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Joey Cape von Lagwagon verachtet die Überproduktion in der Musik

Lagwagon's Frontsänger Joey Cape hat gerade sein eigenes Label gegründet. One Week Records gibt Musikern eine Woche lang Zeit ihre komplette Platte aufzunehmen.

Joey Cape und Jo Bergeron machen eine Pause und gehen in der Nähe vom One Week Records-Studio spazieren

Joey Cape ist der Frontsänger der legendären kalifornischen Punkband Lagwagon. Vor ein paar Wochen hat Joey in seinem Haus in San Francisco sein neues Label und Recording-Studio One Week Records gestartet. Das Besondere daran: Musiker ziehen für sieben Tage bei Joey ein. In dieser Zeit schreiben sie gemeinsam zehn neue Songs und nehmen sie auf. Joeys Mission ist es, die Überproduktion in der neueren Musik anzuprangern und wieder die Songs in den Mittelpunkt zu stellen. Die ersten beiden Musiker, die bei Joey aufgenommen haben, sind Chris Cresswell von Flatliners und Brian Wahlstrom von Scorpios.

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Wir haben Joey über sein neues Label, die ersten Aufnahmesessions, das dämonische Auto-Tune und die Zukunft der Musik befragt. Außerdem hat er uns verraten, was es bei Lagwagon neues gibt.

Noisey: Ich stelle dir gleich mal zu Beginn die vielleicht offensichtlichste Frage: Wie bist du auf die Idee deines neuen Labels One Week Records gekommen?
Joey Cape: Ich mache ja eigentlich seit mehr als 20 Jahren nichts anderes als Musik. Musik ist mein ständiger Begleiter. Mir gefällt es wirklich gut, Songs zu produzieren. Außerdem werde ich auch nicht jünger. Ich habe mich also gefragt, was ich außer Touren noch machen könnte. Ich suche eigentlich ständig nach einer Ausrede, im Studio statt auf Tour zu sein. Und das neue Label schien am besten. Ich hatte ja schon andere Label, bei denen ich LPs und CDs machte und mich zudem um den Versand kümmerte. Das wollte ich dieses Mal auf keinen Fall. Deswegen mache ich jetzt nur Downloads. Bei One Week Records stehen der Künstler und die Songs im Vordergrund. Die Hauptidee war also, wie man eine aufs Wesentliche vereinfachte Platte aufnehmen könnte und das in sehr kurzer Zeit. Wir schreiben und nehmen das Album ja innerhalb einer Woche auf. Das Gute daran ist, dass, wenn du wenig Zeit hast, dann kannst du auch nicht überproduzieren. Schau, ich nehme ständig selbst Demos auf und auch andere Musiker geben mir ihre Demos. Oft sind die wirklich großartig, aber sobald der Song dann im Studio aufgenommen wurde, fehlt irgendwas.

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Findest du, dass Überproduktion momentan ein Problem in der Musik ist?
Oft kennen wir ja nur das produzierte Album und nicht die einfache Demoversion. Ich als jemand, der selbst im Studio arbeitet, weiß, wie viel du mit Effekten verändern oder eher manipulieren kannst. Bei Lagwagon hatten wir schon so oft die Situation, dass ein Song bei den Proben wirklich großartig klingt, dass da irgendetwas dran ist. Sobald wir aufnehmen gehen, versuchen wir so sehr dieses etwas, dieses Natürliche hinzubekommen. Aber eigentlich könnte das auch einfach gemacht werden, indem du es live aufnimmst. Das machen wir hier jetzt bei One Week Records. Ich stelle Mikrofone auf und lade Leute ein, die tatsächlich spielen und singen können. Im Studio ist alles unter einem Vergrößerungsglas, also kann es schon passieren, dass du überproduzierst. Es gibt immer kleine „Fehler“, die du leicht reparieren kannst. Wenn du dich aber zeitlich einschränkst und das eben nicht mehr machen kannst, bekommst du so ein schönes Ergebnis. Denn außerhalb des Studios hörst du das nicht mehr als Fehler, sondern als natürliche Unvollkommenheiten, die du niemals künstlich herstellen kannst, den Song aber umso wertvoller machen. Egal wie viel Technik du drüberziehst. Ich glaube wirklich von ganzem Herzen, dass es gerade diese Elemente eines Songs sind, auf die die Menschen reagieren. Weißt du, wenn ein Singer-Songwriter einen Song zum ersten Mal aufnimmt, dann sind vielleicht die Lyrics noch nicht so gut, aber da bei der ersten Inkarnation des Liedes geschieht oft irgendwas Großartiges, Einmaliges.

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Nehmt ihr die Sessions eigentlich live auf?
Ja das ist das Ideal. Also erstes Instrument plus Stimme. Dann kommen die anderen Instrumente nach und nach dazu. Weißt du, das Schlimme an der Musik der letzten zwei Jahrzehnte ist, dass es so viele „Musiker“ gibt, die gar nicht wirklich ihre Instrumente spielen können.

Welche Folkmusiker waren denn dann besonders einflussreich auf dich?
Als Kind habe ich Johnny Cash und Simon & Garfunkel gehört. Mein Elternhaus war sehr musikalisch, es lief ständig irgendwo Musik. Viel Pop, Rock und Klassik. Was du generell über ältere Musik sagen kannst, ist, dass sie echte Performances waren. Die Platten klangen einfach natürlicher. Ich verehre das. Deswegen liebe ich auch Demotapes so sehr. Die haben eine innere Schönheit. Später habe ich viel Elliot Smith gehört. Seine Platten wurden oft einfach in einem Zimmer aufgenommen. Sehr leise, um seine Nachbarn nicht aufzuwecken. Das ist einfach großartig. Oder denk an die Band Neutral Milk Hotel. Da war so viel raue Energie dran. Da ging es einfach um die Songs. Es geht doch eigentlich immer um die Songs. Ich finde irgendwie, dass die ganze Musikindustrie in den letzten 20 Jahren extrem aus den Fugen geraten ist.

Inwiefern meinst du das?
Ich meine die Produktion der Musik. Alles klingt doch mittlerweile so ähnlich. Alles wird maximiert bis zu dem Punkt, an dem es komplett gleichgeschaltet ist. Maximale Kompression und null Dynamik. Dazu kommen dann noch Auto-Tunes, die die Stimmen gleich klingen lassen und Sample-Drums. Und da draußen gibt es eben nur eine bestimmte Anzahl an Sample-Drums, also klingt das auch wieder gleich, weil alle das Gleiche benutzen. Ich frage mich so oft, „was zur Hölle tun wir da eigentlich?! Warum tun wir das?!“.

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Ich höre leichte Verachtung raus, was ich gut verstehen kann. Mir taugt diese Gleichmacherei auch null.
Ich mag es wirklich nicht. Um ehrlich zu sein, es tut mir in meinen Ohren weh. Schau, meine Tochter ist zehn Jahre alt. Ich weiß also, was für Musik es da draußen gibt. Sie fragt mich fast täglich, ob sie diesen oder jenen Song runterladen kann. Ich sage natürlich jedes Mal ja, weil ich ihr Sklave bin. Haha. Ich habe ihr irgendwann Auto-Tune gezeigt, um ihr klarzumachen, dass da oft gar nicht mehr richtig gesungen wird. Sie weiß jetzt, was es ist. Sie erkennt es von selbst. Denn viel von der Musik, die sie hört, ist eben mit Auto-Tune gemacht. Aber zum Glück kann sie es raushören. Je weniger Effekte du benutzt, desto mehr geht es um die Musik. Dafür ist auch mein neues Label da. Ich kann also bei One Week Records das machen, was ich am liebsten tue und muss dabei nicht diesen Wahn nach Perfektion mitmachen. Es geht mehr um den Augenblick.

Wie waren denn die ersten beiden Aufnahmesessions?
Großartig. Klar haben wir viel Stress, denn wir haben ja nur eine Woche für Songwriting und Aufnahme. Zehn Songs in sieben Tagen. Aber hey, das Ziel ist doch, 'ne gute Zeit zu haben. Wir trinken also jeden Abend zusammen und scherzen rum. Es wäre ja auch nicht das Ende der Welt, wenn es nicht klappen würde. Ich versuche also, einfach eine gute Atmosphäre zu schaffen.

Wieso genau eine Woche?
Im Leben eines Musikers ist eine Woche wirklich nicht lang. Die meisten Touren sind viel länger als das. Wir haben minimale Preproduction und führen ein paar Gespräche bevor wir aufnehmen. Für eine Woche kommst du dann hierher, schläfst hier und hast dein eigenes Bad und Schlüssel. Die Musiker leben mit mir, bekommen Kaffee und Schnaps oder was auch immer sie wollen. Für mich ist das einfach genau die richtige Länge. Ich glaube wirklich, dass das die Zukunft ist. Es gibt ja schon viele Labels, die etwas ähnliches machen.

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Warum meinst du, ist das so?
Platten verkaufen sich nicht mehr so gut wie früher. Das weiß jeder. Alle suchen also nach Möglichkeiten, Musik machen zu können. Aber was dabei schon wichtig ist, ist ein guter Producer. Producer und Studio sind aber sauteuer. Also machen viele ihre Aufnahmen zu Hause. Das ist schon OK, aber oft ist es sinnvoll, einen Gatekeeper zu haben. Manche mögen ja gute Musiker sein, können aber nicht gut aufnehmen. Mir gefällt es schon, dass jeder seine Musik teilen kann. Aber es braucht schon auch eine Qualitätskontrolle. Ich brauche das auch. Wenn ich Vocals aufnehme, benötige ich ab einem bestimmten Punkt einfach eine zweite Meinung. Bei Lagwagon arbeiten wir seit 20 Jahren mit dem gleichen Producer. Wir vertrauen ihm. Zusammenarbeit ist extrem wichtig für ein gutes Album. Die Welt ändert sich. Die Leute vertrauen sich weniger. Geld ist immer ein Problem, Labels sterben. Also muss irgendwas passieren, um weiterhin gute, echte Musik machen zu können. Klar gibt es da draußen Leute, die meinen, dass alles was sie schreiben Gold ist. Hahaha. Leider ist das oft nicht so wahr wie sie glauben.

Wie haben die ersten Musiker reagiert, als du sie gefragt hast?
Sie waren wirklich interessiert daran. Ich hoffe irgendwie, dass ich irgendwann von Musikern gefragt werde, ob sie bei mir aufnehmen wollen. Zum Teil passiert das auch schon. Denn dann hast du diejenigen bei dir im Studio, die wirklich Lust drauf haben. Dann fühlt es sich nicht so an, als würde ich jemanden in ein Gefängnis sperren. Haha. Ich habe schon so viele Demos erhalten, seit ich das Label offiziell begonnen habe. In sehr kurzer Zeit.

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Wie veröffentlicht One Week Records?
Wir stellen die Alben als 24bit-Daten als Download zur Verfügung. Wir haben auch mp3s, aber die 24bit-Dateien klingen einfach besser. So, wie im Studio. Ich hoffe, die Leute laden das runter. Außerdem erlauben wir den Künstlern, die bei uns aufnehmen vertraglich—irgendwie seltsam, dass ich überhaupt vertraglich sage, aber gut—,ihre Aufnahmen auf Vinyl pressen zu lassen. Alles was sie tun müssen, ist mir davon eine zu geben. Und dann können sie damit machen, was sie wollen. So können sie ihre Platten auf Tour verkaufen. CDs sind und waren für mich immer völlig nutzlos.

Du hast gerade deine Band Lagwagon erwähnt. Habt ihr irgendwas neues in Planung?
Ja, wir haben erst kürzlich mit den Aufnahmen für unser neues Album begonnen. Unser Drummer nimmt gerade auf. Ich spiele nächste Woche Gitarre und Bass ein. Es ist freilich der schlechteste Zeitpunkt, den du dir vorstellen kannst. Ich habe gerade mein Label gestartet, für das es zwei Jahre Vorarbeit gebraucht hat. Dazu muss ich ständig für Lagwagon ins Studio. Ich bin ein bisschen überarbeitet im Moment. Aber es macht mich sehr glücklich, dass wir gegen Ende des Jahres ein neues Album haben werden. Lagwagon ist aber klar auch das Wichtigste im Moment. Das war immer so. Unsere neuen Songs sind richtig stark.

Hast du eigentlich noch nen normalen Job neben der Musik?
Hey ich arbeite 14 Stunden am Tag. Nur für die Musik. Also, ja!, ich habe einen Job, zufällig ist es eben Musik. Ich hatte seit 15 Jahren keinen normalen Job mehr. Das ist einerseits schon großartig. Manchmal denke ich mir aber schon—und ich weiß, dass das irre ist—, „Hey, wäre es nicht schön, einen Bürojob zu haben, bei dem ich vielleicht 40 bis 60 Stunden die Woche arbeite?“ Früher habe ich Häuser gestrichen. Da gibt es Struktur und so weiter. Das gibt es in der Musik weniger. Ich sitze den ganzen Tag in einem kleinen Zimmer und mixe Alben. Das kann schon einsam werden. Es ist nicht so einfach, wie alle denken. Und dazu die Touren. Versteh mich nicht falsch, ich mag es zu touren. Aber ich mache das jetzt seit 25 Jahren. Ich war überall. Zwar reise ich noch gerne und mag neues Essen, Live zu spielen macht auch Spaß. Ich beschwere mich nicht, versteh das nicht falsch, aber ja ich arbeite …viel.

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Das kann ich hören. Was ist denn am Touren besonders schlimm?
Also über das Schlimmste, was je passiert ist, kann ich nicht einmal reden. Weil es einfach zu krass ist. Aber wenn es dein Job ist, zu reisen, dann wirst du heftige Dinge mitmachen. Vieles davon ist großartig. Ich kann so ein Leben wirklich empfehlen. Ich habe so viel gesehen und es hat mich verändert. Die Welt wäre wohl ein besserer Ort, wenn wir mehr reisen würden, wir wären dann vielleicht emphatischer. Aber schau, Touren kann eben auch sehr anstrengend sein. Vor drei Jahren haben wir 280 Shows in einem Jahr gespielt. Aber ich mag auch meine Tochter und will sie sehen. Das war auch ein Grund, mein neues Label zu gründen. So bin ich zuhause bei meiner Familie. Wenn ich auf Tour bin und zu meiner Tochter heimkomme und meiner Frau, fühle ich mich fast wie im Himmel. Irgendwann wird das dann aber auch wieder zu viel und ich muss wieder auf Tour, muss wieder ein betrunkener Vagabund sein. Zudem wirst du rastlos, wenn du viel reist. Aber andererseits möchte ich meiner Frau und Tochter Geschichten erzählen, wenn ich heimkomme. Doch die interessiert das schon gar nicht mehr. Haha. Die haben ja alles gehört. Mit One Week Records kann ich jetzt Leute, die ich seit Jahren kenne und mit denen ich oft auf Tour war, zu mir nach Hause bringen und sie lernen meine Familie kennen.

Wie ist das?
Ich finde das großartig. Meine Tochter ist auch immer ganz aufgeregt. Für Kinder ist das doch einmalig, wenn irgendwelche Freunde der Eltern kommen. Außerdem bekommt meine Tochter so mit, was ihr Vater eigentlich macht. Für mich war das auch immer total spannend, auch wenn es nur der seltsame Onkel war. Weißt du manche der Typen, mit denen ich seit 20 Jahren toure, glauben mir nicht einmal, dass ich eine Frau und Tochter habe. Wenn ich denen von ihnen erzählen will, sagen die „du hast doch keine Familie!“ Das liegt auch daran, dass meine Familie nie zu meinen Shows kommt.

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Haben sich deine Nachbarn eigentlich schon beschwert?
Nein, aber wir benutzen ja auch kein Schlagzeug. Das Schlagzeug ist der Feind jeder guten Nachbarschaftsbeziehung. Wir können also zwar kein Schlagzeug benutzen, aber die meisten, die hierherkommen, spielen mehr als ein Instrument, also können wir das schon gut füllen.

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