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Die Red Bull Music Academy ist die perfekte gesellschaftliche Utopie für Musiknerds

Und plötzlich sitzt der Busenfreund von Sofia Coppola neben dir im Taxi.

Stell dir folgendes vor: Du stehst vor der Pariser Madeleine und denkst an Frédéric Chopin und Marlene Dietrich, weil in jener, unter der Herrschaft Napoleons erbauten, Pfarrkirche deren Totenmessen gefeiert wurden. Unterbrochen wirst du in deiner geistigen Umnachtung von einem schwarzen Mercedes-Van mit getönten Scheiben, dessen geöffnete Hintertür dich höflich zum Einsteigen einlädt. Du steigst ein, wie auch ein paar Fremde mit dir. Wenn das Auto losfährt und du noch damit beschäftigt bist, die vielen Luxus-Boutiquen im 8. Arrondissement zu zählen, plappert rechts neben dir ein Amerikaner drauf los. Er erzählt was von Plattenläden, glaubst du. Genauer hörst du aber erst zu, als die Kasten-bebrillte Plaudertasche sagt: „There was this TV show, that I did the soundtrack for. I don't know if you guys know it, but it's called Hannibal.“ und im Anschluss den Rest der fahrt damit verbringt, mit einer sympathischen Unbedarftheit von seiner Busenfreundin Sofia Coppola und gemeinsamen Konzerten mit Clash erzählt. Trotzdem hast du keine Ahnung, wie der Typ heißt, bis er eine Stunde später auf der Interview-Couch Platz nimmt. Wenn du als Gast der Red Bull Music Academy reist, gehören wunderschöne Orte, luxuriöse Annehmlichkeiten und verdutzt machende Zufälle zum Programm.

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Vermutlich ist es immer noch gut, der Welt zu erklären, was das eigentlich ist, diese Red Bull Music Academy. Kurz und knapp: Es ist eine utopische Seifenblase, in der beinahe alles möglich ist, wovon Musiker und Musikliebhaber träumen. Für sie ist es quasi der Himmel—nur eben mit Corporate Branding. Einmal pro Jahr schlägt die Academy irgendwo ihre Zelte auf—mal in Berlin, mal in New York, mal in Tokio—und lädt dann fünf Dutzend Musiker ein, die vor Ort in hübschen Hotels unterkommen, drei Mahlzeiten am Tag aufgetischt bekommen und in extra für die RBMA gebauten Studios miteinander Musik machen können. Außerdem kommen regelmäßig echte Musik-Virtuosen zu Besuch—in Paris waren es unter anderem Ex-Academy-Teilnehmer Hudson Mohawke, Laurent Garnier und Brian Reitzell aka die Quasselbacke aus dem getönte-Scheiben-Benz.

Letzterer ist wiederum am besten geeignet, um aufzuzeigen, warum die RBMA ein Ort wie kein anderer ist: Außerhalb sehr gut informierter Kreise kennt den Typen keiner, was sich wiederum schnell als unverzeihlicher Fauxpas herausstellt, sobald er anfängt zu reden. Denn das kann er sehr gut, fast so gut wie Musik machen. Einmal gefragt, erzählt er beim Interview auf der Couch im Vorlesungssaal (die einzige „Pflichtveranstaltung“ für die Teilnehmer sind zwei Lectures am Tag) von Dinner Partys mit Sofia Coppola, Michel Gondry und Spike Jonze. Oder davon, wie er als Music Supervisor den kautzigen Kevin Shields von My Bloody Valentine dazu brachte, gemeinsam mit ihm vier neue Songs für den Soundtrack von Coppolas Lost in Translation aufzunehmen. Oder von diesem einen Tag, an dem er mit Robert Smith von The Cure durch das Schloss Versaille schlenderte. Oder eben davon, wie er sich für den unsagbar gruseligen Soundtrack der hervorragenden Serien-Adaption der Geschichte des Kannibalen Hannibal Lecter von japanischer Avantgarde-Musik inspirieren ließ und in spontan improvisierten Sessions aus Alltagsgegenständen noch nie gehörte Sounds herausholte.

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Auch die Musiker, die zur Academy eingeladen werden sind meist eher verschrobene Übertalentierte als die Superstars von morgen. Bei der RBMA hat man es sich zur Aufgabe gemacht, die Zukunft der Popmusik zu fördern. Anstatt auf maximale Marketing-Reichweite setzt der Red Bull-Konzern mit seinem Investment in die Academy, wie auch im Extremsportbereich, eher auf eine Langzeitwirkung, denn auf kurzfristig große Publicity hin. Nichtsdestotrotz ist die Academy natürlich trotzdem: Werbung. In der Lecture Hall prangt ein großes Logo, in sämtlichen Tonstudios stehen Kühlschränke voll mit Dosen. Das Branding ist stilvoll, aber stets präsent. Die Frage, ob das irgendwie problematisch sei, wenn ein Weltkonzern sich als Kunstmäzen gibt, ist beinahe unmöglich abschließend zu beantworten. Selbst wenn man sich eigentlich eine Welt ohne unterschwellige Produktwerbung wünscht, lässt sich die Academy kaum verteufeln, denn: Wer sonst investiert so gewissenhaft in die Pop-Avantgarde? Sind Major Labels die besseren Nachwuchsförderer? Eher nicht. Und der Staat? Der tut in Deutschland ohnehin für die Entwicklung einer lebendigen Popkultur zu wenig.

Als ich mich am Tag nach seiner Lecture noch mal mit Brian Reitzell unterhalte, sieht der die Verbindung zwischen Marke und Kultur ohnehin unproblematisch: „Ich finde es wahnsinnig toll, was die hier aufgebaut haben. Die Atmosphäre ist unglaublich motivierend, ich freue mich hier zu sein und das habe ich Red Bull zu verdanken. Auch wenn ich das selbst nicht trinke: es ist doch eine tolle Sache!“ Und er hat natürlich recht. Seien es die unzähligen Abendveranstaltungen, die Lectures oder die langen Nächte in den Tonstudios im ehemaligen Théâtre de la Gaîté im 3. Arrondissement—jedes Detail an der Academy ist von talentierten Auskennern mit einer Hingabe gestaltet, mit der sämtliche durch Steuergelder geförderte Popkultur-Veranstaltungen nicht mithalten können.

Auch der Zugezogen Maskulin-Produzent Silkersoft, der einzige deutsche Teilnehmer in Paris, erzählt beim Mittagessen mit Blick auf das Pariser Stadtpanorama von langen, produktiven Nächten, die er mit Musikern, die er gerade erst kennengelernt hatte, komplett im Studio verbrachte.

Es ist ein Jammer, dass Red Bull sich durch die Anschläge von Paris genötigt sah, die zweite Hälfte (die Musiker reisen in zwei Gruppen à 30 Menschen zur Academy) der RBMA abzusagen. Einerseits ist diese Reaktion natürlich verständlich, andererseits: Was wäre besser geeignet, um dem Terror (und den ängstlichen Kriegsbefürwortern und Flüchtlingsfeinden Europas) einen trotzigen Fickfinger entgegen zu recken, als ein utopisches, temporäres Musikerdorf, bei dem holländisch-persische R'n'B-Sängerinnen, schwedische Jung-Feministinnen mit Grime-Affinität und japanophile Ambient-Produzenten aus Australien mehrere Wochen lang gemeinsam Musik machen, die Kunst feiern und ungesunde Limonade trinken?

Mehr über die Teilnehmer lest ihr hier.