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Ein Versuch, J-Pop-Fans zu verstehen

Ein Kyary Pamyu Pamyu-Konzert ist wie ein Glücksbärchi-Gangbang auf dem Tomorrowland.
Ryan Bassil
London, GB

Alle Fotos von Jake Lewis

Anhänger von Subkulturen waren eigentlich immer leicht zu finden: Emokids mit furchtbaren Frisuren und unleserlichen Bandshirts hingen an den zentralen Bahnhöfen und Bushaltestellen ab, die harten Jungs mit Ecko Jogginganzügen und JD Sporttaschen herrschten zwischen Ladenschluss und Ende des Kinoprogramms über die öffentlichen Plätze und Tankstellen der Provinz und Indiekids müllten Parks und Gedenkstätten mit Zigarettenstummeln und Gitarren zu, die sie aus dem Musikraum der Schule geklaut hatten. Alle hatten ihr eigenes Habitat.

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Heutzutage werden wir nicht mehr so sehr über unsere Interessen definiert, weil sich diese einfach in alle Himmelsrichtungen verstreut haben. Gefühlvolle Muskelprotze aus Chelsea tragen jetzt Skinny Jeans und hören Kendrick Lamar. Die Grenzen zwischen Urban- und Dance-Musik sind inzwischen so verschwommen, dass alle sowieso nur noch machen, was sie wollen.

Aber es gibt noch kleine Inseln der Subkultur, denen allerdings jeder Sinn für Beständigkeit abgeht. Deren Anhänger bewegen sich abseits der lokalen McDonald’s Filialen und sie manifestieren sich nur, wenn eine passende Veranstaltung stattfindet: wie ein Psytrance Rave oder ein HipHop-Battle. Auch wenn es nur um wenige Stunden geht—einem kleinen Zeitfenster zwischen Mikrowellenmahlzeit und Arbeit—verschreiben sich die Menschen komplett einem bestimmten Fashion-Statement und einem Lebensstil.

Kawaii—das übersetzt so etwas wie „süß“, „niedlich“ und „liebenswert“ heißt—ist eine japanische Subkultur, die es dank des Internets, von Tokyo bis nach Europa geschafft hat. Sie begegnet dir in der Form von Hello Kitty, Sailor Moon und einigen J-Pop-Künstlern—in erster Linie ist es harmlose Unterhaltung mit einer liebreizenden Ästhetik.

Obwohl sich Kawaii inzwischen auf dem ganzen Globus ausgebreitet hat, scheint es ausschließlich außerhalb von öffentlichen Plätzen zu existieren. Abgesehen von einem Avril Lavigne-Video, Babymetal und ein paar anderen höchst verwirrenden Videos auf YouTube, ist J-Pop in Europa nicht gerade Gesprächsthema Nummer Eins. Trotzdem tauchten um die 2000 Leute, vor allem britische Teenager, im ausverkauften Shepherds Bush Empire in London auf, um sich Kyary Pamyu Pamyu anzuschauen, eine japanischen Popsensation, deren YouTube Videos gerne mal die 60 Millionen-Marke sprengen—das ist das Dreifache von dem, was Drakes letzte Single „Worst Behaviour“ bislang erreicht hat.

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Ich lief einige Zeit vor dem Laden auf und ab, um herauszufinden, was Kyary Pamyu Pamyu wohl hat, was ich nicht habe. Jede Antwort, die ich darauf bekam, bewegte sich allerdings zwischen (A) ‚die Musik ist so süß und kuschelig’ und (B) ‚es ist so fröhlich und mir gefällt es einfach’. Ich fragte ein Mädchen, das ein ausgestopftes Spielzeuglamm in ihrem Arm hielt und in Harajuku-Klamotten gekleidet war, ob man Kyary mit irgendeinem britischen Popstar vergleichen könnte. Ihre Antwort war „Lily Allen“. Sollte ich also Witze über Promis und Referenzen zum TV-Tagesprogramm erwarten?

Nicht ganz. Kyary kommt früh auf die Bühne—es ist gerade mal 20:30 Uhr. Die Show—bestehend aus dem Inhalt einer Spielkiste, Back-Up Tänzern und Menschen in Bärenkostümen, es erinnert an ein Boohbah-Gangbang auf dem Tomorrowland Festival—nur noch gruseliger.

Ich schätze, sie steht symbolisch für kompromisslose Selbstvergessenheit und pathologische Realitätsflucht. Es ist ein Ort voll mit Teddybären, Karussells und jedem pinken Emoji auf der iPhone-Tastatur. Die Musik ist jetzt nicht per se furchtbar, sie klingt einfach wie ein Trip ins Phantasialand, hätte ich eine wirkliche ausgeprägte Form von ADHS und einen Sack Center Shocks gefressen.

Kyary, die Laute von sich gibt, wie jemand, der gerade das beste Törtchen auf der ganzen Welt gebacken hat, spricht die meiste Zeit Japanisch. Ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und stelle die kühne Behauptung auf, dass nicht alle der 17-jährigen Besucher, die aus den Vororten in einem sogenannten „Onesie“ angereist sind, fließend Japanisch sprechen. Und trotzdem scheinen sie alle genau zu wissen, was gerade vor sich geht. Sie jubeln und lachen sogar an den richtigen Stellen. So in der Art ist es wohl, wenn Adele in Buenos Aires oder Kanye in Paris spielt. Du lernst einfach die Stichworte für eine Hasstirade, einen Gag oder eine Frage und gibst an der richtigen Stelle die passenden Geräusche von dir. Kyary ist die Königin des Publikums. Wenn sie es anspricht, antwortet es; wenn sie es auffordert, boxt es in die Luft und klatscht gleichmäßig im Takt—als ob man sich bei einer Demo befinden würde. Wenn sie aber keine Anweisungen gibt, stehen alle mucksmäuschenstill; es gibt keine Moshpits, kein Schubsen, Drängeln und kein Reinrufen.

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Das Publikum ist allerdings sehr erpicht darauf, fotografiert zu werden. Ganz im Gegensatz zu, sagen wir, einer Rapshow, wo Leute sich weigern, fotografiert zu werden, weil es ihre Street-Credibility versauen würde (was auch immer das sein soll). Aber Kyarys Fans lieben es. Diese Nacht ist die perfekte Amalgamation aus Posen, Performance und Realitätsflucht: die einmalige Chance einer Harajaku Lifestyle-Emulation, die in ihrem richtigen Leben, das aus der Arbeit in einem Supermarkt, dem Kampf um gute Schulnoten und dem Herumstöbern auf Facebook besteht, einfach unmöglich ist.

Hier sind noch ein paar Menschen, die wirklich glücklich waren, für unsere beiden Kameras posieren zu dürfen.

Ihre Fans tragen nicht nur Lolitakostüme und klatschen, wenn es ihnen gesagt wird, sondern zahlen auch mit barem Geld für Poster und drängen sich um den Bühneneingang, um einen Blick auf ihre Heldin erhaschen zu können. Ich verstehe vollkommen, wenn so etwas bei Bands wie One Direction passiert, aber Kyary ist dann doch anders. Ihre Songs laufen weder im Radio, noch tritt sie bei MTV auf. Sie hat auch niemals bei X-Factor mitgemacht und deine Mutter hat definitiv noch nie von ihr gehört.

Es gibt vielleicht nicht mehr viele sichtbare Subkulturen, aber hinter verschlossenen Türen existiert ein ganzer Kawaii-Trupp. Sie sind leidenschaftlich und unterstützen ihre Künstler. Sie reisen Stunden, um jemanden zu sehen, der für sie den gleichen Stellenwert besitzt, wie Fallout Boys Pete Wentz für die MySpace-Generation oder Pete Townshend für die Mods. Subkulturen sind vielleicht nicht mehr ganz so präsent wie früher, aber es gibt sie noch und Kawaii Fans gehören zu ihren loyalsten.

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Die Kostüme bleiben aber trotzdem einfach bescheuert.

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