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Großbritanniens Musikszene ist großartig, du schaust nur in den falschen Ecken

In London wächst gerade eine ganz neue Generation mit sehr viel Talent heran.
Ryan Bassil
London, GB

Fat White Family: Best of British

Britische Musik ist verdammt groß in den Staaten: Ellie Goulding, Calvin Harris, Bastille und ein gefühlvoller Schleimbatzen namens Passenger sind alle vorne in den Billboard Hot 100 des letzten Jahres aufgetaucht. Kommerziell gesehen kommen aus Großbritannien die größten Künstler der Welt: Mumford and Sons haben es mit ihrem Scheunentanz bis ins Weiße Haus geschafft, Leute aus der Mittelstufe in Aéropostale Kleidung lauern Harry Styles auf, Adele hat in den USA über 10 Millionen Kopien von 21 verkauft und es damit zum am besten digital verkauften Album in der amerikanischen Geschichte gebracht, und es gibt verdammt noch mal einfach viele Menschen, die Coldplay mögen.

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Die Liste geht weiter: Ed Sheeran, Rita Ora, Olly Murs, The 1975, Sam Smith und Jake Bugg hatten in den letzten paar Monaten alle große Radiohits in den USA. Es ist die größte Invasion seit den Beatles—mit dem kleinen Unterschied, dass die Musik objektiv gesehen einfach grauenvoll ist. Die Beatles haben „Something In The Way She Moves“ geschrieben; Bastilles größter Hit ist ein Live-Mashup von „Rhythm Of The Night“ und „Rhythm Is A Dancer“. Verstehst du? Er hat diese beiden genommen, weil beide Rhythm im Titel haben. Genial, oder?

Es sei den Vereinigten Staaten verziehen, dass sie den Großteil der tatsächlich guten britischen Künstler einfach ignorieren. Es handelt sich immerhin um das Land, dem wir Kid Rock und Imagine Dragons zu verdanken haben. In Großbritannien und Europa gibt es aber wenig Ausreden. Just zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns in einer der kreativsten Phasen, die die britische Musikwelt je gesehen hat. In London wimmelt es von jungen Künstlern, die sich konventionellen Weisheiten und dem zyklischen Wiederkäuen von Genres und Styles einfach verweigern. Die britische Musikszene scheint seit Ewigkeiten mal kein Wettkampf unter betuchten Privatschulkindern zu sein, die eifern, wer als erstes den sechsstelligen Deal mit Universal unterschreibt—in den Straßen der Vorstädte brodeln tatsächlich aufregende Szenen.

Wenn du dir einige der Vorzeige-Musiksendungen anschaust oder eins der letzten überlebenden Musikmagazine in die Hand nimmst—Institutionen, die eigentlich gemeinsame Sache mit den Provokateuren und Schöpfern britischer Musik machen sollten—dann sind sie zum größten Teil einfach nur banal und rückständig; sie konzentrieren sich auf uralte Bands, die ihre besten Tage schon lange hinter sich haben, oder auf diese Popriesen, die Großbritannien einen so schlechten Namen verleihen.

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Das alles färbt auf die öffentliche Wahrnehmung der künstlerischen Qualitäten des Königreichs ab. Die Schulen sind randvoll mit Brostep EDM, der auf Beats-Kopfhörern gehört wird, voll mit Oberstufenschülern in geblümten Jacken von Hype, die rumrennen und Ausdrücke sagen, die man 2014 statt „Swag“ sagt; voll von Indiekids, die gierig die neusten Post-Springsteen Pitchfork-Favoriten verschlingen. Und das ist vor allem so, weil die meisten auch nur halbwegs normal denkenden Jugendlichen in Großbritannien britische Musik für einen Witz halten. Die einzige britische Musik, die sie mitbekommen, ist der Sud, den sie auf der Autofahrt mit ihren Eltern über das Radio serviert bekommen. Vielleicht auch ein paar Sachen, die aus der Reihe fallen, aber genau wie bei leckeren britischen Gerichten, ist die Auswahl da sehr begrenzt.

Es gibt junge britische Künstler in der Hauptstadt, die vor Talent, Humor und Ehrlichkeit nur so sprühen, die aber absichtlich ignoriert werden, nur damit Radio 1 weiter den gleichen Scheiß spielen kann. (Übrigens, ich bin kein London-zentrierter Medienhansel, London ist einfach der Ort, an dem sie alle aktiv sind.) Diese Künstler sind vielleicht noch immer relativ klein, aber das ist nicht ihr Fehler. Wir sollten diese Nischenkünstler so vielen Menschen wie möglich nahe bringen und Independent-Musik diesem eingeschworenen Kreis von fünf Intellektuellen entreißen, die Kekswichsen um eine extrem limitierte Schallplatte spielen. Lasst uns damit im Hinterkopf einen Blick auf aktuelle Popkünstler werfen, die unsere Aufmerksamkeit verdient haben.

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Egal, ob es die E3-Postleitzahl, der balearische House von Berkshire oder etwas, das in den 90ern in Manchester passierte, ist: eine hohe Konzentration von Künstlern auf kleinem Raum bedeutet Kreativität. Jede Szene in der Vergangenheit hatte ihre Galionsfiguren—Wiley, Paul Oakenfold, Tony Wilson—und auch King Krule umgibt hinter der Nominierung für den Mercury Music Award und allgemeiner Bewunderung der Kritiker noch eine ähnliche Aura.

Über Krule wurde bereits viel geschrieben. Er wurde als romantischer Punk-Poet, als Afro-Jazz-Wunderkind und als Autor bezeichnet, der mit dem aufgeblasenen, Workingclass-Näseln eines in Straßengewand gekleideten South Londoner Schlitzohrs singt. Er wird in jedem Artikel anders beschrieben, weil es einfach sehr schwer in Worte zu fassen ist, warum er die nächste große Hoffnung britischer Popmusik ist. Natürlich stimmt, was über ihn geschrieben wird—King Krule ist tatsächlich großartig. Ähnlich wie Londons The Shard-Wolkenkratzer ragt er aber auch nur aus dem kreativen Boom South Londons hervor.

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Jeden Monat findet eine Veranstaltung mit dem Namen STEEZ statt. Eine Veranstaltung, bei der die Jugend South Londons verschiedene Arten von Kunst zum Ausdruck bringt und aufsaugt, während sie auf Sofas sitzen, auf dem Boden hocken oder ihren Bauch an die Theke drücken. Der Abend startet mit unzähligen Spoken-Word-Vorträgen, Rednern, Akustik-Musik und Freestyle-Rappern und endet mit Livebands, die eigentlich die Radioprogramme dominieren sollten. Es ist eine Art All-You-Can-Eat-Kulturbuffet. Die Veranstaltung kostet gerade mal 3 Pfund (wenn du schon zu Beginn kommst), sie dauert zehn Stunden, und neben diesem Italiener, der den Mentos und Cola Weltrekord gebrochen hat, ist es das Beste, was ich dieses Jahr sehen durfte. Organisiert von einem Typen mit dem Namen Luke Newmann ist die Veranstaltung das Puzzlestück, das die Kreativität in South London verbindet.

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STEEZ gibt es seit 2011 und es nur als monatliche Veranstaltung zu bezeichnen, wird dem Ganzen nicht gerecht. Es ist eine Gemeinschaft, in der junge Londoner ermutigt werden, etwas zu erschaffen, ohne Angst haben zu müssen, dafür verurteilt zu werden. Eine allumfassende Schutzzone, in der jeder gleich ist. Dieser Ansatz: Teilen, Hören und Wertschätzen hat schon großartige Talente ans Licht befördert. Krule und seine Freunde gehören auch zu den Gästen. Das Ergebnis ist ein großes, vernetztes Kollektiv aus jungen Musikern, die, momentan zumindest noch, unter dem Radar arbeiten.

Sub Luna City—eine Band, die aus den Brüdern Rago Foot und Jadasea besteht—hat im Januar bei STEEZ gespielt. Ihre Debütveröffentlichung, ein 11 Track-Tape mit dem Namen City Rivims MK 1, enthält Produktionen von King Krule und Black Mack, einem britischen Producer, der auch schon mit Ratking und Lofty 305 zusammengearbeitet hat. Sub Luna City klingen wirklich sehr britisch, wie die natürliche Weiterentwicklung des Rinse FM-Dubs und der Essenz von Grime. Ihr Sound ist ein Schmelztiegel—der Klang eines Ortes, an dem es weit mehr Beton und Kultur als Bäume gibt. Sie sind so etwas wie die Ratking von London. Die beiden Gruppen hängen miteinander ab und als Funfact: Earl Sweartshirt hat die Lunas während seines Auftritts in der O2 Islington Academy im April von der Bühne gegrüßt.

Ein ganzer Haufen Künstler ist mit Sub Luna City verbandelt. MC Pinty, der Typ, der in King Krules Video „Easy Easy“ mit von der Partie ist, hat vor ein paar Monaten seinen ersten Solotrack veröffentlicht. Sein Sound ist einzigartig. Er nimmt sich akribisch Elementen bekannter britischer Musikszenen an, klingt aber nach keiner einzigen davon. Auch Jesse James und Rejjie Snow—beides Außenseiter—haben mit Sub Luna City zusammengearbeitet. Rejjie ist bereits bei Sicknotes aufgetreten, einem Radiosender, der früher von Pinty und seinen Freunden geleitet wurde, und vor kurzem hat er zusammen mit Jadasea und Rago in einem halbstündigen Video gefreestyled. Jesse war sowohl bei einem Track von Rejjie als auch bei einem mit King Krule und Rago dabei. Alle sind vernetzt, aber es dringt relativ wenig von dieser kleinen Gruppe nach außen.

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Es ist nicht nur Rap, der South London zum Lodern bringt. Die ruhigen Passagen, die einen großen Teil von King Krules Durchbruchsingle „Out Getting Ribs“ ausgemacht haben, finden sich auch in der atmosphärischen Musik von einigen Solokünstlern wieder. Jerkcurb, der im Januar bei der Slide-In Veranstaltung von Fat White Family gespielt hat, kombiniert Gitarren so miteinander, dass sie eine Flucht aus der Realität bieten. Jamie Isaac, von dem du vielleicht vorher schon mal gehört hast, erschafft einen ähnlichen Sound: einen von wunderschöner Isolation in einer Stadt, die oft erdrückend wirkt.

Dieses Thema findet sich in der meisten Musik wieder, die momentan im Süden der Metropole produziert wird: Niemand hat Geld, die Zukunft ist unsicher, aber Musik ist eine Möglichkeit, dem düsteren Determinismus jugendlicher Langeweile zu entkommen.

Die Musikszene in Süd-London ist natürlich nicht die einzige spannende Sache, die momentan in Großbritannien passiert und die es verdient hätte, hier Erwähnung zu finden: es ist nur die Einzige, die geografisch so klar definiert werden kann. Es gibt noch eine Menge kleinerer Szenen, die noch immer nicht ihren Weg in die Berichterstattung der Mainstream-Medien geschafft haben, da diese lieber über EDM, Bands wie Future Islands und das, was auch immer Kanye West diese Woche von sich gegeben hat, berichten. Der Sound britischer Musik ist wesentlich vielfältiger, als es durch die Vertreter den Anschein macht. South London ist vor allem von HipHop, Jazz und Soul durchdrungen, aber es gibt auf der ganzen Insel extrem interessante Künstler.

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Popmusik—also die Art, die die richtigen Endorphine bei dir freisetzt und nicht Katy Perry, die zu einem Feuerwerk rumgröhlt—gibt es in ganz Großbritannien. Jungle, die komischerweise noch nicht ein Mal bei Pitchfork erwähnt wurden, bilden die Speerspitze. Sie sind der größte Newcomer, den es momentan in Großbritannien gibt. Sie klingen mit ihrer eigenwilligen Mischung aus Soul und R’n’B anders als alle anderen, aber auch vertraut genug, um schnell zugänglich zu sein. Ihr Album, das im Juli veröffentlich wird, ist einfach wunderschön. Hinter der umfangreichen Berichterstattung über Jungle gibt es jedoch eine Menge Künstler, die sich an dem süßklebrigen Vibe des späten Dev Hynes orientieren.

JUCE, die Band, die im März das Debütvideo des Jahres veröffentlicht hat, werden dich dazu bringen, deinem Schwarm Wassereis kaufen zu wollen. Sie haben bislang nur zwei Singles veröffentlicht, aber alleine wegen „Call You Out“ haben sie es verdient, den Sound des Sommers zu liefern. Dornik, der bei PMR unter Vertrag ist, ist das gemeinsame Kind von Michael Jackson und Disclosure. Shura hat mir letzten Monat mein Herz gebrochen und dann gibt es noch Ben Khan, den wir als allererste überhaupt interviewt haben. Die Leute denken, er sei Jai Paul, dabei ist er eigentlich ein Typ, der R’n’B macht und intellektuellen Musikfans und gelegentlichen Radiohörern gleichermaßen gefallen wird.

Britische Pop- und R’n’B-Musik ist super. South London deckt alles ab, was du dir an Rap, Soul und Jazz wünschen kannst; und dann hast du da noch diese Bands, die einen Sound heraufbeschwören, der danach klingt, das ganze Wochenende unterwegs zu sein, vom Pub zum Fußball zu wandern und anschließend mit einem dubiosen DVD-Stapel und einem Müllsack voll leerer Dosen im Wohnzimmer von irgendjemandem Scheiße zu reden, bevor man sich dann Sonntagmorgen um 7 deprimiert auf den Heimweg macht, weil die Sonne nicht aufhören will, durch das Busfenster zu scheinen.

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Real Lies ist genau so eine Band. Sie haben schon zwei Singles veröffentlicht, „Deeper“ und „World Peace“, und beide klingen wie etwas, das niemand sonst macht, aber alle hören sollten—der Sound des letzten und des nächsten Wochenendes in einem. The Rhythm Method, eine Gruppe, die lose mit Real Lies verbandelt ist, machen damit weiter. Die beiden Tracks auf ihrer Soundcloud-Seite solltest du dir am besten anhören, wenn du mit schläfrigen Augen und kaltem Herzen nach Hause kommst. Und dann gibt es da noch einige Gitarrenbands, die es auf jeden Fall verdient haben, dass man nochmal genauer hinhört: Fat White Family, Slaves und Sleaford Mods.

Diese Art von Musik wurde viel zu lange ignoriert. Die Presse hängt immer noch einem Konzept nach, das schon vor Jahren aufgehört hat, interessant zu sein. Viele Menschen sind einfach zu ängstlich, um auf etwas Neues aufzuspringen, wenn es nicht bereits ein 500 Wörter langes Review von einer offiziell veröffentlichten LP gibt—etwas, das in der heutigen Musikwelt bedeutungslos geworden ist.

Ich sage nicht, dass die guten Magazine aufgehört haben, über gute Künstler zu berichten. Einige wirklich sehr gute Magazine haben einigen der oben genannten Künstlern Platz eingeräumt. Was ich aber sage, ist, dass es Zeit ist, dass die britische Musik wieder als Markenzeichen erkannt wird. Wir sollten sie groß machen und ihr die Liebe geben, die sie verdient. Wir selbst sind natürlich vorne dabei: wir haben die ersten beiden Tracks von Jungle präsentiert und sie zu unserer Launch Party nach Wien geholt, haben Ben Khans erstes Interview geführt und etwas in King Krules Kopf rumgebohrt. Ich höre jetzt besser auf, bevor ich mir hier eine Sehnenscheidenentzündung hole. Das Ganze ist größer als eine Webseite oder eine Gruppe von Künstlern. Es ist endlich an der Zeit, dass die Mainstreamkultur auf das, was im Underground in Großbritannien passiert, aufmerksam wird.

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Es gibt noch unzählige großartige Künstler, die nicht in diesem Artikel erwähnt wurden. Elektronische Musik habe ich komplett ignoriert, vor allem weil das etwas ist, um das sich die hier kümmern, aber genau das ist der Punkt: es gibt einfach so viel, worüber man berichten kann. Großbritannien blüht gerade auf, lasst uns zusammen die Musik feiern, die dort entsteht. Amerika, du darfst Ellie Goulding und Ed Sheeran behalten—Großbritannien fängt noch mal von vorne an.

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