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Interviews

„Ich mag keine Leute aus dem Norden, ich mag keine Leute aus Manchester“—Mark E. Smith über Großbritannien

Der großartigste Mensch Großbritanniens spricht darüber, warum er The Fall nie als nordenglische Band gesehen hat, was in Sheffield schief gelaufen ist und was die Gefahren von Bitcoins sind.

Alle Fotos von Natasha Bright

Ob es ihm gefällt oder nicht, aber Mark E. Smith und seine Band The Fall sind zu einem Synonym für Nordengland geworden. Sein lyrischer, und auch sein persönlicher Output wurde über die Jahre zu einem Großteil von seinen geographischen Bezügen geformt. Es ist nicht ganz einfach, ihm zu erklären, was wir hier vorhaben. „Wie heißt das, Noise Magazine?“, fragt er, während er abwechselnd an seinem Bier und seinem doppeltem Whiskey nippt. Ich versuche, Mark mit einer Erinnerung an unsere Episode der Noiseys British Masters-Serie auf die Sprünge zu helfen, bei der ihn John Doran interviewt hat. „Ach, dieser langhaarige Typ? Er ist ein bisschen verrückt, oder? Er ist verrückt.“ Ich gebe auf und wir machen einfach weiter.

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Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie Mark E. Smith. Bei meinem letzten Interview mit dem The Fall-Sänger hat dieser versucht, mir einen Kugelschreiber in die Nase zu schieben, um zu beweisen, dass der Stift auch wortwörtlich mächtiger ist als das Schwert. Zu behaupten, er wäre unberechenbar, ist eine so große Untertreibung, wie zu behaupten, The Fall wären unproduktiv: Die Band hat 1978 ihre Debüt-EP veröffentlicht und 2015 erscheint nun ihr 31. Studioalbum: Sub-Lingual Tablet. Wenn du die ganzen Livealben, EPs und Compilations dazu nimmst, dann reden wir von über 100 Veröffentlichungen.

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Es wird ziemlich schnell klar, dass du aus Mark kein geradliniges Interview herausbekommst. Wenn du mit einer Menge sehr spezifischer, sehr analytischer Fragen an ihn herantrittst und erwartest, dass sie beantwortet werden, dann hast du bereits verloren. Du musst dich einfach treiben lassen, eine Frage stellen und von ihm dann eine Antwort auf eine andere zu bekommen. Ein gutes Beispiel: Wir treffen uns am Abend der britischen Parlamentswahlen. Ich frage Mark: „Hast du gewählt?“ und er schafft es, eine sehr uneindeutige Antwort zu geben: „Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht.“ Als ich ein bisschen mehr aus ihm herausbekommen will, erzählt er mir eine surrealistisch anmutende Geschichte, wie er von einem falschen Wahllokal zum nächsten ging und verwirrt auf einem Parkplatz landete.

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„Ich habe The Fall nie als eine Gruppe aus dem Norden betrachtet“, sagt er mir und bleibt ausnahmsweise mal beim Thema. „Wir waren schon immer eine multinationale Gruppe. Ich mag Leute aus dem Norden nicht, ich mag keine Leute aus Manchester. Es gibt etwas an Musikern aus Manchester, das besonderes irritierend ist. Sie haben dieses komische, gottgegebene Recht, das Leute aus London früher hatten, nehme ich an. Sie denken, sie wären was Besseres, aber das sind sie nicht. Manchester hat nur Freddie and the Dreamers. Woher kommst du? Sheffield?“ Ich bejahe. „Tja, Sheffield ist scheiße. Ich spiele Sonntag in Wakefield—ein Typ hat mir gesagt, dass es das Vegas des Nordens ist. London war schon immer ein Dreckloch. Ich bin aus Salford, das ist in den Genen, sie bleiben, wo sie sind, weil sie stinkfaul sind.“

Ich versuche, aus Mark herauszubekommen, wie Salford sich in den letzten Jahren verändert hat, ob es schon immer so trostlos und grau war, wie das öffentliche Bild, das heute oft davon gezeichnet wird. „Das ist kein Bild. Ich mag Salford nicht besonders, ich mag Manchester eigentlich auch nicht. Ich bin hier auf dem Weg hängen geblieben. Nein wirklich, das bin ich. Es wurden hier in den letzten paar Wochen ungefähr 85 Häuser gebaut“, sagt er und verweist auf die Gentrifizierung des Northern Quarter. „Dieses verdammte London-Ding, wir kommen nicht weiter, oder? Bleib in London! Ich meine, wo gehst du hin?“

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„Ich erinnere mich noch daran, als ich in Sheffield Aufnahmen gemacht habe—man musste da einfach hin! In den 90ern, nachdem die ganze Human League-Geschichte vorbei war, gab es dort eine Dance-Szene—es gab eine Menge Reggae, das war einfach verdammt cool. Es war damals ein wirklich cooler Ort. Dann kamen Blur oder wie auch immer die heißen.“

„Meinst du Pulp?“

„Oh, ja. Dann kam das Crucible [das gibt es seit 1971] und alles wurde irgendwie langweilig. Es ist wie mit der Hacienda in Manchester. Es war gut und dann wurde es langweilig. Dann bin ich nach Edinburgh gezogen und heute ist das ein beschissen langweiliger Yuppie-Ort.“

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Mark fängt an in seiner schwarzen Ledertasche zu wühlen und zieht ein zerknittertes Stück Papier heraus. „Verstehst du Yorkshire-Dialekt?“, sagt er zu mir und gibt mir einen Brief. „Ich habe gerade einen Brief von einem Kumpel von mir aus Wakefield bekommen, aber ich verstehe ihn verdammt nochmal nicht. Kannst du ihn lesen?“ Ich beginne also, so gut ich kann, einen phonetisch geschriebenen Brief an Mark E Smith zu transkribieren, während er einen Kalender mit Fotos aus Australien hervorholt und anfängt, ihn durchzublättern. Ich merke an, dass es etwas spät ist, um noch einen Kalender zu bekommen. „Tja, er kommt aus dem verdammten Yorkshire, was erwartest du?“, ist seine Antwort.

Mit dem normalen The Fall-Fan ist ein stereotypes Bild verbunden: Alternd, kahl, wachsender Bauch, Bierliebhaber, Single und immer noch im Besitz von ungefähr fünfhundert Kassetten voll mit Peel Sessions, die er in den 80ern aus dem Radio aufgenommen hat. Trotzdem lässt Mark kein gutes Haar an ihnen: „Viele der neuen Fans sind sehr fanatisch. Sie sind sehr gegen die alten Glatzköpfe. Es ist brillant, ich finde das verdammt gut. Ich bin auf ihrer Seite. Ich hasse alte Leute! Leute über 43 sollten nicht reingelassen werden. Nur 40 und jünger.“

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Es gibt viele Themen, die wir während unseres zweistündigen Interviews anschneiden, eine 20-minütige Diskussion über das Dark Web und Silk Road ist vielleicht die unerwarteste Wendung unseres Gesprächs. Da Mark keinen Computer, kein Smartphone und keinen Internetzugang hat, wird es eine recht komplizierte Unterhaltung. Obwohl Mark weiß, wie Bitcoins funktionieren: „Ich hatte diesen jüdischen Kumpel, er hat all seine Ersparnisse in Bitcoins angelegt und am nächsten Tag sind die eingebrochen. Er sagte: ‚Ich muss die Chance nutzen‘. Er hat 15.000 Pfund investiert. Seitdem habe ich ihn nicht mehr angerufen. Bitcoins sind heute kaum mehr einen Cent wert.“

Motherboard: Ich habe eine Woche lang nur mit Bitcoins überlebt.

Mark stoppt und wechselt schnell das Thema. „Hast du jemals ein Buch namens The Circle gelesen?“, fragt er.

„Nein, von wem ist das?“, antworte ich.

„Keine Ahnung, von irgendeinem dämlichen Trottel. Aber es ist sehr gut.“

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Und schon wieder sind wir woanders und gehen zum nächsten, etwas weniger willkürlichen Thema über: Ein alter Beitrag der BBC Culture Show über The Fall, der von Frank Skinner moderiert wurde und bei dem berühmte Fans wie Grayson Perry und Stewart Lee dabei waren. „Frank Skinner? Ich versuche mich von diesen Leuten fernzuhalten; ich spreche lieber mit Leuten wie dir. Ich meine, was macht der mittlerweile? Werbung für Soße oder sowas?“

Wir sprechen über die neue Platte. Wie bei jedem Album changiert es innerhalb von Minuten von grandios zu lächerlich, der germanisch angehauchte Zehn-Minuten-Stampfer „Autochip 10-14“ und das dreckige, elektronisch angehauchte „Dedication not Medication“ sind Beispiele für ersteres, während „Facebook Troll“ und „Quit IPhone“ eher Beispiele für letzteres sind. Beim Thema Facebook-Trolls fällt mir ein, dass Mark das letzte Mal, als ich ihn getroffen habe, gerade dabei war, von irgendwelchen Kriminellen aus Manchester Leute aufspüren zu lassen, die ihn im Internet nachgemacht haben und ihnen „ihre Schädel einschlagen“ zu lassen. Ich frage ihn, wie er ein Jahr später damit vorankommt. „Ich war für eine Weile besessen davon. Meine Frau sagt, dass ich in dem Interview wie ein verdammter Psychopath rüberkomme. Von den Vieren hat sich einer zurückgezogen, einen haben wir bekommen und zwei haben sich wieder in die Gesellschaft eingegliedert.“

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VICE: Unveröffentlichte Fotos aus dem berüchtigtsten Gefängnis Englands in Manchester.

Anschließend sprechen wir über einen Song vom Album namens „Stout Man“, weil, naja, weil er „Stout Man“ heißt und klingt wie die Stooges mit James Williamson. In dem Stück singt Mark über einen dicken Mann, der einen Kinderwagen schiebt. „Das kam zustande, weil die Leute in der Band sich immer über The Stooges auslassen und ich bin um einiges älter als sie, also frage ich warum sie die Stooges nicht mögen. Sie denken, dass die Stooges nur zwei Akkorde haben und ich habe gesagt, sie sollen „Cock in my Pocket“ nachspielen [vom Stooges Live-Album Metallic KO]. Du weißt schon, sie sprechen über das erste Stooges-Album und ich sage ihnen, sie sollen mir nicht davon erzählen, ich habe es gekauft, als ich 16 war. Also habe ich zu ihnen gesagt: ‚OK ihr Ärsche, lernt ‚Cock in my Pocket. Versucht das zu finden.' Denn das ist auf keiner ihrer LPs, aber natürlich haben sie es gefunden, weil es das auf fucking Ebay gibt, oder weil sie es shazaamt haben. Also habe ich gesagt: ‚lernt es‘. Es war eine Herausforderung.“ Die Band hat die Herausforderung angenommen, für Marks Geschmack fast zu sehr: „Sie haben mich hereingelegt, sie haben sich ins Studio geschlichen, um es zu optimieren. Ich habe sie nicht erwischt, aber im Auto auf dem Weg nach London habe ich hinter den Sitz gesehen und da war diese CD, voller Dreck, mit dem ursprünglichen Roughmix davon. Ich habe ihnen dann gesagt, sie sollen die nehmen, dabei hatten sie aber schon ungefähr acht oder neun verschiedene Versionen davon gemacht, richtig albern. Sie haben wahrscheinlich mehr an diesem Song gearbeitet als an jedem anderen auf dem Album.“

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„Das ist interessant“, sage ich.

„Nein, das ist nicht interessant, es ist Zeitverschwendung. Diese verdammten Schlaumeier. Sie hätten an etwas Anderem arbeiten sollen, aber haben immer und immer wieder an diesem Song gesessen. Diese CD war also ein kleines Geschenk des Himmels.“

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Als das Interview an Fahrt verliert, gehen wir nach draußen und Mark raucht eine Zigarette. Er schaut sich um, sieht sich die neuen Gebäude an, die alten und die, die neu gemacht wurden. „Diese Gegend war früher voll mit tropischen Fischen, verrückten Psychopathen und schwulen Typen.“ Ich kann mir keine bessere Werbung für Manchester vorstellen.

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