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Jerusalems Musikszene ist so hart und experimentell, weil keiner einen Fick gibt

"Du machst scheiß Musik und solltest dich umbringen!" Nichts kann dich auf Jerusalem vorbereiten, erst recht nicht auf ein Festival in der heiligen Stadt.

Als ich eingeladen wurde, das Frontline Festival in Jerusalem zu besuchen, war meine erste Reaktion nicht angebrachte Freude, sondern vielmehr Verwunderung, dass es wirklich ein alternatives Festival in dieser heiligen Stadt geben sollte. Schließlich ist sie eher durch religiöse Fundamentalisten oder den ewigen Gaza-Konflikt in den Nachrichten und damit auch fest in meinem Bewusstsein verankert war. Die Vorstellung, dass zwischen Felsendom und Grabeskirche tausende Menschen zusammentreffen, um sich tagelang um den Verstand zu saufen, und sich nebenbei vor riesigen Bühnen beschallen zu lassen, erschien meinem—von europäischen Festivals beschränktem Gehirn—zu absurd, um wahr zu sein. Und wie sich bereits am ersten Abend herausstellte, war dieses verzerrte Bild sowieso komplett falsch.

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Vier Abende lang spielen über zwanzig meist aus Jerusalem kommende Acts in verschiedenen Locations vor einem überschaubaren Publikum von etwa 150 Zuschauern. Bereits am ersten Abend lerne ich das Hansen kennen, ein ehemaliges Krankenhaus für Lepra-Patienten, das seit der Schließung vor über zwanzig Jahren großzügig renoviert und zu einem Kulturzentrum umgebaut wurde. Jetzt finden im weitläufigen Garten all die Outdoor-Konzerte des Festivals statt. Obwohl es in den Neunzigern geschlossen wurde, wird es noch immer von Nachbarn gemieden. Angeblich spukt es dort. Sollten sich diesen Abends Anwohner auf das Gelände getraut haben, wären sie sicherlich angesichts des intensiven Auftritts von 60 Reebo schreiend wieder weggerannt. Oberflächlich klingen die drei Jungs aus Jerusalem wie eine ziemlich experimentierfreudige Metal-Band—wäre da nicht die offen zur Schau getragene Tatsache, dass sie orthodoxe Juden sind. Vor der Bühne stehen rund hundert Zuschauer, viele hier gehören keiner Religion an und trinken Bier aus Plastik-Bechern, während sie Sänger Mickael dabei zuschauen, wie er einen Zettel entfaltet. Auf diesem steht eines der bekanntesten jüdischen Gebete. Er brüllt die heiligen Zeilen zu sich aufbauenden Metal-Grooves immer lauter und ekstatischer, bis seine hebräischen Worte auch den Zuschauern allzu physischen Schmerz bereiten.

60 Reebo

„Viele der orthodoxen Musiker fühlen sich vom Metal nicht angezogen und machen lieber ‚normalere’ Musik. Wir verbinden aber diese Energie mit unseren Gebeten“, so Mickael nach dem Konzert. Er hat seine Kippa, die er irgendwann in seiner Rage verloren hat, wieder ordentlich auf dem Kopf platziert. Auch sonst ist nichts mehr von der unkontrollierten Bühnen-Energie zu spüren, Michael sitzt gelassen auf der Couch und beantwortet meine Fragen mit einem leichten Lächeln. Ich will wissen, ob eine solch extreme Verwendung heiliger Schriften nicht eine Provokation für andere Juden sei? Er zuckt nur die Schultern: „Für manche ist es okay und manche finden es beängstigend. Wir ziehen aus der Bibel, dass man nett miteinander umgehen sollte. Viele konzentrieren sich zu sehr auf die Regeln, die ihnen sagen, was sie nicht tun sollen. Sei lieber du selbst und akzeptiere andere Meinungen. Weil das so viele Menschen nicht können, gibt es ja in Jerusalem so viele Probleme.“ Damit beschreibt er ziemlich perfekt das Gefühl, das die Leute auf und rund um das Festival haben: eine offenherzige Enklave innerhalb von miteinander kämpfenden Gemeinschaften zu sein, die das Ganze ungläubig von außen betrachtet und gleichzeitig genau im Herzen der Konflikte lebt.

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„Keiner sonst gibt einen Fick auf Kultur.“

„Wir sind in Jerusalem, einer abgefuckten Stadt und das in jeder Hinsicht“, so Gilly Levy, der sich tief in der Musikszene Jerusalems bewegt und die Bands des Frontline Festivals ausgesucht hat. Er sitzt im Backstage des Hansen, ein schmächtiger 27-Jähriger, der mit großen Gesten und nach vorne gerichteten Blick ausschweifend über die Probleme der Musikszene Jerusalems spricht: „Hier gibt es zwei Kräfte: Auf der einen Seite den Kapitalismus mit seinen Versprechen von netten Wohnungen, fancy Hotels und Shopping Malls und andererseits den religiösen und nationalen Konflikt. Die beiden Kräfte steuern die Stadt und mittendrin ist diese kleine Gruppe semi-säkularer Leute, die sich von allen Seiten bedroht fühlen. Keiner sonst gibt einen Fick auf Kultur.“

Am nächsten Tag treffe ich mich mit Stephan Miller, ehemaliger Sprecher des Bürgermeisters von Jerusalem, jetzt in der Jerusalem Development Authority tätig, deren Ziel der ökonomische Aufstieg der Stadt ist. Wir sitzen in einem schicken Café, das so auch in Berlin Prenzlauer Berg stehen könnte und er erzählt mir beflissen wie ein geschulter Verkäufer, in perfektem Englisch mit US-Slang, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hat, Jerusalem als Touristenmagnet zu etablieren. Absolut jeder kenne diese Stadt, aber dank der Medien würden zu viele Angst vor den Anschlägen und Übergriffen durch Fanatiker haben. Dabei sei es hier sicherer als in Berlin, London, Paris oder jede größere Stadt der USA. Was angesichts der Kriminalitäts-Statistiken dieser Städte sogar stimmt. In den letzten Jahren sei außerdem viel in Infrastruktur, Shopping und Hotels gesteckt worden, um die Stadt den westlichen Standards anzupassen, so Stephan weiter. Zustimmend nicke ich, immerhin sieht West-Jerusalem wirklich wie ein glattpoliertes Foto aus dem Hochglanz-Reisekatalog aus.

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Dieses strahlende Bild weiß Gilly später am Abend wieder genüsslich zu zerknüllen: „Wir sind in Jerusalem, einer abgefuckten Stadt und das in jeder Hinsicht. Wenn du hier aufwächst, bemerkst du nicht, wie abgefuckt es ist, du passt dich an. Als ich dann 13 Jahre alt war, stand ich auf einem Platz und plötzlich gab es eine Explosion und Leute flogen durch die Luft. Am Tag danach sind wir zur Schule gegangen, so als ob nichts gewesen wäre. Es hat Jahre gedauert, um zu checken, was hier abgeht.“

Damit spricht er einen wichtigen Punkt an. Gibt es denn Sicherheitsbedenken während des Festivals? Itay Mautner, der Artist Director der dem Frontline übergeordneten Kulturveranstaltung Jerusalem Season of Cultures bestätigt, dass das immer ein Thema sei. Er mache sich aber keine Sorgen um die Sicherheit vor Anschlägen, darum würde sich eh die Stadt kümmern. Er habe größere Bedenken, dass manche Texte der auftretenden Künstler zu aggressiven Reaktionen seitens der Gläubigen führen könnte: „Das ist unsere größere Angst. Obwohl wir liberal und nicht-religiös sind, können wir den Fakt nicht einfach verleugnen, dass wir uns in einem streng gläubigen Umfeld bewegen. Wir wollen aber mitreden. Klar, können sich Leute davon angegriffen fühlen. Weil wir nicht die Dinge zu sagen haben, die diese Leute aus ihren heiligen Schriften kennen.“ Er weigert sich aber, nur auf diese Spannungen zu schauen und Jerusalem als düstere Stadt wahrzunehmen, sondern nimmt das Konfliktpotenzial eher als Inspiration für radikale Musik wahr. Die schlimmen Sachen würden eben zum Leben dazugehören.

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„Musik ist hier kein dreieinhalb Minuten langes Produkt.“

Jedes mal, wenn ich vor der Bühne stehe und all die fröhlichen Gesichter sehe, verstehe ich mehr, was er damit meint. Dieses Frontline ist ein lauter Beweis für die Musikszene, dass sie sich einen Platz erkämpft hat und weiter wachsen kann. Daher begegnet das wild gemischte Punk-Hipster-Normalo-Publikum jedem Act mit dankbarer Euphorie. Eines Abends fahren mehrere Shuttle die Besucher nach den Konzerten im Hansen in die Altstadt, wo sich unterhalb der alten Stadtmauern eine riesige Höhle befindet, die vor über zweitausend Jahren als Steinbruch genutzt wurde. In der die nächsten drei Stunden wird hier gespenstischer Noise durch die uralten Gesteinswände hallen. Die Atmosphäre ist mit Nichts vergleichbar, was ich aus Europa kenne. Nach dem Konzert spreche ich mit der jungen Tomer Damsky, die als letzte aufgetreten war. Sie erzählt mir, dass es für sie ein seltsames Gefühl ist, an einem Ort zu spielen, der von genau den Leuten geführt wird, die auch Siedlungen in ihrer Heimat bauen. Es erinnert mich wieder an den ewigen Konflikt, der selbst das Leben der nicht-religiösen Bewohner Jerusalems prägt.

Dane Joe

Für Gilly und so viele andere ist Musik die nötige Medizin, um mit dieser Situation klarzukommen. Die Musikszene Jerusalems ist noch sehr jung, vor gerade mal zwanzig Jahren fanden sich genügend Leute zusammen, um Bands zu gründen, die in den wenigen experimentierfreudigen Bars spielen durften. Später entwickelten sich aus dem anwesenden Publikum neue Bands, Piraten-Radiosender und Fanzines. Doch diese Schritte erfolgten zögerlich, denn Musiker haben hier einen deutlich schwereren Stand als in der Party-Metropole Tel Aviv, wo sich die israelische Szene konzentriert. „In Jerusalem blieb alles klein, niemand von Außen hat sich das angeschaut und ernstgenommen“, erklärt Gilly das Dilemma und gleichzeitig das einzigartige Potenzial dieser extremen Lage, „wenn du stur genug bist, in Jerusalem ein Musiker zu sein, der damit nicht viel Geld verdient, bist du sehr strikt, wenn es um Individualität und Originalität geht.“

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Egal ob Adi Gelbert mit seinem Lo-Fi Futuristic Electro, Dane Joe mit ihrem sehr düsteren Ambient Pop, Jowan Safadi mit seinem Palestinian Folk/Western Rock-Gemisch oder eben 60 Reebo und Tomer Damsky, sie alle verlassen sich nicht einfach auf die sorgsam gepflasterten Pfade der verschiedenen Genre, sondern tippeln kreuz und quer daneben im Feld herum. Selbst bei den Locations macht diese Experimentierfreude keinen Halt, ich finde mich in einem verzweifelt überfüllten Barkeller, einem alten Theater und einem stillgelegten Hangar wieder.

Adi Gelbart

Das Frontline bietet eben jenen Musikern eine größere Bühne und ein neues Publikum, welche sich nicht kommerziell auf den Erfolg ausrichten. Im Normalfall spielen die meisten der Musiker hier vor einem Publikum, das zum Großteil aus anderen Musikern besteht. Da sich diese kleine Szene weder von Hypes, Trends oder Prinzipien wie Massentauglichkeit leiten lässt, haben es jene Bands schwer, die sich zu sehr an den westlichen Chart-Geschmack orientieren: „Musik ist hier kein dreieinhalb Minuten langes Produkt, sondern etwas Spirituelles. Sie ist ein Weg, metaphorisch oder offen über Probleme zu sprechen.“ Jeder, der diese Möglichkeit nicht wahrnimmt und lieber berühmt werden will, gerät schnell in Gefahr, von der Szene dafür verurteilt zu werden, nichts Neues und Einzigartiges zu schaffen. „Das werden sie dir nach der Show sofort ins Gesicht sagen: ‚Du machst scheiß Musik und solltest dich umbringen’ und das war’s“, fasst Gilly lachend zusammen.

Julius ist auch bei Twitter: @Bedtime_Paradox

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