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Staiger vs das Elend der modernen Welt

Musik im Wahlkampf

Dass das musikalische Engagement der deutschen Parteienlandschaft eher lahm ist, heißt nicht, dass noch keine Versuche gestartet wurden.

Nun ist es also bald soweit und wir deutschen Staatsbürger dürfen am Sonntag wählen, um für die nächsten vier Jahre Kurs und Fahrplan dieses wunderbaren Landes zu bestimmen. Dabei bekommen wir wieder einmal dieses unglaubliche Gefühl von Macht, was vielen Menschen aber anscheinend schon zu viel des Guten ist, weswegen sie zuhause bleiben werden und weswegen heute Morgen wohl auch eine Mail von einem Trendforschungsinstitut in mein Postfach schneite, das NICHT-Wählen als einen Akt der ultimativen Freiheit ausmachen wollte und den Wahlboykott als neuen Megatrend.

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Nun gut. Betrachtet man den Wahlkampf, so kann man einen gewissen Überdruss verstehen, war er alles in allem doch sehr, sehr, sehr, sehr langweilig. Und hätten wir Gregor Gysi nicht, dann hätten wir überhaupt keine klaren Aussagen bekommen. Dieser erfüllt nämlich die klassische Rolle eines Hofnarren, der als Einziger die Wahrheit sagen darf – passieren tut trotzdem nichts.

Ebenso lahm, wie sich der Wahlkampf gestaltet hat, gestaltet sich allerdings auch das musikalische Engagement der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Während bei der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten wenigstens Jay-Z und Beyonce auf der Ehrentribüne Platz nehmen dürfen, und Frankreichs ehemaliger Staatschef mit einer Popikone verheiratet ist, säßen in Deutschland höchstens Roland Kaiser oder Afrob auf den Promiplätzen. Wohlgemerkt der Kaiser bei den Rot-Violetten und Afrob bei der *räusper* CDU. Immerhin zeigte der Rapper sein Gesicht auf der hauseigenen CDU-Website und bekannte sich offensiv dazu, Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel zu wählen.

So viel Mut müsste doch eigentlich belohnt werden und deshalb wundert es dann doch, dass Afrob nicht namentlich im musikalischen Rahmenprogramm der großen CDU Abschlussveranstaltung erwähnt wird, die am 21.09. im Berliner Tempodrom stattfinden wird. Vielleicht mit der Bundeskanzlerin im gemeinsamen Duett, kursieren ja bereits die ersten Textvorschläge für eine solche Kollaboration im Netz: „Angie was geht ab? (Yo, Afrob was geht ab?) Hast du Bock? - (Ja, klar) Komm wir schieben Eritreer ab.“ Angesichts bundesdeutscher Abschiebepraktiken wäre so etwas auf jeden Fall ein echter Smasher.

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Da klare Worte und Statements nicht unbedingt die Sache von Frau Dr. Merkel sind, ist es wahrscheinlicher, dass dann doch nur Leslie Mandoki mit seinen Soulmates auftritt, der in diesem Jahr (und keiner hat es mitbekommen) den offiziellen CDU-Wahlkampfsong abgeliefert hat. Mandoki wurde bekannt als Frontmann der Disco-Pop-Gruppe Dschingis Khan und gilt heut in Musikindustriekreisen als einer der nervigsten Typen aller Zeiten. Er will es einfach nicht kapieren, dass keiner was mit ihm zu tun haben will und sich alle vor ihm verstecken, sobald er auftaucht. Aus diesem Grund liegt auch die Vermutung nahe, dass die CDU eher wie die Jungfrau zum Kinde zu diesem Song kam, weil sie selbst dafür zu schwach war, dem Rangewanze von Mandoki einen Riegel vorzuschieben. Heraus kam dann dieses wunderbare Stück Musikgeschichte, das ihr Euch auf der CDU-Musikseite sogar in mehreren Single Editionen herunter laden könnt:

So etwas Schickes haben die Sozen leider nicht. Die machen nur ihre riesigen Bratwurst-Partys, wie das Deutschlandfest auf dem 17. Juni oder ihre große Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz am heutigen 19. September 2013, wo besagter Roland Kaiser auftreten wird. Roland Kaiser ist ein sehr netter Schlagerstar, der in letzter Zeit allerdings eher durch gesundheitliche Probleme, denn durch Hits aufgefallen wäre. Das Engagement von ihm legt allerdings den Eindruck nahe, dass man sich mit ihm wohl eher an ein betagteres Publikum wendet, weswegen ein gewisser ZDF-Effekt zu befürchten ist. Das haben dann wohl auch die Parteistrategen der Sozialdemokraten erkannt und stellten dem greisen Schlagerstar eine unfassbar fluffige und junge Band an die Seite. Lastrel heißt das unglaublich innovative Projekt, die auf ihrer bandeigenen Website das Dilemma unglaublich scharfsinnig auf den Punkt bringen: „Deutschland wird alt – und auf dem deutschsprachigen Musikmarkt äußert sich das ungefähr so: Grönemeyer auf Platz eins, Lindenberg auf Platz zwei und Singer/Songwriter á la Philipp Poisel, die mit langsamen Stücken gemächlich die Gehörgänge massieren, auf den folgenden Chartplatzierungen. Aufbruchsstimmung, Lebenslust, Energie, lautes Hinausschreien oder einfach mal so richtig schön Abspacken? Fehlanzeige! Da kommen fünf Jungs aus Berlin gerade richtig, um der Bundesrepublik eine Verjüngungskur zu verpassen.“

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Wer denkt sich so eine Scheiße eigentlich aus? Vor allem, wenn das Ergebnis sich dann so anhört:

Dann lieber Santa Maria.

Geht man weiter durch das Parteienspektrum, dann fällt auf, dass die FDP offensichtlich überhaupt keine Musik im Gepäck hat, was den Schluss nahelegt, dass man sich bei ihnen nicht niederlassen sollte, weil ja bekanntlich nur böse Menschen keine Lieder haben. Dabei gibt es einen ganz wunderbaren FDP-Song, den ihr wahrscheinlich alle schon kennt, den ich aber an dieser Stelle trotzdem nochmal erwähnen möchte. Blau-gelbe Fahnen flattern im Wind, The incredible Herrengedeck mit ihrer FDP-Hymne:

Musikalische Rettung von der Linken ist ebenfalls nicht zu erwarten, auch wenn die angeheuerte Band Polkaholix bei der großen Abschlussveranstaltung „kiek an“ am 20. September einen gewissen Underdog-Charme hat. Wie Frontmann Andreas Wieczoreck aus seinem Leben und der dazugehörigen Scheidung erzählt, hat etwas unglaublich Authentisches und Ehrliches und man kann den schlechten Atem von zuviel Zigaretten und zuviel Weinbrand förmlich riechen. So ist das echte Leben, so ist echte Politik.

Allein die Grünen machen wieder mal alles richtig und sind musikalisch so stilsicher wie ihre Wählerschaft. Bei ihrer Abschlusskundgebung treten die in Berlin lebende ugandische Sängerin Jaqee auf, sowie die aus England stammenden Acts The Young Punx und Red n Pink. Alles sehr neu, modern und hip und vielleicht sogar ein wenig cool, auch wenn man sich immerzu fragen muss, was eigentlich Silvana Koch-Mehrin mit ihrem gelben Pullover im Video von Red n Pink zu suchen hat, und vor allem, welche Rolle sie darin spielt?

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Ach, das ist schon ein Kreuz mit dem Engagement für eine politische Partei und wie man es macht, macht man es wahrscheinlich falsch. Aus diesem Grund muss ich den Toten Hosen einmal, und nur dieses eine mal, Recht geben, die sich kategorisch dagegen verwahrt haben, irgendeiner Partei auch nur ansatzweise zu Diensten zu sein. Ihr Song „Tage Wie Diese“ wurde nämlich auf Wahlkampfveranstaltungen der CDU und der SPD gleichermaßen gespielt, was den Unmut der Punker erregte. In einem Statement auf Facebook bedauern sie, dass sie gegen den Missbrauch ihres Songs leider keine rechtlichen Schritte einleiten können und betonen: „Wir haben nie ein Problem damit gehabt, wenn unser Lied vom Punkschuppen bis zum Oktoberfest den unterschiedlichsten Menschen Freude bereitet. Wir empfinden es aber als unanständig und unkorrekt, dass unsere Musik auf politischen Wahlkampfveranstaltungen läuft. Hier wird sie klar missbraucht und von Leuten vereinnahmt, die uns in keiner Weise nahe stehen. Die Gefahr, dass Menschen auf die Idee kommen können, dass es eine Verbindung zwischen der Band und den dort beworbenen Inhalten gibt, macht uns wütend.“
Wie sagte schon Francis Bacon: „Wut macht langweilige Menschen geistreich.“ Recht hat er.

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Marcus Staiger hat als Betreiber von Royal Bunker und Entdecker solcher Leute wie Kool Savas, Eko Fresh oder K.I.Z den Straßenrap in Deutschland etabliert. Sprich: Er hat Unmoral und Verrohung über Gesellschaft und Jugend gebracht. Um die Karmaleiter wieder ein Stück nach oben zu klettern, schreibt er ab sofort regelmäßig bei uns gegen die Unmoral und die Verrohung der Gesellschaft an.

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