn.“ Es hat geklappt. Und es war auch Ramonas Idee, Other Life, Seans bisher wohl bestes Album, durch den neuen Titel Other Death zu konterkarieren, ja, ebenfalls „auszulöschen“, ohne dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden gibt.

Vielleicht stellt sich der oft prophezeite Durchbruch nun doch noch einmal für Sean Nicholas Savage ein, vielleicht kommt er doch nochmal auf das Erfolgsniveau seines Freundes Mac DeMarco. Aber so wirklich kümmert ihn das gar nicht mehr. Heute sagt er nur: „Ich will den Weg gehen, von dem ich immer gedacht hatte, ich würde ihn nie wählen.“ Er glaubt, dass seine 30er nicht so ereignisreich werden, wie die letzten Jahre, und dass er sich langfristig eher auf Videos, denn auf Alben konzentrieren wird. Schließlich sieht er sich in erster Linie als Kreativer—und nicht nur Musiker. „Ich werde leben bis ich sterbe. Und: I'm gonna blow up, when I go blow up.“

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