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Wie ein HipHop-Video das US-Gefängnissystem durchbrochen hat

Aktuell sind prozentual mehr schwarze Männer in den USA inhaftiert als in den schlimmsten Zeiten der Apartheid in Südafrika. Mit diesem Video versuchen sie sich etwas Macht und Gehör zu verschaffen.

In den USA leben lediglich 5% der Weltbevölkerung, dafür aber 25% aller Gefängnisinsassen. In einem Bericht des Sentencing Projects über ethnische Ungleichheiten im Rechtssystem wurde außerdem herausgefunden, dass jeder dritte schwarze Mann, der heute geboren wird, erwarten kann, an irgendeinem Punkt in seinem Leben im Gefängnis zu landen—dieses Schicksal blüht im Vergleich nur einem von siebzehn weißen Männern. In den USA gibt es Menschen, die für einen ersten Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz lebenslange Haftstrafen absitzen—ein Zustand, der im Rest der westlichen Welt quasi undenkbar wäre.

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Alls ich letzte Woche meinen Löffel gerade zum dritten Mal in das Glas Erdnussbutter tunkte, das mich bei meinem allabendlichen WorldStarHipHop.com-Ritual stets begleitet, stolperte ich über ein Video mit dem Titel „South Carolina Inmates Film 1st Ever Music Video In Prison!“

Da WorldStarHipHop bekanntermaßen zu maßlosen Übertreibungen neigt, hatte ich mich mental schon auf eine irgendwie geartete Enttäuschung eingestellt. Als ich es dann aber anklickte, war ich von der ansteckenden, explosiven Energie beeindruckt. Auf meinem Bildschirm sah ich frenetisch bouncende Häftlinge—ja, selbst der Kameramann hüpft im Takt mit. Der Song baut sich auf und explodiert dann regelrecht. Die Jungs scheinen sich gegenseitig regelrecht hochzuschaukeln, während der Typ mit dem Rücken zur Wand aus dem Nichts einen Backing Track erschafft.

In Zeiten, in denen der meiste HipHop unter den strengen Augen von Radio-Playlisten und Vorständen großer Plattenfirmen immer mehr zur Stückware verkommt, fühlte sich dieses Video so anders an, als die ganze Rapmusik, die ich in den letzten Jahren zu hören bekam. Mit über einer Million Views auf WorldStarHipHop ist es ein Beispiel für Underground-Rap in seiner energetischsten, ausdrucksstärksten und kraftvollsten Form.

Das wirklich Besondere an dem Video ist die Art, wie es unser Bild des afroamerikanischen Häftlings als unterdrückten, geschundenen, rückständigen oder brutalen Menschen untergräbt, das uns von allen Seiten vermittelt wird. In den Medien tendieren Darstellungen des Gefängnislebens dazu, entweder von Gewalt oder psychischen Krankheiten geprägt zu sein, diese Performance hier ist aber weder gewalttätig noch gebrochen. Diese Leute stellen für den Zuschauer keine potentielle Bedrohung dar, sondern repräsentieren aus ihrer kleinen Zelle heraus gemeinsam ein positives Fundament der Stärke.

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Das Stigma des Knasts ist auch deshalb so groß, weil den Insassen die Möglichkeit fehlt, sich selber menschlich zu machen. Durch ihre Kriminalisierung entrechtet haben sie keine Chance, ihr Leben sichtbar und ihre Stimme hörbar zu machen. Dieses Video, das ohne offizielle Erlaubnis in einer Zelle gefilmt wurde, ist deswegen auch ein kleiner Machttransfer—eine Bedrohung für die ausgeklügelten Mechanismen der Entmachtung, die in Gefängnissen zum Alltag gehören.

Seine Stärke zieht das Video in gewisser Weise aber auch daraus, dass das Gefängnis überhaupt nicht thematisiert wird—es hätte genausogut von jedem anderen gemacht werden können. Es wird auch nicht versucht, einen explizit politischen Kommentar abzuliefern, da man sich bewusst ist, dass im Angesichts des Kontexts die bloße Existenz des Videos schon politisch ist.

Schmuggeleien im Knast sind nichts Neues. Seit es Gefängnisse gibt, schleusen Insassen und Wärter gezwungenermaßen verbotene Gegenstände in und durch die Haftanstalten. Trotzdem ist in Lokalzeitungen, Internetforen und insbesondere bei der Gefängnisbehörde seit der Veröffentlichung die Panik ausgebrochen—und der unerlaubte Besitz eines Mobiltelefons wird nicht der eigentliche Grund dafür sein. Nach dem Auftauchen des Videos im Internet hat South Carolinas Gefängnisbehörde diese Woche die Sicherheitsvorkehrungen in ihren Anstalten noch einmal erhöht. Bryan Stirling, der Leiter der Behörde, postierte die Aufseher wieder in ihren Aufseherhäuschen, um für mehr Sicherheit zu sorgen und den Strom an Schmuggelware einzudämmen. „Wir nutzen auch Kameras“, so Stirling. „Wir werden dazu noch einige Wärmebildkameras anschaffen. Gouverneur Haley hat uns im Budget des letzten Jahres auch Geld für ein paar Wachtürme außerhalb des Lee Gefängnisses eingeräumt. Das wird uns helfen.“ Die Anstalt fängt außerdem an, tragbare Metalldetektoren zu verwenden, die Leute und Gegenstände, die ins Gefängnis gebracht werden, auf alles, was darin versteckt sein könnte, scannen.

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„Ich sehe es als Signal für uns, dass wir bei der Suche nach Schmuggelware noch wachsamer sein müssen, und genau das ist auch eine meiner Prioritäten als neuer Direktor“, folgert Stirling. Die Gefängnisbehörde versucht außerdem, die Webseite dazu zu bringen, das Video runterzunehmen, dafür ist es jetzt aber wahrscheinlich eh zu spät, da das Video viral gegangen ist und über eine Million Views generiert hat.

Falsch lag man bei WorldStarHipHop allerdings damit, dies als das erste im Gefängnis aufgenommene Video zu bezeichnen. The Lifers Group (das Bild unten stammt aus ihrem Video) haben das Video zu ihrem 1993er Album Living Proof hinter Gittern gefilmt. T.I. hat es 2004 ebenfalls geschafft, ein Musikvideo im Gefängnis zu filmen, als er in Georgia eine Strafe absaß. In beiden Fällen lag allerdings eine offizielle Erlaubnis der Gefängnisbehörde vor und der herrschende Tonfall war dementsprechend reumütig. Dieses neue Video ist also dahingehend einzigartig, dass sich hier ein paar Häftlinge zusammengetan haben, um ohne Erlaubnis ein Video zu filmen, zu produzieren und darin aufzutreten. Dadurch, dass es heimlich mit einem verbotenen Gegenstand gedreht und ins Internet gestellt worden war, war dies auch ein Akt der Rebellion gegen die Mächtigen—und es ist genau diese Subversion, die die wahre Essenz des HipHops einfängt.

HipHop hat sich in den USA schon immer gegen die Inhaftierung schwarzer Männer ausgesprochen. Von Dead Prezs' „Behind Enemy Lines“ („Look how we livin, thirty thousand niggas a day / Up in the bing, standard routine / They put us in a box just like our life on the block“), über das Public Enemy-Konzert auf der Gefängnisinsel Rikers Island in New York, bis hin zu Kanyes Zeilen in „New Slaves“: „They trying to lock niggas up, they trying to make a new state / See that’s the privately-owned prison, get your piece today.“

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Michelle Alexander hat vor Kurzem ein Buch unter dem Titel The New Jim Crow veröffentlicht, in dem er die amerikanische Masseninhaftierung kritisiert, und sagt: „In einer Zeit der Colorblindness ist es gesellschaftlich nicht mehr erlaubt, Ethnie explizit als Rechtfertigung für Diskriminierung, Ausgrenzung und soziale Missachtung zu nutzen. Folglich machen wir das auch nicht mehr. Anstatt uns auf die Ethnie an sich zu verlassen, verwenden wir unser Justizsystem, um Leute mit dunkler Hautfarbe als „Kriminelle“ abzustempeln. Sobald du als Verbrecher abgestempelt bist, sind die alten Formen der Diskriminierung—auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, die Aberkennung des Wahlrechts, die Verwehrung von Ausbildungsmöglichkeiten, Essensmarken und anderen öffentlichen Hilfsmitteln, sowie der Ausschluss von der Geschworenentätigkeit—plötzlich wieder legal. Als Krimineller hast du kaum mehr Rechte und wahrscheinlich weniger Ansehen als ein schwarzer Mann in Alabama zu den Hochzeiten eines Jim Crow.“ Entgegen vielseitiger Behauptungen haben die USA die Rassendiskriminierung noch nicht überwunden, das Klassensystem wurde lediglich umgestaltet. 2014 wurde in den USA eine größere Prozentzahl schwarzer Leute inhaftiert als zu den schlimmsten Zeiten der Apartheid in Südafrika.

Während ein Vielzahl nerviger Online-Kommentatoren den Refrain als zu repetitiv (echt jetzt?) kritisiert haben oder das Video als Verherrlichung des „War on Drugs“ oder des Gefängnisalltags sehen, repräsentiert es für mich eine wesentlich umfassendere soziopolitische Seite der Medaille—nur eben keine der Reue und Buße. Auch wenn die Insassen hier eindeutig die Gefängnisregeln verletzt haben, bin ich der festen Überzeugung, dass die Reaktionen anders ausgefallen wären, hätte man sie beim Snake-Zocken auf einem alten Nokia erwischt. Der Grund für den Aufruhr war nicht der Besitz verbotener Gegenstände, sondern die Bedrohung des Machtmonopols, den das Bildmaterial wortwörtlich wie auch ideologisch darstellt. Durch das Filmen ohne Genehmigung wird hier gegen eine Regel verstoßen, aber die Kombination von Aufnahmegerät und Internetzugang gibt den zum Schweigen gebrachten schwarzen Gefangenen durch das Medium HipHop ein weltweites Gehör. Rosa Clemente, eine HipHop-Aktivistin und Journalistin, sagte, „es liegt in der Natur des HipHop, den Mächtigen gegenüber die Wahrheit zu sagen, und zu versuchen, dieser Macht etwas entgegenzusetzen.“ Im großen Kontext betrachtet hat HipHop ein enorm subversives Potenzial.

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Dieses virale Video ist der Stein des Anstoßes für eine ständig wachsende Debatte und symbolisch gesehen ist es ein kraftvoller, kultureller Akt der entrechteten Gefangenen, der die Machtstrukturen der USA unterwandert. Die Art und Weise, in der sich die Insassen in dem Video repräsentieren, reflektiert ein Beispiel wortwörtlicher und ideologischer Subversion in Zeiten, in denen die Polizei unverhältnismäßig oft unbewaffnete junge Schwarze erschießt und die Rhetorik der Massenmedien das Bild des „von Natur aus gewalttätigen“ Afroamerikaners weiter füttert, um die Kriminalisierung so vieler Menschen zu rechtfertigen.

Ich habe die letzten Monate geradezu obsessiv damit verbracht, Tweets und Video-Uploads aus Ferguson zu verfolgen—wie auch von den ganzen anderen rassistisch motivierten Erschießungen, Schlägen und Klammergriffen durch die Polizei—und verspürte hier das Gefühl, dass sich mit diesem Video etwas Macht zurückgeholt worden war. Wir befinden uns gerade in schwierigen Zeiten: Unsere Autonomie und unsere Freiheiten befinden sich unter ständiger Bedrohung, während die Schlinge der Macht von oben nach unten immer enger gezogen wird. Es sind aber Darstellungen wie diese, die die Machtstrukturen ins Wanken geraten lassen. Diese Jungs haben eine Identität, die weder das kulturelle Eigentum der Musikindustrie, noch das der Wärter ihrer Haftanstalt oder das des Establishments ist.

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