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Interviews

Anarchy in the US: Johnny Rotten ist der letzte Überlebende des Punk

Wir haben Johnny Rotten getroffen, um mit dem „König der Punks“ über seine neue Heimat, Sid Vicious' Tod und Sex Pistols-Merch zu reden.

John Lydon sitzt irgendwo in Malibu und nippt abwechselnd an einem Bier und zieht an einer Zigarette. Natürlich sitzen wir an einem Pool—oder zumindest an einem Picknick-Tisch auf einem Sonnendeck mit Blick auf den Pool. Lydon gibt einen lauten Rülpser von sich und sagt: „Jazz-Klänge. Warum habe ich die nicht auf das Album gepackt? Oh, hallo. Das habe ich.“ Das Album, über das er spricht, ist der neuste Streich von Public Image Ltd. und trägt den Namen What the World Needs Now... Die berühmte Schnulzensängerin Jackie DeShannon würde die Lücke auf jeden Fall mit „is love“ füllen, wie sie es in ihrem 1965er Hit getan hat, aber es scheint dann doch etwas unwahrscheinlich, dass der ehemalige Sex Pistol in Richtung einer solchen Gefühlsduselei abzielt. Doch du wirst vielleicht überrascht sein: Ein Vierteljahrhundert in Amerika und unzählige Jahrzehnte Beschallung mit Reggae können tiefe Veränderungen bei einer Person bewirken. Der Künstler, den wir früher unter dem Namen Johnny Rotten kannten, ist nicht mehr so ganz der wütende junge Mann, der 1977 der Queen zwei Finger entgegenstreckte. Heutzutage zieht er seine Einflüsse aus dem sonnigen Kalifornien—Johnny Rotten ist jetzt nämlich amerikanischer Staatsbürger. Und er hat eine Menge dazu zu sagen.

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Noisey: Du gibst jetzt schon seit 40 Jahren Interviews. Was hältst du mittlerweile davon?
John Lydon: Ich mache das wirklich gerne. Da die Briten nun mal so sind, wie sie sind, musste ich am Anfang einige Dinge überwinden. Es waren meistens übellaunige Bildungsbürger, die mich niedermachen wollten. Diese Tage sind aber vorbei und allein durch mein Durchhaltevermögen habe ich sie alle zermürbt. Heutzutage hat es mehr von einer sehr guten Unterhaltung zwischen Menschen, und ich lerne von ihnen so viel wie sie von mir. So arrangiere ich mich mit der Welt.

Selbst bei den frühen Sex Pistols-Interviews, die du als sehr, sehr junger Mann gegeben hast, schienst du ein Gespür für Medien zu haben, das die meisten 20- oder 21-Jährigen nicht haben. Was meinst du, woran das liegt?
Wow (lacht). Tja, ich habe fantastische Verteidigungsstrategien. Das lässt sich darauf zurückführen, dass ich eine schwere Krankheit in meiner Kindheit überlebt habe, die mich fast umgebracht hätte. Ich verlor mein Gedächtnis und habe so lange dafür gebraucht, mich wieder daran zu erinnern, wer ich war, und meine Persönlichkeit zu finden, dass es mich wahrscheinlich für die Zukunft ziemlich gut aufgestellt hat. Dass ich die Zeit zwischen sieben und elf damit verbracht habe, mich von einer Rückenmarks-Meningitis zu erholen, hat mich wohl zu dem gemacht, was ich heute bin. Körperlich bin ich baufällig, aber mental noch effizient (lacht) Bis das aufhört, werde ich das Leben einfach weiter genießen.

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Ich habe gehört, dass du vor kurzem amerikanischer Staatsbürger geworden bist.
Ja, vor zwei Jahren und ich bin sehr, sehr froh darüber. Weißt du aber, was mich erstaunt? Wenn ich mit amerikanischen Journalisten rede, dann bekomme ich nie ein „gut gemacht!“ oder so zu hören. Da ist immer nur diese Wand aus Negativität und ich will wissen, was das bedeutet. Seien wir doch mal ehrlich: Ich bin kein Freund von irgendeiner Regierung auf der Welt, aber wenn mich die amerikanische Regierung akzeptiert hat—von all den Menschen auf der Welt, die einem Ärger bereiten können—freust du dich dann nicht für mich?

Natürlich, aber es ist schon überraschend. Als Amerikaner, der in Großbritannien und Europa war—vor allem während der Bush-Jahre—habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich kein halbwegs vernünftig tickender, politischer Brite oder Europäer auf die Seite der USA stellen würde.
Ich hätte das auch niemals während der Bush-Jahre gemacht. Die Art, wie Amerika sich selbst in der Welt präsentiert hat—als gierige, egoistische, gewalttätige Monster—war einfach grauenvoll. Und feige Monster dazu, die sich immer hinter Raketen und an den Haaren herbeigezogener Waffenpolitik versteckt haben. Die Realität sieht jetzt aber ein bisschen anders aus. Amerika hat das Potenzial, eine Nation zu sein, die sich tatsächlich um seine Leidenden, Verwundeten, Kranken und Entrechteten kümmert. Das ist durch Obamacare möglich geworden. Es war also Obama, der meine Meinung geändert hat. Egal wie bescheuert die Republikaner auch dagegen wettern, ich kann mir nicht vorstellen, wie sie das wieder rückgängig machen. Und weißt du was? Ich darf jetzt wählen.

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Wirst du das?
Ja, ich werde. Und ich wähle vernünftig. Ich werde jeden wählen, der nicht wieder alles abschaffen wird, was die Menschen hier brauchen. Ich habe kein Problem damit, Steuern für meine Mitmenschen zu zahlen.

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Foto von Paul Heartfield

Gut, dann lass mich doch direkt mal der erste amerikanische Journalist sein, der dich in Amerika Willkommen heißt.
(lacht) In Europa gucken mich alle deswegen komisch an, weil dort niemand für Amerika einsteht. Aber ich tue das. Ich liebe die Menschen hier. Es ist ein neues Land und es gibt immer noch die Möglichkeit, alles zum Guten zu wenden. Hier ist nicht alles verseucht vom Feudalismus und uralten Katastrophen.

Wie zum Beispiel?
Monarchie. Religion. Nun, hier gibt es auch eine Version von Religion, aber—und ich bin jetzt schon lange in Amerika—ich glaube, dass ihr auch eine instinktive Aversion dagegen habt. Ich kann nicht für jeden sprechen, der in einem Trailer lebt, aber das scheinen die Menschen zu sein, die am wenigsten zuhören. Und das ist schlimm. Was ist denn beispielsweise an menschlicher Sexualität so angsteinflößend? Wir müssen endlich damit klarkommen. Es sind immer die Republikaner, die wegen solchen Sachen auf die Barrikaden gehen, und eigentlich sind das doch die, die nachts, wenn keiner von uns zuschaut, in Bondage-Ausrüstung rumlaufen (lacht).

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Genau wie es immer Rechte sind, die darauf bestehen, dass Homosexualität böse ist, aber dann im Hotelzimmer beim Meth rauchen mit einem männlichen Prostituierten erwischt werden.
Diese Rechten sind unglaublich witzig. Die setzen sich immer für Familienwerte ein, ohne irgendeinen Plan davon zu haben, was das eigentlich bedeutet. Meine Mitmenschen sind meine Familie. Solange du deine Mitmenschen nicht bestiehlst oder schlecht machst, ist mir alles egal. Sexualität, wen interessiert’s? Ich ziehe die Grenze bei Kindesmissbrauch und Pädophilie, aber alles andere? Es tut doch niemandem weh und geht dich außerdem nichts an. Wir müssen aufhören, in Kategorien und Klischees zu denken. Wir müssen verstehen, dass wir als menschliche Wesen alle Individuen sind. Seid einfach unvoreingenommen.

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Was hat dich vor 25 Jahren denn nach Amerika hergebracht?
Nun, wir haben keine Gigs in Europa bekommen, weil wir ständig überall Auftrittsverbot bekommen hatten und—schon wieder—wegen des Klassensystems. Egal, was ich gemacht oder gesagt habe, man hörte mir nie wirklich zu. Es waren immer dieselben etablierten Medien, die mich als „Prolet“, „Ignorant“ oder „Mitglied der Arbeiterklasse“ niedergemacht haben. Ich wurde also wie von selbst zu einem Rebell—und wenn du mal darüber nachdenkst, ist Amerika die Heimat der Rebellion. Guck dir doch mal an, was ihr mit der Royal Family gemacht habt (lacht)! Hallo, das ist doch der richtige Ort für mich. Der einzige Fehler war es, den ganzen Tee in den Hafen von Boston zu schmeißen. Den hättet ihr doch auch einfach verhökern können—das ist doch rausgeschmissenes Geld.

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Was denkst du, was hätte Johnny Rotten 1977 gesagt, was die Welt braucht?
Genau das gleiche. Ich habe Werte, die sich nicht ändern, weil sie auf meiner Lebenserfahrung beruhen. Ich würde zum Beispiel niemals die Republikaner wählen (lacht). Sorry, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass diese kriegstreibende Philosophie irgendwas für mich sein könnte. Und alles, was sich hinter religiöser Moral versteckt, ist ein Verbrechen gegen die Natur (rülpst). Das bedeutet für uns einfach nichts Gutes.

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Was sagst du eigentlich dazu, dass T-Shirts von den Sex Pistols in den letzten 20 Jahren allgegenwärtig geworden sind?
Diese ganze Sex Pistols-Industrie ist sehr gefährlich und deswegen muss ich da ständig ein Auge drauf haben. Diese Art der Kontrolle ist teuer, aber ich will nicht, dass das Erbe und die Qualität von dem, was wir gemacht haben, auf das herabgesetzt wird, was zum Beispiel KISS so sehr verfolgen. Versteh mich nicht falsch, das ist alles toll für die und ich finde es toll, was sie machen, denn sie wissen selbst, dass ihre Alben scheiße sind, also verkaufen sie mehr anderen Mist (lacht). Die Pistols sind aber etwas Anderes. Die Herausforderungen, vor die wir die Gesellschaft gestellt haben, waren so unglaublich ernst gemeint und hatten so ernste Konsequenzen, dass ich nicht will, dass es in einem Sumpf aus „KISS me quick“-Mützen und Strandmüll endet. Ich möchte, dass auch das jüngere Publikum sich bewusst darüber ist, was wir für sie getan haben. Eine Menge der Freiheiten, die Menschen heute als selbstverständlich sehen, sind Sachen für die wir eine Menge Druck und Stress aushalten mussten. Über mich wurde öffentlich im Parlament unter dem Traitors and Treason Act, der auch die Todesstrafe beinhaltete, diskutiert. Dann sag mir doch mal, wer der König der Punks ist? Ich ein Angeber? Das ist keine Angeberei. Mir drohte der Tod—oder wenigstens Jahre im Gefängnis.

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Was denkst du über so Sachen wie die Warped Tour, bei der jedes Jahr Punkwerte rumposaunt werden, die aber kaum etwas mit dem Ethos zu tun haben, den ihr in die Welt gesetzt habt?
Du musst mir erst mal erklären, was die Warped Tour ist (lacht).

OK, lass mich die Frage anders stellen: Hast du das Gefühl, euer Erbe wurde verfälscht?
Ja, das wurde es definitiv. Auf der einen Seite ist daraus gewalttätiges, prolliges und dummes Verhalten geworden, auf der anderen Seite hast du Green Day, die vor allem Kleiderständer für Lederjacken mit Nieten sind. Beide Seiten sind abscheulich und schlimm und wegen beiden bereue ich es, die Person gewesen zu sein, die ihnen die Stimme und die Möglichkeit gegeben hat. Das ist schon eine bizarre Sache, mit der ich mich rumschlagen muss. Du setzt etwas mit der besten Absicht, die du überhaupt haben kannst, in die Welt und es verkommt zu diesem bodenlosen Loch aus Verbitterung, Langweile, dummer Gedanken und Macho-Nonsens. Ich war Working Class, lange bevor ich König der Punks wurde, und meine Ideologie bestand schon immer darin, die Situation meiner Kultur in der Welt zu verbessern.

Fühlst du dich verantwortlich für das, was die nächste Generation mit deinem Erbe anstellt?
Ich muss mich verantwortlich fühlen. Ich muss darauf eingehen. Jedes Mal, wenn mir einer dieser Menschen über den Weg läuft, sind sie mir gegenüber sehr feindselig gestimmt.

Wie meinst du das?
Die sind ganz einfach richtig scheiße zu mir und gehen mich sogar körperlich an—so sehr verabscheuen sie mich.

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Woran liegt das deiner Meinung nach?
Der einfachste und auch niedrigste Instinkt, den ein Mensch hat, ist Eifersucht. Sie ist die Wurzel der sieben Todsünden. Es entspricht einfach der Realität menschlicher Wesen, sich gegenseitig niederzumachen und nicht zuhören zu wollen. Es ist ungesund. Es kann nur einen Johnny Rotten geben. Warum würdest du denn überhaupt wie ich sein wollen? Warum teilst du nicht einfach deine eigene Lebenserfahrung mit uns? Versuch nicht einfach, meine zu kopieren. Das ist wie bei Teufelsanbetern: Satan wäre schockiert und überrascht, wenn er seine Anhänger sehen würde. Und die wiederum wären zu dumm, um ihn zu verstehen oder zu akzeptieren.

Wurde PiL auch als Reaktion auf die Sex Pistols gegründet?
Nicht als Reaktion—es geschah automatisch. Ich hatte irgendwann einfach nur den Nonsens und die Presse leid, nach der Malcom [Sex Pistols' Manager] so süchtig wurde. Es war ein Fiasko. Er nahm es einfach nicht ernst und ich wusste, dass das, was ich schreibe, ernstgenommen werden musste. Ich habe mir diese Wörter nicht nur als schnoddrig-schlagfertige Belanglosigkeiten ausgedacht. Es war klar, dass wir uns auflösen würden, und so kam es dann ja auch. Ich musste etwas Neues machen und nicht einfach nur kopieren, was ich schon gemacht hatte. So entstand PiL. Ich versuchte, Freunde mit ins Boot zu holen, was nicht immer geklappt hat. Einige dieser Freunde blieben Freunde—und andere Freunde wurden Feinde. Das ist die Lektion im Leben, die man lernt. PiL ist aber mein Herz und meine Seele. Es ist dazu da, zu sagen, wie es wirklich ist. Und bevor ich mit dem Finger auf andere Zeige, verpasse ich mir lieber selber ordentlich eine für meine eigenen Fehler. Die habe ich definitiv auch.

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Du bist seit der Gründung 1978 das einzige ständige Mitglied von PiL und die Liste an ehemaligen Bandkollegen ist ziemlich lang. Hast du manchmal das Gefühl, der letzte Überlebende zu sein?
Ich habe mich selbst den letzten Überlebenden genannt, aber das bezog sich auf die Punk-Bewegung. Ich finde nicht, dass die Bewegung als Bewegung weiter existiert hat. Es wurde alles ziemlich statisch und spießig. Sie hat sich fast in ihrer eigenen Blase eingesperrt und sich selbst mit dem rigiden Zwang zu einem Punk-Look beinahe aus der Existenz diszipliniert. Darüber hinaus [adoptierte] sie diese bescheuerte Art, Taktiken der Gewalt einzusetzen, anstatt sich intelligent mit Dingen auseinanderzusetzen. Für mich wird das Wort immer mächtiger als das Schwert sein (rülpst)

Einer meiner Lieblingsgitarristen überhaupt, John McGeoch, spielte von 1986 bis 1992 bei PiL…
Er war ein toller Freund, aber wir haben uns verkracht, weil er zu viel gesoffen hat—auf eine so ernsthaft schädigende und abartige Art. Solche Dinge passieren. Manchmal machen Menschen Fehler und du tust dein Bestes, um sie davon wegzukriegen, aber sie wollen einfach nicht hören. Ich habe so viele Musikerfreunde verloren—Sid [Vicious], McGeoch—sie werden irgendwann egozentrisch. Das darf man nicht. Du musst noch über dich lachen können. So schaffst du es auch, aus dieser Falle zu kommen, und dich auch wirklich zu analysieren. Wenn du über dich selbst lachen kannst, dann merkst du auch, wenn du was Blödes machst. Das Ironische bei John ist, dass er sehr, sehr lustig sein konnte. Sobald er aber zu viel Alkohol intus hatte, war er schlecht gelaunt. Er liebte Martinis. Sobald er bei sechs, sieben, acht war—dann war’s das. Irgendwo legte sich bei ihm ein Schalter um und du musstest aufstehen und dich von ihm fernhalten. Ich habe es aber geliebt, mit ihm zu arbeiten.

Hast du jemals das Gefühl gehabt, dass Johns und Sids Tode bei ihrem Lebensstil unausweichlich waren?
Nein… Nun, es war nicht unausweichlich, dass das ihr Lebensstil werden würde, aber als sie diesen direkten und einfachen Ausweg gewählt hatten, war auch der Tod unausweichlich. Die haben sich da quasi selber reingetrieben. Sie hatten sich alle anderen Möglichkeiten verschlossen—absichtlich. Es ist sehr schwer, mit so etwas klarzukommen. Freunde, die Überlebenden, werden mit einem Schuldgefühl zurückgelassen und denken sich unweigerlich: „Was hätte ich noch tun können?“ Der Ausweg Selbstmord ist eine der egoistischsten Sachen, die du machen kannst. Du schädigst und kränkst damit deine Freunde. So etwas sollte generell keine Option sein.

J. Bennett ist eher Antichrist als Anarchist. Er spielt Gitarre bei Ides of Gemini.

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