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"Ich kann per Knopfdruck Karrieren beenden"—Julian Williams stößt Fler vom Interview-Thron

Ein Interview, das alle Rap-Interviews mal eben in den Schatten stellt. Episch, Julian Williams, episch!

Foto: Screenshot von YouTube aus dem Video "Ich hab 20 Jahre lang die Fresse gehalten!"—Das große Julian Williams Interview … von BACKSPIN

Es gibt Interview-Sätze, die sind für die Ewigkeit. Als der ehemalige Optik Records-Künstler Ercandize im Gespräch mit der Backspin über sein eigenes Album resümierte: "Wer hat solche Kombos? Ich kenn niemanden. Vielleicht drei, vier Leute. Und das sind meine Freunde!", konnte er nicht ahnen, was er da angerichtet hatte. Kaum ein Rapper oder Fan der danach nicht seine Witzchen über diese eigenartig selbstbeweihräuchernde Aussage machte. Inzwischen gehört Ercs Statement genauso zu Deutschrap wie Fanboxen, YouTube-Statements oder Falk Schacht. Nur Ercandize gehört irgendwie nicht mehr so richtig dazu. Einige Jahre später sorgte Fler mit seinem "epischen Interview" (ebenfalls bei den Kollegen von Backspin) und der Aussage "Willst du Fotze sagen, Kollegah rappt wie Rakim?!" für einen ähnlichen Hype. Sein bereits davor intensiv gepflegtes Interview-Game trieb der nebenberufliche Erfinder mit diesem Rap-Tribunal auf die ultimative Spitze. Höher ging es ab da nicht mehr. So dachte man. Denn: Sky is the limit, doch was ist mit der NASA?

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Fler schwächelt seitdem. Nicht nur, dass es ihm schwerfiel, den Auftritt bei Niko Backspin zu toppen, zusätzlich wird er mit Vibe jetzt auch noch ein Album raushauen, das wahrscheinlich das beste seiner Karriere ist. Die musikalische Qualität kratzt natürlich an seinem Ruf als ironischer Interview-Gott. Dazu hat Kollegah für den 02.09.16 auch noch einen neuen Disstrack angekündigt, eine Antwort ist durchaus im Bereich des Möglichen. Flers Relevanz ist damit momentan auf einem derart hohen Niveau, dass es nicht mehr möglich ist, ihn nur über Interviews zu definieren. Das ist schade für all diejenigen, die seine Musik sowieso nur sarkastisch hören (mögen sie an ihrem Lachen ersticken). Denn einerseits ist Flers starker Output natürlich ein Segen für alle, denen es noch um Musik geht. Andererseits hinterlässt er eine klaffende und schmerzhafte Lücke im Interview-Zirkus. Doch Rettung naht. Und sie ist vielversprechend.

Aus der Asche des maskulinen Phönix tritt J-Luv hervor. Musikalisch stand J-Luvs Reputation bisher außer Frage. Auch wenn die letzten Jahre nicht unbedingt von großen Solo-Erfolgen geprägt waren, so ist Julian Williams, wie er sich mittlerweile nennt, niemand den man vorstellen muss.

Williams hat die Prise Wahnsinn in der Stimme und im Songwriting, die einem Xavier Naidoo beispielsweise fehlt, und dem gottesfürchtigen Schnulzensänger somit, trotz seiner unbestrittenen gesanglichen Fähigkeiten, den Sprung in die Oberliga des Souls verwehrt. Bei Xavier liegt der Wahnsinn halt woanders, was ihm musikalisch leider wenig bringt. Und dieser Wahnsinn, der jedem wirklichen Genie innewohnt, scheint bei J-Luv nun endgültig ausgebrochen zu sein. Interessanterweise erneut bei Backspin.TV, die offenbar ein Händchen für legendäre Interviews haben, auch wenn ein Rooz mit seinem "Lass uns über Beef reden, vielleicht finden wir dann noch zwei Minuten um übers neue Album zu sprechen"-Talk bedeutend mehr Klicks sammelt.

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Wer sich die legendären Songs und Videos ("Damals kam mein erstes Millionen-Mark-Budget Video" *WilliamsVoice*) des von Moses Pelham entdeckten Sängers genauer anschaut, dürfte nicht überrascht sein von der Extravaganz, die er nun an den Tag legt. In "Weil du mich liebst?" mimt er einen Love-Ninja, der zwischen Rosenkränzen herumturnt und steht in einer bunten LSD-Plastikwelt vor einem schwarz-rot-goldenen Regenbogen. Das ist selbst für die 90er Jahre abgedreht. Dazu schlürfen Pornosternchen Champagner und ein schwarzes Pferd wird gestriegelt. Wenn du das nicht fühlst, dann hast du kein Herz, Bruder. In der Folgezeit arbeitete der blutjunge Williams mit sämtlichen Größen der Industrie zusammen. Egal ob Curse, Azad, Moses P., Peter Fox, Samy Deluxe oder als Vorband von Herbert Grönemeyer—J kannte und kennt sie alle. Kein Wunder, dass eine derartige Karriere und ein solches Schaffen Spuren hinterlässt. "Ich will mein Hak! Die Marke Julian Williams ist vier bis fünf Millionen Euro wert!" sagt Williams und während der Interviewer sprachlos vor dem monologisierenden Sänger sitzt, legt dieser nach wie ein Saunameister. "Steigende Tendenz, nie gefallen, sehr gute Dramaturgie."

Ein wenig bedient sich dann aber auch ein J-Luv (wahrscheinlich unbewusst) bei den Interview-Helden vergangener Tage. "Rappen kann jeder" befindet er und erinnert an den wunderschönen Moment, als Fler behauptete, die Kamerafrau der Backspin habe wahrscheinlich mehr Rapskillz als er selbst. J-Luv möchte dem offenbar in nichts nachstehen. "Vielleicht mach ich aber auch demnächst ein Rap-Album". Einmal warm gelaufen, sprudelt es nur so heraus aus dem Mann mit der Hook-Garantie: "Ich mach' die krassesten Beats hier in Deutschland", "Ich hab' 20 Jahre meine Fresse gehalten, aber ich kann per Knopfdruck Karrieren beenden", "Swizz Beats hat sich nach mir erkundigt", "Ich hab' einen Jahrhundert-Hit geschrieben und produziert" und "Ich bin es leid, diesen Stern 'Der Beste' aufgemeißelt zu bekommen". So geht das weiter, bis ins Unendliche und zurück. Im Universum Julian Williams ist J-Luv der Mittelpunkt, um ihn herum drehen sich die anderen Künstler wie beliebige Asteroiden. Verdüstert sich seine Laune, ist das für uns hier auf der Erde einer Sonnenfinsternis gleich.

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Bei einer derart großen Auswahl an legendären Sätzen und Formulierungen fällt es schwer, sich einen einzigen rauszupicken. Aber J-Luv wäre nicht J-Luv, wenn er nicht selbst für dieses Dilemma eine Erklärung beziehungsweise eine Problemlösung parat hätte. "Ich bin Künstler und kann mich philosophisch und textlich in ganz, ganz, ganz viele multiple Persönlichkeiten hineinversetzen. Und mindestens 20 davon haben vollkommen die Schraube locker." Word! Unnötig zu erwähnen, dass der Mann nach gefühlten 20 Jahren endlich wieder ein Album zu promoten hat. Vielleicht ist es besser, ihr kauft das, bevor noch jemand verletzt wird. Wir wollen uns dennoch an die guten alten Zeiten erinnern und schließen ab, mit dem Evergreen "Dreckig und Tight", dessen Video nicht nur aus den Überbleibseln von Puff Daddys Setdesignern zusammengebaut wurde (und das sogar ziemlich ansehnlich), sondern nach wie vor für Hüftschwinger und Kopfnicker sorgt, wie Tatwaffe sagen würde. Auch wenn sich uns Textzeilen wie "Ist dieser, der so nice ist, dass er heiß ist, mit Sexappeal der Ergreifnis, work them hips, die ich schick bis du entgleist, Bitch!" nicht ganz erschließen: Das Ding ist immer noch ein absoluter Brecher, obwohl oder vielleicht gerade, weil Williams im Video erneut sein Faible für die Farben schwarz-rot-gold auslebt. Kaum ein Bild, in dem die deutsche Flagge nicht im Bild ist, warum auch immer. Ein Deutschland-Regenbogen bleibt uns leider verwehrt.

Bleibt zu hoffen, dass Williams bald wieder Musik releast, die seine Interviews vergessen machen, so wie es auch Flizzy geschafft hat. Und falls nicht? Fragen wir doch einfach den Künstler selber: "Ich genieße den Star-Modus, den Superstar-Bonus." Wer kann das schon von sich behaupten? Ich kenne niemanden. Nur drei oder vier Leute. Und das sind meine Freunde. Könnt ihr Staiger fragen, das hat mit HipHop nichts zu tun.

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