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Kanye West ist da, um uns vor uns selbst zu schützen

Irgendwann werden wir Kanye in einer Reihe mit Bob Marley oder Tupac sehen, warum fangen wir nicht einfach heute damit an?

Am Wochenende wird Kanye West beim Governor’s Ball-Festival in New York auftreten. Noch weiß man nicht, ob sein Auftritt aus einem Aufguss seiner Klassiker bestehen wird, oder ob er hauptsächlich neues Material spielen wird. Ich tippe mal darauf (und würde ein Besen fressen, wenn er es nicht tut), dass er ein Haufen Songs vom neuen Album Yeezus spielt. Egal, wann wir das frische Material nun zu Gehör bekommen, werden wir wohl ein berauschend statuiertes Exempel eines Trillionen Dollar teuren Rap-Albums nach Kanyes Geschmack vorgesetzt bekommen. Teilweise wird es dumm klingen, teilweise ideologisch unausgereift, wenn nicht sogar vollkommen abwegig. Viele Leute werden es hassen, ich vielleicht auch. Aber wenn alles gesagt sein wird, dann werden wir wohl verstehen, dass Yeezus das Ergebnis von dem ist, auf das uns Kanye langsam und subtil vorbereitet hat—nämlich dem vielleicht wichtigsten Protest-Album des Jahrzehnts.

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Nur gegen was protestiert Kanye eigentlich? Zieht man mal die beiden Singleauskopplungen „New Slaves“ und „Black Skinhead“ in Betracht, wendet er sich wohl den Themen Rassismus und Klassenunterschieden in den Vereinigten Staaten zu, und wie diese den Alltag und somit das komplette Leben beeinflussen. Diejenigen, die glauben, dass Yeezus nicht ansatzweise so politisch und fokussiert wie erhofft wird, sollten sich mal den Tweet meines Kollegen Craig Jenkins anschauen. Ihm fiel scheinbar als einzigem bisher auf, dass das Veröffentlichungsdatum auf den Juneteenth fällt, den Freedom Day, den Tag, an dem man die Abschaffung der Sklaverei in Texas feiert.

Kanyes komplette Diskografie scheint auf diesen Punkt hinauszulaufen. Seine ersten zwei Alben drehten sich darum, wie man die Spitze erreicht, Graduation kümmerte sich um das Liebesleben, bei 808’s and Heartbreak ging es darum, wie dich das Leben an der Spitze persönlich fertig machen kann, My Beautiful Dark Twisted Fantasy drehte sich um das langsame Ausflippen dort oben und Watch The Throne sah ihn und Jay-Z darüber sinnieren, weshalb nicht mehr schwarze Männer an der Spitze stehen. Jetzt scheint es so, als würde Kanye von seinem Sonnenplatz aus Bilanz ziehen und entschieden haben, dass ihm das, was er durch seine Fendi-Brillengläser sieht, nicht gefällt. Es ist schon erstaunlich, dass der größte schwarze Entertainer Amerikas diese zwei Tracks jenseits des Weißbrot-Fernsehens bei Saturday Night Live debütieren ließ. Das ist hier nicht Das Racist, die ein paar privilegierte weiße Kids in die Music Hall of Williamsburg in Brooklyn pilgern lassen. Das hier ist Kanye West der sich in Millionen weiße Wohnzimmer schleicht und ihnen mitten ins Gesicht folgende Worte sagt: „Schaut euch diese schrecklichen Dinge an, die deine Leute unseren angetan haben und noch immer antun. Wir lassen uns das nicht länger gefallen. Ich bin gerade so angepisst, ich würde hier nicht mal sein, wenn ich nicht etwas extrem Dringendes zu sagen hätte: Fickt euch“. Das wird eine starke Geste sein, die man in einer Reihe mit Aussagen von Bob Marley oder Tupac stellen kann. Es klingt vielleicht noch etwas befremdlich, aber irgendwann werden wir Kanye West mit diesen Leuten vergleichen. Warum fangen wir dann nicht schon jetzt damit an?

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Ungeachtet des noch zu erwartenden Inhalts von Yeezus, löst das Album bereits im Voraus Kontroversen aus. Es gibt weder ein Cover, noch irgendwelche künstlerisch gestalteten Inlays, sondern nur ein Jewel-Case mit etwas rotem Klebeband drauf. Ja, das Kein-Cover-Cover wirkt schon ziemlich abgedroschen, da schon tausende Künstler das gemacht haben, aber trotzdem wohnt diesem Nichts etwas unglaublich kraftvolles inne. Die Ästhetik ist in sich abgeschlossen, was es zu einem unbeschrieben Blatt macht, das einem eigenen Interpretationsfreiraum lässt. Wenn er die zwei Singles aus dem Ärmel schüttelt und dabei seine Lippen über die Bedeutung des Covers geschlossen hält, dann spiegelt sich darin ziemlich eindeutig die Rhetorik der Occupy-Bewegung. Er ist verdammt wütend und er will, dass sich die Dinge ändern. Er wird uns nicht verraten, wie man alles verändert, aber das geht schon in Ordnung. Darum geht es nicht. Es geht einfach darum, dass wir auch verdammt nochmal wütend werden.

Wenn man wirklich revolutionär denkt und kein selbstgerechtes Arschloch ist, dann gehört es dazu, dass man darüber nachdenkt, wie man Menschen beeinflussen kann. Wenn man einen bedeutenden Einfluss auf die Gesellschaft ausüben will, dann sollte man es nicht darauf absehen, dass die Leute einfach die Dinge machen, die man ihnen vorschreibt, sondern dass sie anfangen so zu denken, wie man selbst denkt. Occupy, die absichtlich keine weiteren Ziele verfolgten, als den Leute aufzuzeigen, dass sie existieren und dass sie verdammt nochmal wütend sind, haben das sehr gut gemacht. Als eine Alternative zu all dem gesellschaftlichen Bullshit ist das natürlich nicht zu sehen. Allerdings taugt die Bewegung als etwas, das eine Welle lostreten kann, die die Leute dazu anregen kann über nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen nachzudenken. Es ist schwer etwas so Grundlegendes zu unterdrücken, bzw. es nicht zu thematisieren. Außerdem sympathisiert man mit diesem unbefristeten Protest viel leichter, da er einem sowieso innewohnt. Umgekehrt macht sich Occupy durch diese Qualitäten selbst sehr leicht angreifbar, vor allem wenn man selbst Zyniker ist, was Kanye ja nicht so fern liegt. Diese Art von Aufrechterhaltung und Wagheit macht auch Anarchismus und Marxismus als Abstraktum so überzeugend—es ist einfacher zu sagen: „Jeder Mensch sollte gleichwertig sein und niemand sollte anderen vorschreiben können, was sie zu tun haben“, als wirklich die Details auszuwringen.

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Um das jetzt auf die Musik zu übertragen, es gibt Gerüchte, dass sich West die Gravity Records-Diskografie zur Brust genommen hat und dass Yeezus das widerspiegeln wird. Falls du das nicht weißt, Gravity war das erste—und wahrscheinlich beste—Screamo-Label und die darauf vertretenen Bands operierten auf weitaus steinigeren Ebenen als der Rest der Post-Hardcore-Szene (vergleiche einfach mal Antioch Arrow mit Fugazi und du wirst verstehen, was ich meine). Kanyes neue Singles reflektieren diese Ästhetik, man braucht nur noch dieses unlimitierte Budget und den Zugang zu den größten Talenten im HipHop, die Kanye nur einfach anzutippen braucht, wenn er sie haben will, hinzufügen. Obwohl „Black Skinhead“ oder „New Slaves“ auf einem künstlerischen Level zweifelsohne brillant sind, könnte man sie jedoch durchaus als „schwierig“ beschreiben, im Besonderen, wenn man sie mit, sagen wir, „Good Life“ vergleicht. Das ganze Wissen, das in jedem einzelnen Album Yeezys steckt, macht ihn zu einem der komplexesten und interessantes Künstler, die der HipHop jemals erleben durfte. Aber die meisten haben sich immer nur auf die Hooks konzentriert und nicht auf die Stiche, die er verteilt, zumindest bis jetzt. Vielleicht musste Kanye in den Durchgeknallter-Typ-Modus wechseln, um die Leute aufzuwecken.

Viele Leute denken, dass es für Kanye unmöglich ist, innerhalb dieses einen Prozents zu operieren, obwohl er für 99% spricht. Diese Leute haben es einfach noch nicht verstanden. Es liegt in der Natur, an einem Prozess Reiz zu finden und teilzunehmen, gerade wenn er ein kapitalistischer ist, während man gleichzeitig weiß, dass er entsetzlich ist. Wer sollte es besser realisieren können, dass die Maschinerie im Inneren fehlerhaft ist und dass sie zerstört werden muss, als jemand, der selbst ein Zahnrad ebendieser ist? Es ist für dieses Zahnrad letztlich viel einfacher die Maschine vom Inneren heraus zu zerstören, als für sonst jemand anderen.

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Kanye West könnte die legitime Stimme unserer Generation werden, und ich glaube, in den letzten paar Jahren hat er gemerkt, was das bedeutet. Amerika steht gerade an einem eigenartigen gesellschaftlichen Punkt. Viele Dominosteine werden aufgebaut und was in den kommenden Jahren passiert, wird die folgenden Jahrzehnte stark beeinflussen. Occupy hat uns bereits in die richtige Richtung gestoßen, aber dieser Impuls darf sich jetzt nicht auswaschen, wir dürfen nicht selbstgefällig werden in einer Gesellschaft, die sich durch so viel Ungleichheit auszeichnet. Kanye versteht das. Die Staaten haben einen schwarzen Präsidenten, aber das hat den Rassismus nicht beseitigt und es stoppte Kanye auch nicht davor, unfairerweise bloßgestellt zu werden, als er sich gegen Taylor Swift aussprach, die ungerechtfertigter Weise gegen Beyoncé bei den VMAs gewann. Von Yeezy war das natürlich eine ziemlich triviale Aktion, aber die rassistischen Attitüden und Worte, die seine Handlung hervorriefen, waren das auf jeden Fall nicht. Kanye West wird Vater und er will die Welt, bevor er das Kind in diese setzt, zu einem besseren Ort machen. Ist das egoistisch? Auf jeden Fall. Macht das aus ihm ein Arschloch? Vielleicht. Aber hier geht es nicht darum, ob du mal mit Kanye ein Bier trinken gehst oder nicht. Es geht hier um ihn, als eine Symbolfigur mit einer Botschaft, die größer als er selbst ist und um eine Plattform, von der aus er sie verbreitet. Er ist dieser fehlerhafte, egomanische Revolutionär, den unsere Kultur verdient hat, und er ist da, um uns vor uns selbst zu schützen.

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Drew Millard ist Redakteur der amerikanischen Noisey-Seite. Folge ihm bei Twitter - @drewmillard

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