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Thump

„Kirche, Schule, Waffenladen, das musste ich aufschreiben”—Lucy im Interview

Wir trafen den italienischen Produzenten Lucy zum Gespräch über seine Autorenstimme, Schrift- und Musiksprache und die westliche DNA seines neuen, düsteren Albums „Churches Schools and Guns”.

Fotos: Aljoscha Redenius.

The medium is the message—und umgekehrt. Der italienische Produzent Luca Mortellaro veröffentlicht unter seinem Alias Lucy derzeit sein zweites Album, Churches Schools and Guns—ein düsterer Entwurf von Techno; abstrakt, mehrdeutig und klanglich vielschichtig. „Kommunikation”, sagt Lucy, sei das reizvolle an Musik. Diese Kommunikation zwischen Künstler und Hörer versucht er nicht nur mit seiner Musik anzuschieben, sondern auch als Betreiber seines Labels Stroboscopic Artefacts, auf dem in der Vergangenheit stilbildende Releases von Künstlern wie Xhin, Perc und Kangding Ray erschienen sind.

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„Wenn alles gleichförmig und ruhig ist”, sagt Lucy, „komme ich nicht ins Studio. Ich brauche Reibung, um etwas zu erschaffen.” Wir trafen den in Berlin lebenden Produzenten und sprachen mit ihm über seine Autorenstimme, über Schrift- und Musiksprache und über die westliche DNA von Churches Schools and Guns.

THUMP: Ich habe auf deiner Facebook-Wall einen Kommentar gelesen, in dem es hieß, dass dein Albumtitel ziemlich gut Amerika zusammenfasse.
Lucy: (lacht) Ich würde sagen, es gibt verschiedene Ebenen, diesen Titel zu interpretieren. Als Label-Manager habe ich mit Künstlern zu tun, die sich nicht so sehr für Titel und Wörter interessieren. Für mich ist ein Titel aber immens wichtig, weil er den ersten Rahmen deiner Arbeit absteckt, bevor die Öffentlichkeit das Werk überhaupt hört. Und dieser erste Rahmen sollte wichtig sein. Also verwende ich immer viel Zeit darauf, den richtigen Titel für die Musik zu finden. Auch weil ich vom Schreiben komme. Wörter sind sehr kraftvoll.

Der Kommentar auf Facebook ist auch interessant, da mir die Idee zu dem Titel kam, während ich in den USA war. Vor ein paar Jahren kam ich dort mal an, war müde; ich hatte im Flugzeug nicht geschlafen, war also in einem halbwachen Zustand—und in diesem merkwürdigen Geisteszustand sah ich aus dem Fenster und die ersten drei Dinge, die ich sah, waren eine Kirche, eine Schule und ein Waffenladen. In einer Reihe. In einer verdammten Reihe. Ich habe unterbewusst gedacht, dass ich das aufschreiben muss. Also schrieb ich: „Kirche, Schule, Waffenladen”. Lange Zeit später, als ich gerade versuchte, die Hauptstruktur des Albums zu finden, habe ich die Wörter gelesen und gedacht: „Das fasst es im Prinzip zusammen.” Natürlich sind diese Dinge in Amerika sehr extrem, aber interessant daran war, dass wir Kirche und Schule normalerweise mit etwas Positivem wie Erziehung assoziieren—zumindest ist so das Allgemeinverständnis. Wenn man aber Waffen daneben stellt, kehrt das die Bedeutung um und zeigt eine andere Perspektive. Der klangliche Rahmen des Albums ist sehr dunkel und kritisch. Es ist, als würde man sich unsere eigene westliche DNA ansehen.

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Hast du ein Notizbuch, in dem du diese Dinge aufschreibst?
Ja, ein Notizbuch, Papier, Handy.

Wenn du diese Worte noch einmal liest, kannst du dich an den Moment erinnern?
Natürlich, sehr gut. Ich habe es nur ein bisschen verändert, von „Kirche, Schule, Waffenladen“ zu „Kirchen, Schulen und Waffen“, um dem Ganzen mehr Allgemeinheit zu verleihen. Aber ich erinnere mich an diesen Moment, er war ziemlich stark.

Diese Situation klingt ein bisschen wie eine Szene aus Memento.
Das ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme! Er arbeitet ganz ähnlich, nur auf einer höheren Ebene. Beim Musikmachen arbeiten unterbewusste und bewusste Kräfte. Manchmal weißt du nicht, wie viel du bewusst sagen willst und was nur aus diesem Flow heraus entsteht. Es ist wie ein Kampf, zumindest für mich; ein andauernder Kampf zwischen dem bewussten und unterbewussten Teil. Ich habe diesen Flow, der auf ziemlich wilde Weise herauskommt. Wenn ich im Studio bin, besteht die härteste Arbeit darin, ihn zu kontrollieren—wie ein Boot auf stürmischer See—und in eine verständliche Form zu bringen.

So entsteht ein Album.
Genau, wenn du dich entscheidest, eine komplette Struktur zu erschaffen, statt nur Einflüsse zu veröffentlichen. Das passiert, wenn du versuchst, diesen Flow zu kontrollieren oder ihn zumindest in verständliche Bahnen zu lenken.

Es ist in der elektronischen Musik aber recht verbreitet, nur diese Einflüsse herauszuarbeiten. Alben haben oft nicht so einen hohen Stellenwert wie in anderen Genres.
Ich weiß, dass das gang und gäbe ist, trotzdem würden viele Leute so etwas nicht machen. Diese Leute sind so etwas wie meine spirituellen Partner der elektronischen Musik. Was ich abgesehen von der Musik am meisten an ihnen mag, ist, dass sie sich immer ihrer Verantwortung als Künstler bewusst sind. Das bedeutet, in der Lage zu sein, eine Botschaft durch ein Medium abzuliefern—und Musik ist ein sehr mächtiges Medium. Elektronische Musik und Clubmusik wird von vielen Leuten gehört, also ist das eine Verantwortung. Und ich denke, es ist nicht besonders clever, einfach nur ‚Zeug’ zu veröffentlichen. Das wäre eine Schande und eine Demütigung der Kraft und der Heiligkeit künstlerischen Ausdrucks. Sonst hast du nur Episoden. Für manche Leute ist das in Ordnung, aber ich bin mehr an der Geschichte als nur an Episoden interessiert. Vielleicht sind diese Dinge aber auch nicht für jeden so wichtig, wie für mich.

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Für viele Produzenten ist es auch einfach wichtig, kontinuierlich Sachen herauszubringen.
Was meiner Meinung nach unter vielen Gesichtspunkten keinen Sinn macht. Ich bin selbst Künstler und betreibe ein Label. Aus meiner Erfahrung im Musikgeschäft denke ich, dass das keinen Sinn macht. Wenn du es darauf anlegst, berühmt zu werden und viel zu spielen, ist das nicht der richtige Weg. Glaub' mir! Warum interessieren sich Leute für dich? Weil du eine Geschichte zu erzählen hast, weil du ihnen etwas erzählen kannst, das sie nicht wussten—oder das sie zwar wissen, aber nicht ausdrücken können. Und du bist derjenige, der diese Dinge formulieren kann. Die Leute geben dir diese Position und das ist genau das, was ich mit Verantwortung meine: Es ist eine Frage von Respekt, selbst in einer wechselseitigen Beziehung. Du bist in deinem Studio ganz alleine, aber später werden die Sachen veröffentlicht. Du darfst nicht denken, dass diese Dynamik überhaupt nicht existiert. Für mich ist Musik immer noch Kommunikation, auch wenn es etwas ist, dass am Ende als ein persönliches Produkt wahrgenommen wird. Aber in meinem Kopf ist der wichtigste Punkt, jemandem etwas mitzuteilen.

Vermittelst du diese Betrachtungsweise allen Künstlern auf deinem Label?
Es gibt bei Stroboscopic Artefacts eine Menge Kommunikation. Wir reden viel, es gibt viele nachhaltige Themen—zum Beispiel das, über das wir gerade reden. Es gibt auch eine Menge Reibung und Kämpfe, aber das ermöglicht Kreativität, zumindest für mich. Wenn alles gleichförmig und ruhig ist, komme ich nicht ins Studio. Ich brauche Reibung, um etwas zu erschaffen.

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Lass uns auf dein Titelkonzept zurückkommen: Wie erklärt sich beispielsweise „Follow the Leader”?
Das ist eigentlich ziemlich witzig. Ich wusste nicht mehr, woher dieser Satz kam. Aber ich habe mir zum sechsten Mal Network angesehen, das ist einer meiner Lieblingsfilme. Dieser Satz kommt nicht im Film vor, aber er kam mir tagelang in den Sinn, nachdem ich den Film gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mitten im Prozess, diesen Track zu machen. Ich weiß nicht, welche unterbewusste Verbindung mein Gedächtnis da hergestellt hat, aber nach längerer Zeit wurde mir klar, dass „Follow the Leader” ein Album von Korn ist, den ich mit 14 viel gehört habe. Die beiden haben eine ziemlich ähnliche Ästhetik, auch wenn sie in einem anderen Universum liegen. Damals fühlte ich mich sehr dunkel und wild. Ich weiß nicht, wie diese Dinge zu diesem Titel zusammenkamen. Der Satz ist stark, aber ich will nicht zu viel darüber sagen, wie du die Titel lesen sollst—ich gebe zwar gerne Anregungen, überlasse den Rest aber dem Hörer.

Vermisst du manchmal Vocals? Du scheinst sehr viel sagen zu wollen …
Ja, schon. Aber wie ich schon sagte: In Reibung und Kontrasten steckt für mich gleichzeitig auch Kreativität. Ich will so viele Dinge sagen—über meine Gedanken, über Sachen, die ich gelesen habe, was ich sehe und wie ich es sehe … Es war eine Entscheidung. Entweder schreibe ich einen Essay oder ich mache ein Album. Wenn du keine Stimmen und klassischen Texte benutzt, dann stellst du dich der Herausforderung, dieselben Sachen durch allgemeinere Stimmungen, durch die Musik, auszudrücken. Sprache ist—trotz aller Ausdruckskraft—viel limitierter, ein verschlüsseltes System. Wenn ich anfangen würde, italienisch mit dir zu sprechen, würdest du wahrscheinlich kein Wort verstehen. Sprachen haben diese starken Unterschiede. Musik ist da anders, da du sie immer noch erkennst, selbst wenn sie sehr abstrakt ist. Wenn du Texte vermeidest und dich nur der Musik widmest, nutzt du eine viel breitere, diffuse, aber unglaublich kraftvolle Sprache. Meiner Meinung nach ist das viel weniger limitierend.

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Du hast vorhin erwähnt, dass du vom Schreiben kommst.
Ich habe immer viel geschrieben. Irgendwann hat die Musikproduktion aber das Schreiben abgelöst. Ich habe geschrieben, seit ich 14 war; viele Romane, Gedanken, sehr merkwürdige Geschichten, metaphysisch und surrealistisch. Irgendwann wurde die Musik so intensiv, dass ich mich für das Eine oder das Andere entscheiden musste. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte für beides keinen Platz in mir. Ich brauchte einfach ein Medium zum Ausdruck, das ich tief ergründen konnte.

Würdest du sagen, dass du mit der Musik dieselben Dinge zum Ausdruck bringst wie mit dem Schreiben zuvor?
Ich befriedige die gleiche Notwendigkeit, die sich in meiner Seele befindet. Ich muss bestimmte Dinge sagen. Ich habe keine Wahl. Ich würde nicht sagen, dass es für mich ein Vergnügen ist, ins Studio zu kommen und Musik zu machen. Es ist ein notwendiges Übel. Und diese Notwendigkeit wird jetzt durch Musik befriedigt, früher durch das Schreiben.

Also ist es komplementär?
Ja, das ist eine permanente Geschichte in meinem Kopf. Ich würde sagen, dass es in weiterem Sinne dieselbe Ästhetik ist, im Sinne von Struktur und Funktionen.

Jetzt würde ich wirklich gerne den Roman zu diesem Album lesen.
(lacht) Das ist tatsächlich eine Idee; das Album in einen Roman zu übersetzen. Das wäre interessant zu sehen.

Ich habe gesehen, dass das FACT-Magazin dich in ihrer „Albums, we actually give a shit about”-Liste führt.
(lacht) Das habe ich auch gesehen.

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Ist es dir wichtig, dass das den Leuten nicht am Arsch vorbei geht?
Um ehrlich zu sein bin ich nicht die Art von Künstler, die sagt: „Das ist mir egal, ich produziere einfach nur Musik.” Während ich Musik mache ist es mir egal, aber danach ist es mir sehr wichtig. Und ich denke, das wird durch die Struktur, den Titel und das Artwork sehr deutlich. Ich habe ein starkes Bedürfnis nach Kommunikation in mir. Das ist etwas, das ich in den letzten Jahren über mich gelernt habe. Die Momente, in denen ich draußen in der Welt oder in Clubs bin, sind mir so wichtig. Es ist wichtig für mich, dass die Leute es verstehen, fast als ginge es ums Überleben. Wenn ich zu sehr meinen eigenen Weg gehe, weiß ich, dass ich einen mentalen Zustand erreiche, der auf der einen Seite sehr schön und fast mystisch ist—auf der anderen Seite aber auch sehr gefährlich ist, da ich komplett den Kontakt zur Realität verlieren kann. Es ist sehr wichtig, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden und Rückmeldung von Leuten zu bekommen, die meine Musik lieben. Das ist ein unglaublich magischer Weg, geerdet zu bleiben. Man wird zur gleichen Zeit geerdet und gepusht, noch höher hinaus zu kommen. Das ist mehr ein Bedürfnis als eine Wahl.

Es ist also eine Notwendigkeit, Musik zu machen und ein Bedürfnis, Feedback zu bekommen.
Irgendwie schon (lacht). Ich fühle mich ständig getrieben. Das ist gut, versteh' mich nicht falsch. Manchmal bist du dein eigenes Medium. Es gibt viele Dinge, die in deinem Verstand arbeiten, die du lernst und anfängst zu analysieren. Und dann gibt es einen großen Teil, der unterbewusst arbeitet und auch dann weiterarbeitet, wenn du denkst, dass du außerhalb dieser Dinge bist. Und an diesem Punkt merkst du, dass du dein eigenes Medium bist. Dann gehe ich ins Studio und es kommen diese Sachen raus. Das kann man unmöglich auf rationaler Ebene erklären, aber du kannst es nicht ignorieren. Das ist, was ich mit ‚getrieben fühlen’ meine.

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Du hast im Vorfeld des Albums eine Remix-EP veröffentlicht. Wie wählst du die Remixer aus?
Das war ein heikler Prozess, nicht nur für mein eigenes Album, sondern generell. Wir machen die Remix-Edition immer kurz vor dem Album. Mit deiner Musik drückst du dich und deine Vision in 360 Grad aus. Wenn die Remix-Edition aber erst nach dem Album rauskommt, nimmst du mit einem Mal die Spannung aus diesem Prozess. Für mich ist die Remix-Edition wie ein Teaser. Es muss ein Teaser sein, denn im Mittelpunkt steht der Output des Künstlers, das Album. Darum veröffentliche ich nie Remixe zusammen mit den eigentlichen Tracks.

Würdest du nicht eigentlich wollen, dass die Leute die Original-Tracks zuerst hören?
Ich bevorzuge es, der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, Nuancen von Künstlern zu sehen, die im Moment in der Szene wichtig sind—darum wähle ich sie aus. Sie sind so etwas wie Filter für die Situation. Ich bevorzuge es, wenn die Leute das finale Objekt durch diese Brille sehen und dann erst das richtige Produkt. Das bietet die Möglichkeit einer breiteren Perspektive—anstatt des Gedanken, nur das Album zu pushen. Es geht darum, neue Perspektiven auf das gleiche Objekt zu ermöglichen. Darum versuche ich sehr bekannte Namen als Remixer zu vermeiden, ich bevorzuge interessante Betrachtungsweisen.

Es scheint, als würdest du deine Zuhörer wirklich herausfordern wollen.
Ja, sehr. Ich meine, ich fordere mich selbst auch heraus, also verdammt noch mal, strengt euch auch ein bisschen an.

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Lucy, Churches Schools and Guns, Stroboscobic Artefacts, 21. Februar 2014, Vinyl / CD / MP3 Folgt Viola auf Twitter: @ville_vallo

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