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I Am Jerry stehen auf dicke Gesten

Egal, ob du eher Kanye oder Bilderbuch an der Macht siehst, I Am Jerry sind auf jeden Fall einen genaueren Blick wert.

Es gibt ein Wochenende im Jahr, an dem es ausnahmsweise eine gute Idee ist, die unmittelbare Hamburger Reeperbahn zum Zentrum des eigenen Treibens zu erklären. An dem es zumindest ein bisschen leichter fällt, über die Copyshop-Shirts der herumwankenden Junggesellen-Abschiede hinwegzusehen und Olivia Jones angetriebene Touristen-Trüppchen zu umlaufen. Das Septemberwochenende, an dem das Reeperbahn Festival stattfindet. Ein Ort nämlich, an dem du, neben ein paar der fest eingesessenen und kürzlich steilgehypten Acts, eine Fülle von musikalischen Neuentdeckungen vor die Linse kriegen kannst, wenn du mit deinem Bier zum Beispiel mal im Karatekeller des Molotow Clubs vorbeischaust. Oder in der Prinzenbar. Nehmen wir doch mal als konkretes Beispiel: I Am Jerry aus dem bei Bochum liegenden Sprockhövel, die wir am Festivalfreitag vor ihrem Auftritt auf ein Bier und einen kleinen Kiezrundgang getroffen haben.

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Sprockhövel hat sich bisher auf der hiesigen, kulturellen Landkarte wahrlich äußerst ruhig verhalten. Wikipedia weiß, dass man den Ort vor allem als Wiege des Ruhrbergbaus kennt und als Geburtssort medialer Lichtgestalten wie der Fernsehmoderatorin Daniela Fuß. Zudem steht die Stadt- und Feuerwerkskapelle als kultureller Anker im Mittelpunkt des städtischen Treibens. Möglicherweise lässt sich daran ja aber noch etwas rütteln. Zumindest legt es das Quartett I Am Jerry derzeit absolut drauf an und macht mit Pyro-Action, kreiselnden Karren und brennenden Deutschlandfahnen auf sich aufmerksam, während sie dir mit der Referenzkeule eines überziehen—so zumindest in ihrem Videos zu „Vollkontakt“ und „Alles muss neu“, die du vielleicht schon gesehen hast.

I Am Jerry stehen definitiv auf dicke Gesten und haben einen Narren an der US-amerikanischen Popkultur und vor allem dem künftigen Präsidenten der USA (oder so) höchstpersönlich gefressen: „Kanye West kann man eben nur feiern“, erklärt Sänger Julian. „Also er ist natürlich ein richtig komischer Vogel, aber was der an Alben gemacht hat, ist mit das Inspirierendste, was man sich aktuell reinziehen kann. Das ist auch generell der Kontext, an dem wir uns am stärksten orientieren. Bei ,Alles muss neu‘ steckt ein bisschen A$AP drin, mit dieser runtergepitchten Stimme. Und dann eben so Kanye-Parts, die so verzerrt Yeezus-mäßig kommen. Wir mögen dieses Beatlastige. Daraus bauen wir unseren Style zusammen, der dann am Ende hoffentlich nach I Am Jerry klingt.“

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Generell haben I Am Jerry offensichtlich das Copy-Paste-System zu einem ihrer Kunstgriffe erklärt. „Im Video zu ,Alles muss neu‘ gibt es diese Szene, die klar auf M.I.A. zielt—was uns dann auch immer wieder vorgehalten wird. Aber das ist halt auch genau so, weil wir uns überlegt haben, dass wir das geil finden und Bock haben, so ziemlich genau das selbe zu machen.“ Eine Szene, die Sänger Julian ins Krankenhaus gebracht hat. „Der Kühler ist explodiert und hat mir die Beine verbrannt. Das hat die Kamera aber leider nicht mitgeschnitten.“

Live auf der Bühne wirkt das Ganze derzeit noch etwas weniger explosiv, was sicherlich auch mit an den Brandschutzvorschriften der Prinzenbar liegt. Dennoch ist es absolut auf diesen Punkt, der—ja, es ist einer der ausgelutschtesten Vergleiche der Stunde, aber wenn es doch so ist—eben immer wieder an Bilderbuch erinnert. Neben den beiden bisherigen Veröffentlichungen, kommen da nämlich deutlich gitarrenlastigere Exemplare zum Vorschein. Sicherlich auch den letzten Jahren geschuldet, in der sich das Quartett hauptsächlich in der Sprockhöveler Post-Punk-Szene rumtrieb, bevor man ihnen nach einem Rock-am-Ring-Auftritt den großen Ruhm in Aussicht stellte.

„Wir machen jetzt an die 10 Jahre zusammen Musik. Erst immer auf Englisch, da fanden wir Sachen wie Say Anything gut. Bis dann wiederholt Leute zu uns meinten, wir sollten's doch mal auf Deutsch versuchen. Fanden wir erst richtig scheiße, haben es dann aber probiert und so doch viel mehr unser Ding gefunden. In unserem Studio im Keller in Sprockhövel. Da wird man auch nicht so abgelenkt, da ist ja nichts.“ Dennoch: „Deutschsprachige Musik hören wir kaum. Abgesehen von K.I.Z oder Audio88 & Yassin, aber das sind Genres, die nicht zu uns passen. Die sind so unfassbar gut auf Deutsch, das können wir nicht. Wir texten mehr auf Englisch und übersetzen dann im Kopf.“

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Während wir nach dem Gig noch kurz über den Kiez laufen und an einem dieser ewig deutschlandbeflaggten Fenster vorbeikommen, kommt die Sprache noch einmal auf das Video zu „Alles muss neu“: „Darin steckt halt auch absolut keine Ironie. Das ist genau so gemeint. Die Fahne brennt am Ende—und dieser ganzer Text vom Song lässt sich eben auch auf die aktuelle Thematik münzen. Dass Menschen irgendwo weg müssen, einen Neuanfang brauchen. Diese Zeile ,Du gehst hier nicht mehr weg, du hast den Weg hierhin längst verloren, du nimmst kein Gepäck mit, denn du bist sicher, du packst das von vorne, alles ist neu.‘ Das ist einfach genau diese Situation. Und wir verbrennen die Deutschlandfahne als Statement dafür, dass es keine Abgrenzung zwischen Nationalitäten geben sollte! Besonders stark wirkt das Ganze dadurch, dass es ein Kind ist, das die Fahne schwenkt—weil ein Kind überhaupt nicht weiß, was es da tut. Für das Kind ist es einfach ein Stoff in drei Farben.“

Und dazu passt der Text auch ein bisschen zu I Am Jerry selbst. „Absolut, man kann das in viele Richtungen interpretieren, beispielsweise auch auf das, was gerade bei uns alles so ansteht!“