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Interviews

„Wenn du nach Flint kommst, wirst du gefickt“—King 810 im Interview

Die Heimatstadt von King 810 ist ganz sicher kein Ort, um den American Dream in seinem goldenen Glanz zu bebildern.

Fotos: Gergana Petrova

Wenn du in einer Stadt aufwächst, in der die Chancen 1 zu 36 stehen, dass du Opfer einer Gewalttat wirst, prägt dich das dein ganzes Leben. Die Stadt Flint im US-Bundesstaat Michigan ist ganz sicher kein Ort, um den American Dream in seinem goldenen Glanz zu bebildern. Hier lebt jeder vierte Einwohner in Armut, fast die Hälfte der Immobilien steht leer und bietet höchstens den zahllosen Drogendealern und deren Kunden Platz zum Grassieren. Genau aus dieser Leiche des Kapitalismus kommen King 810. Im Mai wurden die vier Männer aus Flint von dem Label für Mainstream-Metal schlechthin gesignt: Roadrunner Records. Wenn sich ein so großes Label für eine derart unbekannte Band interessiert, sich sogar extra auf den Weg nach „Murdertown“ begibt, um eine Minidoku über deren harten Alltag zu drehen, sind die Erwartungen natürlich hoch, die Welle der zynischen Reaktion des Internets aber noch höher.

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Ich treffe den Sänger David Gunn und den Gitarristen Eugene Gill im Backstage des Berliner Bi Nuu, wenige Stunden vor ihrem Auftritt. Die beiden sind von der Tour sichtlich angeschlagen. Während Eugene ständig vor sich hin hustet, beantwortet David mit heiserer, aber ruhiger Stimme meine Fragen. Auch wenn es ihm scheinbar egal ist, wenn andere Leute die Glaubwürdigkeit seiner Band anzweifeln, so wird er bei dem Thema doch merklich angepisster.

Noisey: Wie läuft eure erste Tour in Deutschland?
David: Es läuft besser, als ich dachte. Wir haben pro Show fünf Leute erwartet, aber die Räume sind ziemlich voll. Es ist verwirrend, weil wir noch nicht herausgefunden haben, was da abgeht. In Deutschland spielen wir die kleinsten Shows der Tour. Aber das ist okay, mir egal.

Wie habt ihr vier euch eigentlich damals getroffen, um King 810 zu gründen?
Als Eugene und ich 15 oder 16 waren, haben wir zusammen Musik gemacht. Ein paar Jahre später kamen dann die anderen zwei dazu und seit 2006 spielen wir in der heutigen Formation. Wir waren nie darauf aus, möglichst viel Releases rauszubringen. Immerhin sind wir seit über sechs Jahren eine Band und haben jetzt nach einer EP unser erstes Album veröffentlicht. Wir wollten eben nicht diese Band sein, die vier Alben rausbringt und immer noch nur in ihrer eigenen Stadt spielt.

Erinnert ihr euch an die erste Show von King 810?
Es war so abgefuckt (grinst). Wir haben in einem Haus von jemandem gespielt, dass wir dadurch zerstört haben. Inzwischen ist das Haus aber abgebrannt. Während unseres Gigs hat sich irgendjemand an ein freilegendendes Abwasserrohr gehängt und es rausgerissen. Alle im Raum wurden mit Abwasser bespritzt. Es war widerlich. Deswegen sind wir das, was wir heute sind. Wir waren von Anfang an ein Stück Scheiße (grinst).

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Viele Leute haben Tätowierungen oder sogar Carvings von King 810. Ziemlich ungewöhnlich für eine relativ kleine Band, so krasse Anhänger zu haben.
Wir treffen einen Nerv, der von anderen Bands nicht getroffen wird. Es ist egal, wie groß die Band ist. Wir schreiben sehr persönliche Songs, die die Leute auf einer tieferen Ebene berühren. Deswegen reicht es ihnen nicht, zu ihren Freunden zu gehen und von ihrer neuen Lieblingsband zu schwärmen. Sie wollen einen Schritt weitergehen. So gesehen ist es ja auch nicht nur einfach eine Band, es ist eine Lebenseinstellung.

Eure Heimatstadt Flint ist untrennbar mit euch verbunden. Die schwierigen Lebensumstände sind omnipräsent in euren Texten und Interviews. Wenn es dort so schlimm ist, warum bleibt ihr dann da?
Es ist unser Zuhause, da wurden wir geboren und erzogen, da gehören wir hin. Wir wollten nie weg, wollten nie einen Vertrag, um wegzukommen. Jeder fragt immer, warum wir nicht wegziehen. Wir hätten schon vor so langer Zeit Flint verlassen können. Aber es würde uns aus unserer Umwelt herausreißen. King 810 wäre nicht King 810, wenn wir nicht in Flint wohnen würden.

Das Stadtmotto von Flint lautet „Strong, Proud“. Ist das eine gute Beschreibung der Bewohner der Stadt?
Ich wusste nicht einmal, dass es ein Motto gibt. Ich weiß nicht… ich denke ja, jeder ist stolz, aus Flint zu sein. Sonst würden wir das nicht so stark hervorheben. Es ist kein leichter Platz, um aufzuwachsen. Wenn du deine späten Zwanziger erlebst, kannst du stolz sein. Denn das ist keine selbstverständliche Sache.

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Hat sich die Lage in den letzten Jahren denn verbessert?
Ich sehe nicht, wie sich etwas verbessert. Vielleicht wird jetzt mehr über positive Sachen berichtet, deswegen scheint es möglicherweise so, als ob es besser wird. Aber die gleichen Probleme, die es während meiner Kindheit gab, existieren immer noch.
Eugene: Zwei Leute haben erst letztens einen Bruder getötet. In einem Laden gleich in meiner Nachbarschaft.
David: Du wirst getötet, einfach so. Klar gibt es Bezirke, die wiederbelebt werden, aber wo ich wohne, wird nichts besser.

Wir hier in Deutschland können die Faszination der Amerikaner für Waffen nicht nachvollziehen. Wären nicht strengere Waffenregulierungen eine Teillösung dieser Gewalt?
Nein, ich habe nie geglaubt, dass Waffen das Problem sind, sondern die Menschen.
Eugene: Klar gibt es Leute, die fanatisch nach Waffen sind und sie sammeln. Eben weil es ihr Recht als Amerikaner ist, eine Waffe zu haben und bla. Wo wir herkommen, sind Waffen eine Notwendigkeit. Du hast sie nicht aus Stolz oder um damit anzugeben.
David: Für dich muss das verrückt klingen. Aber was ist, wenn jeder, den du kennst, eine Waffe trägt? Wenn auch Leute Waffen haben, die dich nicht mögen und dich verletzen wollen? Sie werden nicht kommen, um dich zu verprügeln, sie werden dich einfach erschießen. Was würdest du tun? Würdest du nicht auch eine Waffe besitzen wollen? Du wärst ein Idiot, wenn du keine hättest! Jeder kann am PC sitzen und sagen, wie ignorant das ist und dass Waffen niemals das Problem lösen werden. Aber das wird dich nicht davor bewahren, in Flint erschossen zu werden. Es ist nicht cool, eine Waffe zu haben und sie machen mich nicht glücklich oder sonst was. Ich habe immer das Gefühl, dass alle von außerhalb eine Waffen-Obsession haben. Ich führe ein stundenlanges Interview und der einzige Teil, den sie drucken werden, ist der über Waffen. Dabei schreibe ich nur über Waffen, weil es eine Lüge wäre, das Thema wegzulassen. Für unser Video zum Song „Kill em all“ haben wir echte Aufnahmen von Überwachungskameras benutzt und das hat Leute angepisst. Ich verstehe das nicht. Das ist alles real, wie kann das jemanden beleidigen? Die Leute fegen reale Probleme unter dem Teppich. Ich nicht. Ich will in meinen Songtexten nicht auslassen.

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Vielleicht ist es für andere Menschen eben eine Glorifizierung von Gewalt, für euch aber einfach nur Teil des Alltags.
David: Ja, natürlich. Das kann ich nachvollziehen. Wir haben aber nun mal ein Recht darüber zu schreiben. Es ist Teil unseres Lebens.

Ihr wurdet dieses Jahr von Roadrunner Records gesignt, woraufhin euch viele Leute kritisiert haben. Eben weil ihr bisher nur so wenig Songs veröffentlicht hattet und dass ihr die Gewalt in Flint nur als Image benutzen würdet, weil ihr selbst von den sozialen Problemen kein Stück betroffen seid.
Das interessiert mich nicht wirklich. Ich habe vor 20 Jahren angefangen, Texte zu schreiben, vor 15 Jahren angefangen, Musik zu machen und King 810 gibt es jetzt auch schon seit acht Jahren. Wir wurden also nicht schnell gesignt, das stimmt einfach nicht. Wir waren eben nur lange unter dem Radar, haben rund um die Uhr gespielt, haben härter als jeder andere gearbeitet. Ich habe keinen Job, keine Frau, keine Kinder, keine Karriere und wollte das auch nie. Ich habe keinen College-Abschluss als Notfallplan, für den Fall, dass das hier nicht klappt. Wir hängen nicht mit unseren Freunden ab, um danach nach Hause zu unserer Familie zu gehen, um morgens für einen 9 to 5-Job aufzustehen. Ich wurde in die Musik geworfen und deswegen klingt es so, wie es klingt. Ich höre nicht zu, was irgendjemand zu sagen hat, weil sie mir alle egal sind. Wenn Leute sagen, dass wir nicht aus Flint kommen, waren sie noch nie in Flint. Du kannst vor deinem Laptop hier in Deutschland oder in New York sitzen und das schreiben, aber wenn du nach Flint kommst, wirst du gefickt. Die bloße Vorstellung, dass wir nur Poser, nur ein Label-Gimmick sind, ist ein Witz. Jeder in Flint weiß, dass wir da wohnen.

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Ich glaube, wenn heutzutage eine Band eine ernste Message hat, machen sich die Kids genau darüber lustig, ohne sich wirklich damit zu beschäftigen.
Ja, weil sie denken, dass sie alles besser wissen.

In dem Video zu „Fat Around The Heart“ benutzt ihr euch allerlei Symbole, wie beispielsweise Tierschädelmasken aus dem Voodoo. Wie kamt ihr darauf?
Das Voodoo-Thema zieht sich durch's Album, weil es auf eine Art den unterschwellig religiösen Ton der westlichen Kulturen symbolisiert, der wiederum sehr materialistisch ist. Jeder will Resultate sehen, will so schnell wie möglich reich werden. Im Voodoo spiegelt sich das, da gibt es Zaubersprüche, um reich zu werden oder Glück im Spiel zu haben. Eben Dinge, nach denen sich viele Menschen sehnen. Du willst reich werden? Dann zünde einfach eine grüne Kerze an und am nächsten Morgen wirst du es sein. Das wird nicht passieren, aber trotzdem sehnen wir uns nach solch simplen, übernatürlichen Formeln. Das ist ein Naturzustand.

Das ganze Album ist textlich sehr durchdacht und konzeptionell. Liest du viel, um auf solche Ideen wie mit dem Voodoo zu kommen?
Ich lese zwar viel, aber nicht, um das in Texten zu verarbeiten. Es ist einfach, über all die Dinge auf Memoirs of a Murderer zu schreiben, weil sie wahr sind. Ich erzähle wahre Geschichten, ich muss mir nichts ausdenken. Die Wahrheit ist unterhaltsamer als alles, was ich mir ausdenken könnte. Wenn du deine Memoiren aufnimmst und von deinem eigenen Leben erzählst, lässt du nichts aus. Religion, Politik, persönliche Ansichten und Philosophien werden in deine eigenen Erfahrungen eingebettet. Das Album ist mein bester Versuch, alle Geschichten zu erzählen, die ich in diesem Rahmen erzählen kann.

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Metal Hammer Deutschland haben euch als die neuen Slipknot betitelt. Ärgert dich dieses Nu Metal-Etikett?
Slipknot sollen Nu Metal machen, dabei existiert dieses Genre gar nicht mehr. Es ist ein Bastard von einer Beziehung, die ich nicht verstehe. Ich denke, das ist Bullshit. Als Slipknot herauskam, haben sie sich mit niemandem verglichen, weil es ihnen egal war. Jetzt kommen wir raus und jeder versucht uns mit jemand anderem zu vergleichen. Klar ist der Vergleich mit Slipknot ein Kompliment, aber gleichzeitig sind wir nicht wie sie. Wir spielen halb so schnell, haben halb so viele Mitglieder. Wir sind dumm wie Brot, wir haben nichts mit ihnen gemeinsam. Sie tragen Jumpsuits und Masken, wir ganz normale Sachen. Wir kommen von der Straße, sie aus Iowa. Jemand muss mir erklären, woher dieser Vergleich kommt. Das schreiben dumme Kinder, die nur vor ihrem Rechner hocken.

Ironischerweise tourt ihr jetzt mit Slipknot und Korn.
Beide Bands sind wirklich gut. Mit ihnen zu touren, heißt mit gleichgesinnten Leuten unterwegs zu sein. Wenn wir mit jüngeren Leuten spielen, fühle ich mich nicht wohl. Die und die Kinder vor den Rechnern sind alle gleich. Die Leute von Slipknot und Korn sind eben älter und uns auch von der künstlerischen Perspektive näher.

Memoirs of a Murderer ist bei Roadrunner Records (Warner) erschienen. Holt es euch bei Amazon oder iTunes.

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