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Ich habe mir eine Woche lang nichts anderes außer „Die immer Lacht“ angehört

„Ich überlege, mir die Kaffeetasse gegen den Schädel zu hauen, damit ich den Schmerz in den Ohren verlagern kann“—Die Chronik eines Selbstversuchs.
Screenshot von YouTube aus dem Video „Die immer lacht“ von Kontor.TV

Vor zehn Jahren hat eine Frau namens Kerstin Ott aus Berlin ein emotionales Lied für ihre krebskranke Freundin geschrieben und auf Youtube hochgeladen. Das DJ-Duo Stereoact hat diesen Song 2015 durch Zufall gefunden, einen Dance-Remix draus gemacht und siehe da: Wir gehn komplett darauf ab. Bis auf Platz 2 der deutschen Singlecharts wurde „Die immer Lacht“ katapultiert und alle Dorfdissen spielen das Lied rauf und runter. Ich konnte diesen Hype absolut nicht nachvollziehen und würde sogar soweit gehen zu sagen, dass ich das Lied wirklich richtig scheiße finde.

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Woran liegt das? Übersehe ich die Genialität dahinter? Oder ist die Welt einfach zu anspruchslos? Ich wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen und genau deshalb habe ich mich dazu entschlossen, einen mutigen Selbstversuch zu starten: Ich werde eine Woche lang ausnahmslos nur “Die immer Lacht” hören. Nur Kerstin, die die immer lacht, und ich. Ich bin gespannt, wie sich dieses Experiment am eigenen Körper auf meine Psyche auswirken wird. Wer weiß, vielleicht ändert sich meine Meinung zu dem Song ja sogar zum Positiven …

Tag 1

Der erste Tag meines Selbstversuchs beginnt. Ich sitze im Büro und bin höchst motiviert. Ab heute wird sich also mein Leben ändern. In welche Richtung, ist noch nicht bekannt. Ich habe auf Youtube eine Version von „Die immer Lacht“ gefunden, die sich „Remix” nennt, aber eigentlich nur das Original auf eine Stunde im Loop erweitert. Das Lied läuft einfach endlos durch. Nach kurzer Zeit ertappe ich mich dabei, dass ich unter dem Schreibtisch mit dem Fuß mitwippe. Das ist mir echt unangenehm und völlig unverständlich, aber ich durchschaue den Selbstschutzmechanismus meines Körpers—ich schütze mich selbst, indem ich versuche, mir so lange wie möglich einzureden, dass das ein total toller Sommerhit ist. Mal sehen, wie lange das funktioniert.

Mittag:

Ich schäme mich fast, es zuzugeben, aber langsam habe ich richtig Spaß an der Nummer. Ich nicke fröhlich mit dem Kopf hin und her und singe innerlich mit. Irgendwie bekomme ich Lust, an den Strand zu fahren und ins Meer zu springen. Ertappe mich gleichzeitig mehrfach dabei, wie ich mich selbst auslache.

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Nachmittag: Die anfängliche Euphorie ist relativ schnell abgeflacht und irgendwie macht mich dieses Lied müde. Wütend bin ich zwar nicht, aber ausgelaugt. Fühle mich wie nach einem Marathon und Kerstin Ott ist immer noch munter am Weitersingen. Irgendwann bekomme ich einfach alle halbe Stunde unkontrollierte Lachanfälle oder seufze schwer betrübt. Der erste Tag ist somit ein Wechselbad der Gefühle.

Tag 2

Ich merke immer mehr, wie grottenschlecht dieses Lied eigentlich ist. Der Text macht auch keinen Sinn und ich verstehe nicht, warum niemand das hinterfragt. Wer ist überhaupt die, die immer lacht? Niemand kennt diese Frau! Und worüber zur Hölle lacht die denn die ganze Zeit? Es macht mich wahnsinnig sauer. In meinem Kopf überschlagen sich die Fragezeichen. Warum schreibt diese Kerstin Ott so ein furchtbares Lied für eine angebliche Freundin? Mag sie ihre Freundin wirklich so sehr, wie sie es immer wieder behauptet? Ich bin unsicher, ob man ihr diesbezüglich trauen kann. Meine unangefochtene Hasszeile ist, „Komm her meine Süße und reich’ mir deine Hand!”. Das ist so kitschig und schlecht, dass ich Gänsehaut vor Ekel kriege.

Alles klar, langsam fällt die rosarote Brille und ich merke, was für einen Mist ich mir hier eingebrockt habe. Leider hat der Tag grade erst begonnen, ich bin ein schlechter Verlierer und muss somit irgendwie versuchen, mich irgendwie runterzufahren.

Mittag: Ok, ich ertrage das nicht mehr. Ist es zu früh, um das zu sagen? Es ist mir egal, ich habe das Gefühl, dieses Lied ist eine Bohrmaschine, die sich in Zeitlupe durch meine Schädeldecke frisst. Zwischendurch muss ich immer wieder das Lied stoppen. Lieber lasse ich mich von absoluter Stille erschlagen, als dass ich mir diese psychopathische Nummer immer und immer wieder reinziehen muss. So viele gute Songs schwirren in meinem Kopf herum, Kollegen schicken sich gegenseitig Musikvideos. Das alles ist verbotene Zone für mich. Es ist, als würde ich auf einer einsamen Insel mit Kerstin Ott leben müssen, die mir ununterbrochen ins Ohr singt. Gegenüber von uns ist die Partyinsel, auf der alle Anderen den Spaß ihres Lebens haben. Ich vermisse mein altes Leben.

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Ich kann mich nicht länger selbst belügen. Es ist wie es ist: Der Beat ist Müll, der Text ist Müll und ich fange an, darüber nachzudenken, wie ich Kerstin Ott körperlich weh tun kann. Verdammt, das ist erst Tag 2 (ZWEI!!!).

Nachmittag: Mittlerweile wird mir nur noch schlecht. Die Wut ist der Verzweiflung erlegen. Hoffentlich erbreche ich nicht über den Schreibtisch. Meine Kollegen machen Witze über mein Projekt. Ich lache mit, aber tief im Inneren weine ich. Aber nur, wenn ich alleine bin. Ich fühle den Songtext mehr denn je.

Tag 3

Neuer Tag, neues Glück und siehe da: richtig gute Laune heute! Das Lied dröhnt durch meine Kopfhörer und ich fühle den Vibe. Warum war ich gestern eigentlich so wütend? Ich glaube, ich habe mein Schicksal langsam angenommen. Das Lied läuft durch, aber es stört mich nicht mehr sonderlich, ja es gefällt mir sogar richtig. Man muss auch mal mit dem zufrieden sein, was man bekommt. Wenn ich nur „Die immer Lacht“ hören darf, dann wird „Die immer Lacht“ eben mein Lieblingslied. Fickt euch doch alle! Mittag: Ich bin davon überzeugt, dass ich dieses Lied besiegt habe. Es stört mich einfach nicht mehr. Die anfängliche Wut und Verzweiflung ist völliger Gleichgültigkeit gewichen. Eventuell hat das Lied auch mich besiegt und ich habe den Verstand verloren. Aber es interessiert mich nicht, denn ich würde es eh nicht rausfinden. Der heutige Zustand ist bei weitem angenehmer als der Beinahe-Nervenzusammenbruch von gestern. Nachmittag: Das Lied läuft jetzt seit drei Stunden ununterbrochen und ich lebe mein Leben, als wäre es schon immer so gewesen. Ob ich den Song an diesem Punkt gut oder schlecht finde, kann ich nicht sagen. Er ist einfach da. Wie eine Spinne in deiner Wohnung. Entweder man entfernt sie, regt sich tierisch über sie auf, oder man vergisst irgendwann, dass sie überhaupt anwesend ist.

Tag 4

Ich werde dieses Lied nach dieser Woche nie wieder hören. Und wenn es irgendwo gespielt werden sollte, werde ich um mein Leben rennen. Ich bin wirklich gereizter denn je. Überlege, mir die Kaffeetasse gegen den Schädel zu hauen, damit ich den Schmerz in den Ohren verlagern kann. Wie kann die Welt so hirnamputiert sein und dieses Lied auf Platz 2 der Charts kaufen? Wie wenig Anspruch existiert in dieser Gesellschaft? Warum nimmt sich niemand diesem Problem an? Ich möchte mich mit Menschen unterhalten, die dafür verantwortlich sind. Eventuell wird die, die immer lacht nie wieder aufhören zu lachen. Und ich muss dafür büßen.

Nachmittag: Na gut, es hat zwar zwei Stunden gedauert, aber ich habe mich wieder beruhigt. Es ist echt anstrengend, dass mein Körper alle paar Stunden von einem Extrem ins nächste springt. Emotional verlangt mir die Kerstin alles ab. Aber was bekomme ich zurück? Ist das fair? Sollte ich sie jemals treffen, wird sie mir einige kritische Fragen beantworten müssen.

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Das Lied läuft derweil immer weiter und meine Laune erreicht letztlich wieder Normalzustand. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schwach bin, aber ich bin wirklich endlos froh, wenn dieses Experiment endlich beendet ist.

Tag 5

Der letzte Tag ist angebrochen. Feierlich drücke ich auf Play und lasse Kerstin die letzten Stunden ihre Arbeit verrichten. Es ist irgendwie, als würde man eine schlimme Beziehung beenden. Man ist froh, dass es endlich vorbei ist, aber ertappt sich auch dabei, ab und an wehmütig an die schönen Zeiten zu denken. Immerhin hat man einen Weggefährten verloren, egal wie dämlich und nervig er letztendlich war. Es ist gut, dass ich den Selbstversuch an dieser Stelle, nach einer Arbeitswoche, beende. Denn offensichtlich habe ich den Bezug zur Realität verloren und vergleiche „Die immer Lacht“ mit einem Lebensabschnittspartner. Feierabend: Es tut mir leid, ich habe alles gegeben, aber die, die immer lacht und ich sind einfach zu verschieden. Und ich finde das ehrlich gesagt ziemlich okay so.

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