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Mein Opa hat sich die Songs des Jahres angehört und bewertet

Die Jugend von heute hat nur Scheiße im Kopf? Zeit, mal jemanden zu fragen, der das bewerten kann: meinen Opa.

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Wer sich als Journalist mit Musik auseinandersetzt, der wird irgendwann betriebsblind. Das ist insbesondere dann nicht gerade von Vorteil, wenn der Rückblick auf das Musikjahr 2015 ansteht. Also habe ich meinen Opa, 79, geboren in der Musikstadt Leipzig, mittlerweile in Nürnberg wohnhaft und leidenschaftlicher Musikhörer, einen Besuch abgestattet, um ihm eine Auswahl der Songs aus den Jahrescharts von Noisey vorzuspielen.

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Noisey: Opa, was für eine Rolle hat Musik eigentlich in deinem Leben gespielt?
Opa: Definitiv eine vorherrschende Rolle. Ich mochte von klein auf die klassische Musik. Meine Mutter konnte gut Klavier spielen und hat in erster Linie klassische Musik, Volks- oder Weihnachtslieder gespielt. Im jugendlichen Alter habe ich begonnen, mich für das zu interessieren, was aus dem Radio kam (lacht). Das war sehr eingängige Alltagsmusik, die mich nicht weiter berührt hat. Selber musiziert habe ich aber nicht.

Welche Musik hat dir als Teenager gefallen?
Ich kann mich an die Big Band von Kurt Hohenberger erinnern. Der hat damals sogar ein Gastspiel in Leipzig gegeben, zu dem ich gegangen bin. Duke Ellington mochte ich auch sehr gerne. Und ich war ganz hin und weg als ich zum ersten mal die „Rhapsody in Blue“ von George Gershwin gehört habe (schmunzelt). Die gefällt mir auch heute noch! Es gab damals auch noch andere Tanzkapellen wie etwa die von Walter Dobschinski. Sein „Dobs Boogie“ war damals in aller Munde—oder in aller Ohren (schmunzelt). Für uns in Leipzig war die Tschechoslowakei das Mekka der Tanzmusik. Da gab es Tanzkapellen, die zu Gastspielen in die DDR kamen—allerdings fällt mir da auf Anhieb kein Name ein.

Und später?
Später mochte ich dann Peter Alexander sehr gerne. Das hat allerdings nicht sehr lange angehalten (lacht). Im Fernsehen gab es damals eine Sendung, die meine Kinder gerne gesehen haben. Mein Vater saß dann manchmal auch mit dabei. Und wenn etwas—für damalige Verhältnisse—Schräges lief, hat er mich schräg von der Seite angesehen und gefragt: „Ist das jetzt gut?!“ (lacht)

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Hörst du denn heute auch noch Musik, die im Radio läuft?
Eigentlich nicht. Mein Interesse hat sich später auf die Texte verlagert. Da mochte ich Gitte Haenning sehr gerne. Am Anfang waren ihre Stücke wie „Ich will nen Cowboy als Mann“ noch sehr albern, aber später hat sie Texte wie „Ich will alles“ gesungen, die mir viel näher gingen. So ähnlich ist es mir mit Udo Jürgens gegangen. Die Texte haben mich damals nicht gefesselt, aber im Laufe seines Lebens hat er sich ungemein verändert. Gerade gestern habe ich auf meinem Computer sein letztes Album Mitten im Leben gehört—und da hat er Themen auf eine Art und Weise behandelt, die mir sehr zusagt. Musikalisch ist es sehr gefällig und geschmeidig. Gutes Handwerk, aber eben nicht genial. Ansonsten mochte ich musikalisch immer gerne Pink Floyd, das Alan Parsons Project oder Jean Michel Jarre.

Und was mir von der modernen Musik zusagt, ist Rap. Da gefällt mir die Rhythmik. Auch, weil ich gerne mexikanische oder spanische Musik und Stücke aus der Karibik mag. Der Rap hat ja auch einen sehr ausgeprägten Rhythmus. Ich bin Mitglied in einem historischen Männerclub, der Niederländer-Verein, und da ist es üblich, dass bei jeder Sitzung ein Protokoll verfasst wird. Man ist da in der Gestaltung sehr frei und gelegentlich habe ich das musikalisch gemacht. Auf die Idee bin ich gekommen, weil ich Otto Reutter und seine Couplets immer sehr gerne mochte. Ich habe unser Protokoll dann eben in Reimform gebracht und im hämmernden Rap-Stil vorgetragen—das ist ganz gut angekommen (lacht). Aber ich habe das Gefühl, mittlerweile den Anschluss an die Popmusik verloren zu haben.

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Das ist ja gar nicht schlimm. Von dem, was du gerade erzählt hast, könnte dir der Song hier sehr gut gefallen. Das ist „Hotline Bling“ von Drake aus Kanada.
Also damit kann ich mich gut anfreunden. Da passiert musikalisch nun nicht sonderlich viel, aber der Rhythmus nimmt mich mit. Da bedaure ich es sehr, dass ich nicht so gut Englisch kann. Denn der Text ist hier ja vielleicht das Wichtigere.

Naja, es geht darum, dass er früher mal mit einem Mädchen zusammen war, die ihn immer auf seinem Handy angerufen hat, aber jetzt wo er berühmt ist, interessiert sie sich nicht mehr für ihn und hat sich scheinbar verändert.
Ja, das passiert. Das Lied höre ich aber echt gern. So etwas mag ich.

Der nächste Song heißt „Hurra die Welt geht unter“ und ist von K.I.Z. und Henning May, dem Sänger der Band AnnenMayKantereit. K.I.Z. steht übrigens für „Kannibalen in Zivil“.
(lacht) …wenn nicht mit Rap, dann mit der was?

Mit der Pumpgun, also mit einem Schrotgewehr.
(schmunzelt und hört weiter zu) Mein erster Gedanke: Diese Jungs haben ja selbst noch keinen Krieg erlebt und besingen das, was sie sich darunter vorstellen (atmet schwer). Das ist für mich, der ja etwas mitbekommen hat, nicht ganz leicht zu ertragen. Musikalisch finde ich es sehr simpel. Wenn der Text das Wichtige ist, kann man das machen—so wie man auch Geschenke in Papier verpackt, was danach weggeschmissen wird (schmunzelt). Der Gesang berührt mich nicht sonderlich. Da fehlt mir die Melodie und Harmoniewechsel sind auch nicht wirklich zu finden. Aber was da gesungen wird, erzeugt bei mir—mit gehörtem Abstand—das Gefühl, dass die jungen Leute aus tiefster Überzeugung etwas besingen, von dem sie ein viel engeres Bild als ich haben. Da ist für mich eine gewisse arrogante Unbefangenheit zu verspüren. Sie finden das unglaublich wichtig, was sie da von sich geben—aber mit dem Abstand von 30 oder 50 Jahren kann man das nicht so ernst nehmen (lacht). Wenn man so wie ich, oder auch viele andere in meinem Alter, darüber nachdenkt, ob man dieser Generation dann die Verantwortung übertragen soll, kommt da in mir eine große Skepsis auf. Ich verspüre beim Hören eine große Angst, aber auch Empörung. Und bei der Band spüre ich nur Empörung. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht (schmunzelt).

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Das nächste Lied kommt von einem Produzenten aus England mit dem Namen Jamie xx. Der ist ein sehr schüchterner und in sich gekehrter Mann, der elektronische Musik macht und sich hier mit dem Rapper Young Thug und dem Sänger Popcaan zusammengetan hat.
Das gefällt mir richtig gut! Das erinnert mich direkt an Jazz und an Gospel. Und dem Arrangeur ist auch richtig etwas eingefallen. Nicht nur, dass die Harmonien wechseln, da machte sich an einer Stelle die Basslinie ja auch ganz schön selbstständig. Der Rap hat mir auch gut gefallen—wobei das ja fast schon kein Sprechen mehr ist, sondern manchmal in Richtung Gesang abdriftet. Schön!

Das nächste Stück heißt „Let It Happen“ und stammt von der Band Tame Impala aus Australien.
Das sind ja mal nicht nur zwei Akkorde, sondern eine ganze Kadenz—aber jetzt auch schon zum vierten Mal (schmunzelt). Das Intro ist sehr lang, aber da es ja in einem ruhigen Stück mündet, ist das vollkommen in Ordnung (hört weiter zu). Das mag ich gerne. Es erinnert mich von der Stimmlage und dem verwendeten Hall-Effekt ein wenig an Nena oder an Hubert Kah. Deren „Sternenhimmel“ haben wir neulich bei einem Themenabend in meinem Wohnstift gehört.

Als nächstes mal etwas Elektronisches: Eric Prydz mit „Opus“ im Remix von Four Tet.
(Nach 10 Sekunden) Also jetzt könnte es langsam mal losgehen, oder?

Bei elektronischer Musik dauert die Einleitung meist sehr lang. Das ist der sogenannte build up, der auf dem erlösenden Moment, den Drop, hinsteuert.
Wenn du das jetzt nicht gesagt hättest, wäre ich der Meinung, dass ich da nicht weiter zuhören muss (lacht). Das ist einfach uninteressant. Solche Musik würde ich nur hören, wenn ich etwas machen müsste, wobei große Konzentration gefragt ist.

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Der nächste Sänger kommt genau wie Drake aus Kanada und wurde sogar von ihm entdeckt. Er heißt The Weeknd und viele sehen in ihm so etwas wie den neuen Michael Jackson.
Den Text verstehe ich nicht wirklich. Aber musikalisch ist es sehr uninteressant. Da würde ich sagen: Dem ist nicht viel eingefallen.

Das nächste Stück kenne ich tatsächlich selber nicht. Es heißt „That Other Girl“ und stammt von Sevdaliza, einer Produzentin und Sängerin aus Holland.
Dabei könnte ich träumen (grinst).

Jetzt kommt „Alright“ von Kendrick Lamar. Der hat dieses Jahr ein von den Kritikern gelobtes, weil politisches Album mit dem Namen To Pimp A Butterfly veröffentlicht.
Was singt er da im Refrain immer?

„We gon’ be alright.“ In etwas so etwas wie „Uns wird’s gut gehen.“
Da würde ich den Text gerne noch mehr verstehen können. Denn bis auf den finde ich es nicht so spannend. Außerdem gefällt mir die Vortragsweise nicht so sehr. Das klingt sehr aufpeitschend und ich würde im Radio jetzt wahrscheinlich einen anderen Sender suchen. Das brauche ich nicht, das tut mir nicht gut.

Als nächstes ein Stück mit dem Namen „Ebbe & Flut“ von GZUZ, Xatar und Hanybal. Solche Musik nennt man Gangster- oder Straßenrap.
Kann es sein, dass mal etwas über die in der ZEIT stand?

Wenn, dann vermutlich über Xatar. Der hat nämlich als Polizist getarnt einen Goldtransporter überfallen und ist dafür lange ins Gefängnis gegangen.
Da höre ich sofort rhythmische Überschneidungen heraus. Aber das ist egal, weil die Musik sehr zweitrangig und nur ein Vehikel ist, um die Botschaft zu transportieren. Bei den Jungs hier habe ich das Gefühl, dass sie sich ganz bewusst um Verständlichkeit bemühen. Sie singen nicht einfach drauf los, wie sie sich unterhalten, sondern drücken sich sehr deutlich aus—etwas, das man von den Schaffnern in der Bundesbahn nicht immer behaupten kann (lacht).

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Jetzt kommt noch mal ein Sänger. Und zwar Kurt Vile mit „Pretty Pimpin“.
Wohlklingend und gut zu hören—aber nicht aufregend (lacht).

Als nächstes: „Softdrink“ von der Band Bilderbuch aus Österreich.
Och, das ist ganz gut, aber sehr lange würde ich es mir nicht anhören. Nicht, weil es mir nicht gefällt…aber es passiert mir einfach zu wenig. Hast du mal eine Brucker-Symphonie gehört? Da passiert viel—und das sogar in Bezug auf die Pausen. In der Musik spricht man sogar von der sogenannten Bruckner-Pause.

Dann spiele ich dir jetzt noch eine Band aus Österreich vor—und zwar Wanda mit dem Song „Meine beiden Schwestern“.
Wanda, wie der Fisch?

Wie der Fisch!
Das gefällt mir. Das ist melodisch zwar nicht so toll, aber im Hinblick auf die Harmonien sehr schön gemacht. Außerdem gibt es endlich auch mal Pausen. Der Rhythmus bleibt weg, der Sänger singt weiter und dann setzt der Rhythmus wieder ein. Da gibt es das Stück „Chiquita“ von ABBA in dem sich genau so eine Stelle findet—da halte ich jedes Mal vor Spannung die Luft an, ehe es weitergeht. Das ist eine schöne Spannung, die mir sehr gefällt!

Bleiben wir noch ein bisschen in Wien. Dort gibt es nämlich auch Rap—und zwar „Nein“ von Yung Hurn.
Kommt da am Ende das große „Ja“ (lacht)? Das ist nicht meins. Aber ich muss spontan an Stephan Remmler und „Da Da Da“ denken—das war damals etwas ganz Neues und hat mir sehr gut gefallen. Das habe ich auch immer noch auf dem Computer!

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Auch in den Jahrescharts: Der Weg einer Freiheit mit dem Song „Eiswanderer“.
Schreien die nur oder singen die auch?

Die singen. Und das Lied hat sogar einen Text.
(liest den Text mit) „Kein Augenblick gewährt mir Sicht, die Stille raubt mir das Gehör. / Feuchte Luft rinnt durch die Finger und immer und wieder ruft mich deine Stimme. / Siehst du in mir den letzten noch Lebenden oder bin ich tot. / In deinem Heim find' ich kein Wohl So lass mich gehen in Ruhe.“ Also da komme ich inhaltlich mit—aber aus dem Musikstück hätte ich das nicht entnehmen können. Im Übrigen auch nicht aus der Form. Ich würde das anders ausdrücken (schmunzelt).

Das nächste Stück ist von Audio88 & Yassin, heißt „Schellen“ und ist meiner Meinung nach recht zynisch.
Ein sehr gesellschaftskritisches Lied. Mir kommt da gleich folgender Gedanke: Was haben die beiden für ein Ziel? (denkt nach) Wer ist denn die Zielgruppe der beiden?

Ich würde sagen, Menschen zwischen 20 und 40.
Also Menschen ihresgleichen. Naja, wenn sie diese Zielgruppe ansprechen, begegnen sie denen auf Augenhöhe und sind in erster Linie auf Bestätigung aus. Aber das bedeutet für die Botschaft ja, dass sie nicht wirkt. Die müsste doch von denjenigen gehört werden, die damit gemeint sind. Nämlich diejenigen, die diese Fehler, von denen dort die Rede ist, machen. Ich frage mich, ob die Zielgruppe, die die Kritik verdient hat, solche Musik überhaupt anhört! Da habe ich meine Zweifel—und das ist schade, weil ich die Kritik durchaus für begründet halte.

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