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Interviews

Enter Shikari sind keine Prediger

Enter Shikari gehören der Zeitgeist-Bewegung an. Sie aber paranoide Spinner zu nennen, wäre zu einfach und falsch.

Als echter Klassiker der Verschwörungsszene gilt die Low Budet-Dokumentation Zeitgeist von 2007. In knapp zwei Stunden werden komplexe Themen wie der Ursprung der christlichen Religion, der 11.September und das Geldsystem der USA in genau das Licht gerückt, welches auch für Ken Jebsens Kellerbräune verantwortlich ist. Umso interessanter, dass sich ausgerechnet die Trancecorer Enter Shikari stolz zur Zeitgeist-Bewegung bekennen, ja, sie sogar als Haupteinfluss bezeichnen. Die vier Briten jetzt aber paranoide Spinner zu nennen, wäre zu einfach und falsch. Schließlich distanziert sich die Bewegung vom ersten Film und verweist auf die beiden Nachfolger Zeitgeist: Addendum und Zeitgeist: Moving Forward. Erklärtes Ziel von Film und Bewegung: Abschaffung des monetären Systems und Ersetzung durch eine ressourcenbasierte Ökonomie. Nicht nur kleineren Gruppen, sondern allen Menschen soll geholfen werden.

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Mich im Vorfeld eines Interviews mit solchen alternativen Theorien beschäftigen zu müssen, passiert mir eher selten und zeigt einmal mehr den besonderen Status, den sich Enter Shikari über die Jahre erarbeitet haben. Sie sind nicht mehr die lustig klatschenden Emos aus der Hitsingle „Sorry, you’re not a winner“, sondern ernstzunehmende Musiker, die seit drei Alben unermüdlich ihren Sound neudefinieren. Umso neugieriger war ich, als ich Sänger Rou Reynolds und Gitarrist Rory Clewlow in Berlin getroffen habe, um über ihr von klassischer Musik inspiriertes neues Album The Mindsweep, ihr politisches Sendungsbewusstsein und ihr Verhältnis zu der Zeitgeist-Bewegung zu reden.

Noisey: Das neue Album wird fast auf den Tag genau drei Jahre nach der letzten Platte A Flash Flood of Colour erscheinen. Wie ist es euch in der Zwischenzeit ergangen?
Rou: Wir haben ein paar mehr graue Haare und Kratzer bekommen.
Rory: Die Art, wie wir ein Album schreiben, hat sich nicht verändert. Wir versuchen immer unsere Grenzen weiter auszutesten. Doch das Produkt hat sich verändert. Wir hoffen, dass es wieder eine Weiterentwicklung ist. Es fühlt sich auf jeden Fall wieder sehr leidenschaftlich an.

Ihr wart damals Pioniere, schließlich habt ihr als eine der ersten Bands erfolgreich Trance und Post-Hardcore miteinander verbunden und seitdem einen ziemlich einzigartigen Sound etabliert. War das ein natürlicher Prozess oder eher ein spezielles Konzept?
Rou: Wir hatten einfach das Glück, dass wir mit allen Arten von Musik zu tun hatten. Mein Vater war DJ, er legte Northern Soul auf. Wir wuchsen als Teenager in eine Punk/Hardcore-Szene hinein, während zu der Zeit auch neue Underground-Dance-Genres aufkamen. Das hat uns alles beeinflusst. Ich glaube auch, dass wir nicht immer und immer wieder die gleiche Art von Musik schreiben könnten. Dann könnten wir genauso gut auch in einem Burgerladen arbeiten. Das würde den Grundgedanken, überhaupt in einer Band zu sein, entehren.

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Was war der größte musikalische Einfluss auf The Mindsweep?
Rou: Viel Post-Rock, wie Caspian und We Were Promised Jetpacks, aber ich habe auch viel Neo-klassische Musik gehört, beispielsweise Tschaikowski. Das hat uns inspiriert, einen orchestralen Sound einzubinden. Auf dem Album gibt es echte Streicher, Blech- und Holzbläser. Aber auch wie wir beispielsweise unterschiedliche Rhythmen einsetzen, wurde von klassischer Musik inspiriert.
Rory: Mich fasziniert an Klassik immer, wie viel da eigentlich passiert, aber trotzdem so wunderbar zusammenpasst. Bei unserer Musik ist es ähnlich, da passiert auch viel, aber ohne, dass es konstruiert klingt.
Rou: Viele Bands der Metalcore-Szene versuchen zwanghaft, neue Einflüsse wie R’n’B oder Synthies einzubinden. Das klingt aber meist einfach falsch. Wir verbringen die meiste Zeit damit, alles so zu miteinander zu verbinden, dass es wirklich Sinn macht.

Worum geht’s bei den Texten?
Rou: Zum ersten Mal ist jeder Song sehr individuell. Es geht viel um den Klimawandel, Klassenkampf und das fehlerhafte Konzept der „Rasse“. Es gibt auch ein ziemlich traditionelles Liebeslied, auf eine seltsam wissenschaftliche Art.

In manchen Songs klingst du echt angepisst. Was regt dich zurzeit so sehr auf?
Rou: Ähm, sehr viel (lacht). The Mindsweep hat sowohl eine positive, als auch eine negative Konnotation. Es kann alles Negative auskehren, beispielsweise Gefühle der Peinlichkeit, die dich zurückhalten und die du nicht aus dem Kopf bekommst. Aber es kann auch durch Menschen mit Macht und Geld missbraucht werden. Vor allem durch jene, die neue Ideen und alles, was ihren Profit gefährdet, verleugnen oder sogar unterdrücken. Das ist offensichtlich etwas, was uns wütend macht. Allein der Fakt, dass wir immer noch im System des Kapitalismus leben… es hilft nur einem so kleinen Prozentteil der Bevölkerung, aber zerstört so viel Umwelt und fördert Ungleichheit auf der ganzen Welt. Es ist so frustrierend. Vor allem, wenn du die Alternativen kennst. Wir könnten so viel erreichen, doch werden zurückgehalten.

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Ihr habt in Afrika gespielt, ein Ort, an dem die Konsequenzen des Kapitalismus deutlich sichtbar werden.
Rory: In Kapstadt leben die Menschen teilweise in kompletter Armut. Ich habe das in diesem Ausmaß nicht erwartet und war sehr entmutigt. Natürlich wussten wir, was dort passiert, doch das dann mit den eigenen Augen zu sehen, ließ es erst so richtig real werden. Wenn du einmal vor Ort gewesen bist, bist du echt sauer und bestärkt darin, gegen solche Zustände zu kämpfen.

Eure Band ist sehr mit der Zeitgeist-Bewegung verbunden. Was bedeutet sie euch?
Rou: Ich liebe an ihr, dass sie ein Werkzeug für Bildung ist. Die Essays und Dokumentationen sind voller Ideen, die du so gut wie nirgendwo anders findest. Besonders der letzte Film Zeitgeist: Moving Forward lässt so viele Personen zu Wort kommen, die Meister ihres Fachs sind. Deren Meinung zu speziellen Themen zu hören, ist toll. Eben weil sie alles bestätigen und bestärken, wofür die Zeitgeist-Bewegung steht. Es ist eine Ressource von Informationen, denen ich vertraue.

Ich habe vor Jahren den ersten Film Zeitgeist gesehen, der mittlerweile als Einstiegsdroge für alternative Informationsbeschaffung angesehen wird. Was war für euch der Punkt, an dem ihr den Wahrheitsgehalt etablierter Medien angezweifelt habt?
Rou: Ehrlich gesagt, hat der erste Film damals einen großen Teil dazu beigetragen. Wobei er eher Wert auf künstlerische Aspekte legt. Seitdem legen die Filme einen viel größeren Fokus auf Wissenschaft und Technologie und behandeln die Lösungen, nicht nur Probleme. Aber eigentlich gab es keinen festen Punkt, an dem ich sagte: „Okay, ich vertraue den Medien nicht mehr!“. Je mehr du dich informierst, mit Leuten sprichst und diskutierst, dich mit Theorien auseinandersetzt…
Rory: Es schleicht sich an dich ran und eines Tages sitzt du da, schaust Nachrichten und realisierst die hintergründigen Mechanismen.

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Gibt es innerhalb dieser Bewegung oder im Umfeld viele rechts-oder linksgerichtete Aktivisten?
Rou: Wenn jemand Teil einer politischen Partei ist, wird er immer voreingenommen sein. Selbst wenn es Informationen gibt, die seinen Ansichten widersprechen, wird er auf seiner Meinung beharren. Natürlich vertragen sich viele unserer Ansichten mit den Linken, aber ich fühle mich keiner Partei verbunden. Mich interessiert nur, was gut für die Menschheit ist und nicht, was gut für irgendeine Seite ist.

Diskutiert ihr oft mir euren Fans über politische Themen?
Rou: Ja, wir haben eine ziemlich engagierte Fanbase. Natürlich ist das auf einer Show schwieriger. In Amerika, wenn wir nicht gerade in New York oder LA spielen, sondern nur vor ein paar hundert Leuten stehen, sitzen wir am Merchstand und sprechen mit den Leuten. Ansonsten passiert viel im Internet, Leute schicken uns Artikel-Links, um mit uns darüber zu debattieren.

Habt ihr Sorge, dass ihr euch schon längst in einer Echochamber befindet?
Rou: Klar, das hast du immer Hinterkopf. Es geht nicht nur darum, alles, was du konsumierst, sondern auch dich selbst ständig zu hinterfragen. Wenn du eine Meinung zu etwas hast, dann frage dich auch, warum du sie hast und ob du sie völlig mit dir selbst vereinbaren kannst. Wenn du Beweise findest, die deiner Meinung zuwiderlaufen, musst du sie lesen und dein Urteil überdenken. Manchmal kann das schmerzen: „Fuck, das kann nicht stimmen!“ Es kann aber auch sehr befriedigend sein, über den eigenen Schatten zu springen.

Versuchst du durch deine Rolle als Frontman auch während des Auftritts auf politische Probleme aufmerksam zu machen?
Rou: Eigentlich lassen wir die Musik für sich sprechen. Aber es kann vorkommen, wie beispielsweise auf einem Festival in Leeds. Da habe ich darüber gesprochen, wie der Gesundheitsdienst in England immer weiter privatisiert wird. Wenn wir etwas sagen, dann ist das schon etwas, was jeden mehr oder weniger stark betrifft. Vor allem in Amerika gibt es diese christlichen Bands, die zwischen jeden Song predigen. Das ist wiederum schon echt sehr bevormundend.
Rory: Viele Leute schalten ab, wenn sie das Gefühl haben, belehrt zu werden. Deswegen machen wir das nicht, die Leute sollen von sich aus drauf kommen.

The Mindsweep ist bei Play It Again Sam/Ambush Reality (rough trade) erschienen. Hol es dir bei Amazon oder iTunes.

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