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Sex, Drugs & Crime—Wie viel Kriminalität gibt es auf Festivals?

​Festivals versprechen ein paar Tage Anarchie, Freiheit und den Ausbruch aus dem langweiligen Alltag. Führt dieses Versprechen zu einer erhöhten Kriminalität?

Laut international gültiger Definition ist eine Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern eine Großstadt. Legt man diesen Maßstab an Festivals an, entsteht etwa beim Rock am Ring mit seinen etwa 90.000 Besuchern und den mehreren tausend Menschen, die auf dem Festival arbeiten, über einen Zeitraum von vier, fünf Tagen fast eine komplette Großstadt. Und diese Großstadt befindet sich auch noch in einem dauerhaften Ausnahmezustand, denn ihr einziger Zweck ist: feiern. Und zwar inklusive Rausch, Alkohol, Sex und Musik. Da liegt die These nahe, dass es an einem solchen Wochenende zu jeder Menge krimineller Handlungen kommt.

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Guckt man sich allerdings die zur Anzeige gebrachten Straftaten an, scheint es ganz anders zu sein. Lars Brummer von der Polizeidirektion Mayen, die seit 30 Jahren für Deutschlands größtes Festival zuständig ist, hat die genauen Zahlen: 337 Strafanzeigen wurden dieses Jahr beim Rock an Ring und in den Tagen danach gestellt. „Das sind sehr wenig Straftaten für ein Festival mit fast 100.000 Besuchern“, sagt Brummer. Dieser Einschätzung schließt sich auch Jacky Jedlicki an, der Teil der Festivalleitung des Rock am Ring ist: „Wir haben kein Problem mit Kriminalität. Natürlich gibt es in einer Situation, in der so viele Menschen zusammenkommen, etwas Unruhe. Aber es gibt bei uns viel weniger Unruhe, als zum Beispiel auf einem Volksfest!“

Tatsächlich sind große Festivals, trotz Rocker-Klischees, Alkoholexzessen und Moshpits insgesamt alles andere als ein Hort der Aggressivität. Das äußert sich auch an den Arten der meist begangenen Straftaten. „Das Gros machen Diebstähle aus Zelten und Taschendiebstähle aus“, sagt Brummer. Dagegen gab es dieses Jahr nur elf Fälle wegen Körperverletzungen. Ein Grund zur Freude für Brummer: „Wenn ich mir überlege, dass ich polizeilich zuständig bin für eine Großstadt, die vier Tage lang durchfeiert, Partylaune und Halligalli macht und dann kommen am Ende nur elf Anzeigen wegen Körperverletzung raus, das ist eine Zahl, die ist verschwindend gering.“ Ähnlich ist die Situation auf dem Wacken Open Air, dem mit 75.000 Besuchern größten Metal-Festival der Welt. Letzten Sommer registrierte die Polizei dort 273 Straftaten, davon mehr als 200 Diebstähle und nur 13 Anzeigen wegen Körperverletzung. 52 Fälle gingen auf Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zurück.

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All das sind offizielle polizeiliche Statistiken. Jan Bauer berichtet allerdings von ganz anderen Zahlen. Der 34-Jährige ist seit acht Jahren der Leiter des Sanitätsdienstes beim Hurricane Festival. Er koordiniert 650 ehrenamtliche Helfer im Zwei-Schicht-System. Gerade ist er aus Scheeßel zurückgekehrt, wo am letzten Wochenende mehr als 60.000 Festivalgänger gefeiert haben. „Wir haben dieses Jahr etwa 2500 Menschen versorgt“, erzählt Bauer. Davon seien 750 Menschen wegen Verletzungen und ähnlich viele wegen Alkohol- oder Drogenkonsum zu den Helfern gekommen. Viele der Verletzungen sind Knöchelfrakturen oder andere Brüche und Stauchungen, wenn Leute auf dem Gelände umknicken oder im Gedränge stürzen. Aber Bauer spricht auch von einer hohen Zahl an Leuten, die aufgrund von Schlägereien bei ihm im Zelt landen. „Schlägereien und Körperverletzungen machen einen großen Anteil der Fälle aus, die wir behandeln“, sagt Bauer. Erstaunlicherweise widerspricht sich das mit den Zahlen der Polizei. Das liegt allerdings ganz einfach daran, dass die Polizei von den meisten Schlägereien gar nichts mitbekommt, denn kaum jemand bringt so etwas zur Anzeige. „Die Zahl an Besuchern, die aufgrund einer Schlägerei von uns behandelt werden, liegt definitiv im dreistelligen Bereich“, sagt Bauer. „Aber die meisten lassen das auf sich beruhen, statt zur Polizei zu gehen.“

Ähnlich ist es mit Drogenkonsum, der meist abseits der wachsamen Augen der Polizei oder der Veranstalter stattfindet. „Etwa ein Viertel der Menschen, die wegen Rauschmittel von uns behandelt werden, haben andere Drogen als Alkohol zu sich genommen“, schätzt Bauer. Dabei handele es sich bei Weitem nicht nur um Cannabis. Auch chemische Drogen seien entgegen der vorherrschenden Meinung, dass es so etwas nur bei elektronischen Festivals gibt, keine Seltenheit. Die Sanitäter sind deshalb auch als Ansprechpartner für Leute da, die einen schlechten Trip haben. Da sie eh der Schweigepflicht unterliegen, helfen sie Betroffenen, ohne dass sie danach gleich zur Polizei rennen würden.

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Sowohl was Drogen als auch Gewaltdelikte angeht, ergibt sich aus diesen Erfahrungen eine Dunkelziffer, die erheblich höher einzuschätzen ist, als das, was am Ende in offiziellen Statistiken landet. Darauf angesprochen, verweigert der Polizist Brummer allerdings jede Spekulation: „Es gibt mit Sicherheit eine Dunkelziffer an Strafbeständen, die nicht angezeigt wurden, aber wie hoch die sind, dazu äußern wir uns nicht.“

Wobei „Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz“ für die meisten Festivalgänger weniger ein Problem sein dürften als für die Polizei. Von Veranstalterseite wird das Thema gar nicht erst zu einem Thema gemacht. Rock am Ring-Mitorganisator Jedlicki sagt, dass es auf dem Rock am Ring kaum Probleme mit Drogen gibt: „Im Großen und Ganzen ufert der Drogenkonsum bei uns nicht aus—wir sind ja kein elektronisches Festival.“ Deshalb gibt es auch keine Drugscouts oder sonstige Ansprechpartner auf dem Rock am Ring.

Ein heikleres Thema als Drogenkriminalität sind sexuelle Übergriffe. Die Hürde zur Polizei zu gehen, wenn sexuelle Gewalt oder Missbrauch im Spiel ist, ist extrem hoch. Viele Opfer schämen sich, fühlen sich mitschuldig, gerade wenn Alkohol oder Drogen im Spiel sind—was bei einem Festival nicht unwahrscheinlich ist. Auch auf dieses Thema angesprochen, hält sich Brummer im Vagen: „Das kommt natürlich vor. Wenn da Frauen bei der Polizei vorsprechen, wird dem sehr ernst nachgegangen. Das ist ein sehr sensibles Thema, auch für uns.“

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Jan Bauer sagt offen, dass sexuelle Gewalt immer ein Thema ist. Für solche Fälle hat das Sanitäter-Team beim Hurricane extra einen abgetrennten Bereich, um Opfern sexueller Gewalt die nötige Ruhe und Diskretion zu garantieren. „Wir haben dieses Jahr auch wieder Fälle gehabt, die kann man aber, um das ganz deutlich zu sagen, an einer Hand abzählen.“ Die Polizei würde nun im Nachgang ermitteln. Oft ist nämlich gar nicht so klar, ob überhaupt eine Vergewaltigung stattgefunden habe, vor allem wenn Alkohol und Drogen im Spiel waren. „Die Grenze zwischen Vergewaltigung und Sex unter Einfluss von Drogen verschwimmt gerade auf so einem Festival sehr schnell“, sagt Bauer. Allerdings nehmen sowohl Sanitäter als auch Polizei jegliche Hinweise auf sexuelle Gewalt sehr ernst. Auf dem Gelände gibt es Fachärzte und Seelsorger, die sich notfalls um Vergewaltigungsopfer kümmern können. „Wenn jemand zu uns kommt und diesen Verdacht äußert, ist da auch etwas dran“, weiß Bauer aus Erfahrung. „Allein weil die Schamgrenze so hoch ist. Man wendet sich damit nicht einfach so an wildfremde Menschen.“ Daher wird die Polizei auch immer mit einbezogen, sobald die Sanitäter mit Vergewaltigung zu tun haben.

Mehr Aufmerksamkeit als klassischer Kriminalität verwendet die Polizei bei solch großen Festivals aber auf kleinere Dinge: Letztes Jahr wurde ein betrunkener Mofafahrer auf dem Weg zum Wacken angehalten, die Polizei stellte 2,28 Promille Alkoholgehalt im Blut fest. Ebenfalls viel polizeiliche Aufmerksamkeit fordern die traditionellen Zeltbrände am letzten Abend—selten kommt es zu Anzeigen, weil die meisten ihre eigenen Zelte abfackeln, für die Sicherheitskräfte ist diese Tradition trotzdem eine Belastung.

Insgesamt geht von Festivalbesuchern aber sehr wenig Aggression und kriminelle Energie aus. „Die Leute kommen mit guter Laune zum Rock am Ring, die wollen da ein paar Tage feiern. Die kommen nicht, um Krawall zu machen“, so Brummer.

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