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Der Eurovision Song Contest 2013 war schlimmer als du dir vorstellen kannst

Einfach alles, was sich auf dem Eurovision Song Contest abspielt, ist grotesk und verwirrend und überfordert dich maßlos.

Wir wissen alle, dass es in Deutschland aus nicht nachvollziehbaren Gründen ständig Mediengroßereignisse gibt, die man sich eigentlich nicht anschauen und als normal denkender Mensch auch nicht ernst nehmen kann. Meist ist es aber wie bei einem Unfall und man guckt trotzdem hin. Bei dem Eurovision Songcontest ist das anders. Man lässt ihn ganz bewusst sausen, da man hier selbst mit Ironie und Alkoholmassen nicht über die Fremdscham-Momente oder die epischen, weltverändernden Einspieler hinwegkommt. Zusätzlich werden hier Musik und Choreografien auf die Bühne gelegt, für die man sich wegen ernstzunehmender Gewissensbissen nicht einmal mehr fremdschämen möchte, zu denen man oft auch erst überhaupt keine Gefühle aufbauen kann, weil der Kopf sich weigert einzusehen, dass das im Fernsehgerät gerade wirklich passiert ist. Denn einfach alles, was sich auf dem Eurovision Song Contest abspielt, ist grotesk und verwirrend und überfordert einen maßlos. Gestern Abend also, als der Eurovision Song Contest 2013 in Malmö stattfand, gab es wieder Brainfuck vom Allerfeinsten, den sich vermutlich nur die ganz Harten reinziehen konnten. Mit seelischer Unterstützung von Twitter und Notrufnummer auf dem Tisch habe ich mir das ganze Schauspiel ebenfalls angeguckt und wurde ganz schnell daran erinnert, warum der ESC nur was für die ganz Harten ist.

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Es gab einige schockierende Momente, in denen ich den Tränen nah war. Ich kann nicht genau sagen, ob aus Schock, Trauer oder unendlicher Freude, denn ich war die gesamte Zeit extrem verwirrt. Beispielsweise davon, dass wirklich alle Beteiligten in den 90er Jahren steckengeblieben sind bzw. einer Sekte angehören müssen, die mit diesem Event versucht, ein 90s-Revival heraufzubeschwören. An manchen Momenten konnte man sich all das Geschehene nur damit erklären, dass die letzten 20 Jahre überhaupt nicht passiert sind, dass die 90er Jahre erst anfangen haben und die Welt sich gerade rückwärts dreht.

Seit wann gibt es überhaupt wieder Eurodance? Und sind Backgroundtänzer nicht längst ausgestorben? Ein durchgehender Trend des ESCs waren hampelnde, grinsende Tänzer im Hintergrund, die aussahen, als hätte ihnen D! kurz vor dem Auftritt auf die Fresse gegeben, um ihr Dauergrinsen einzurasten. Soweit ich mich erinnere waren diese verrückten synchronisierten Arm-Spielchen, die zwei oder drei Personen hinter dir veranstalten, schon in den 90er Jahren uncool. Aus irgendeinem Grund hatte etwa ein Drittel der Künstler solche Kunststücke auf Lager.

Ein weiterer unerträglicher Begleiter des Abends waren intensive Kamerablicke, von denen ich dachte, sie wären zusammen mit Boybands ausgestorben—aber so ist dem nicht. Stattdessen fühlte man sich entweder sexuell belästigt oder musste sich fürchten, dass die erschreckende Gestalt im Fernsehen gleich ein Messer rausholt und dich abschlachten möchte.

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Nach den ersten Auftritten von Frankreich, Litauen und Moldavien, die mich zwar schockierten, aber im Vergleich zum Rest des Abends sehr harmlos schienen, kam die finnische Mischung aus Ke$ha, Britney Spears und Lady Gaga auf die Bühne, die den skandalösen MTV-Auftritt von Britney Spears, Madonna und Christina Aguilera eins zu eins wiederholte und dabei so etwas schrie wie „Marry Me!".

Neben den obligatorischen Backgroundtänzern standen auch ein paar bayrische transsexuelle Brautjungfern auf der Bühne.

Weißrussland setzte ebenfalls auf das Konzept „heiße Alte" und schickte eine Disco-Shakira auf die Bühne, die sich vergeblich daran versuchte, mit den Hüften zu wackeln. So wie die meisten Lieder des Abends war auch ihr Song dieses eine Lied aus dem Radio, das du schon mal gehört hast, aber nicht mehr sicher bist wie es heißt. Ich vermute aber, ich kenne es aus der Kinderdisco vom Cluburlaub.

Malta schickte einen Sänger ins Rennen, der aussah wie ein dicker Buddha in dünn und eine Mischung aus „Somewhere over the Rainbow" und diesem einen Jason-Mraz-Lied performte. Ein richtiges Sweetheart, das am Ende des Auftritts mit seiner ganzen Familie auf der Bank saß und sich nette Blicke zuwarfen.

Danach war Cascada dran. Mein Stream brach leider genau zu dem Zeitpunkt ab. Aber halb so schlimm, wir kennen das Lied ja noch vom letzten Jahr.

Armenien brachte eine Band auf die Bühne, die laut ARD-Kommentator Peter Urban „alle Rock N' Roll-Klischees" vereinte. Gemeint war damit wohl die Feuershow, die Jeansoutfits und die Sonnenbrillen. Hier hat wohl jemand keine Ahnung von Rock N' Roll.

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Das absolute Highlight des Abends war der Auftritt der Rumänier. Ein als Vampir verkleideter Rumäne performte etwas zwischen Bon Jovi und Modern Talking, verpackte das alles im Musical-Stil und ließ das Ganze dann in Dubstep-Beats auslaufen. Als wäre das nicht schon genug gewesen, erschienen mittendrin ein paar nackte männliche Tänzer und führten eine ballet-ähliche Akrobatikaufführung vor. Muss ich nochmal erwähnen, wie surreal dieser ESC war?

Verstörend waren auch die Einspielfilme zu den jeweiligen Künstlern, die allesamt wie Imagefilme für die Telekom aussahen. Bei Großbritanniens Kandidat Bonnie Tyler setzte man stattdessen auf etwas, das wie ein Werbefilm für eine Altersvorsorge oder eine Versicherung aussah.

Danach kam das Land, das von uns Deutschen ganze 12 Punkte bekam. Ungarn schickte einen Jungen mit Nerdbrille auf die Bühne, der durchgehend in einer Tonlage sang, dazu stampfte, als wäre er in einem Technoclub, und hundertprozentig bis jetzt nicht mehr aus seiner Röhrenjeans herausgekommen ist.

Emelie de Forrest, die Siegerin des Abends—die einen Namen à la Ochsenknecht hat, den ich hier nicht wiederholen möchte—trat barfuss auf die Bühne und fing ihre Performance zu „Teardrops" im Sitzen an. Sie setzte auf eine Mischung aus Lafee und Lindsey Stirling, sah allerdings—wie viele an diesem Abend—aus, als würde sie nicht ein europäisches Land vertreten wollen, sondern Mittelerde. Mit dem jungen Flötenspieler verbrachte sie dazu einen der erotischsten Momente des Abends.

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Island hatte David Garret im petto, der Emilias „I'm a big big girl in a big big world" sang. Oder so.

Bestimmt denkt ihr schon, es kann nicht skurriler werden, aber mit der Startnummer 20 trat Aserbaidschan auf die Bühne. Es war mit Sicherheit die leidenschaftlichste Performance, die der Sänger auf einem Glaskasten hinlegte, in dem so etwas wie ein Schlangenmensch steckte und sein Spiegelbild darstellte. Im Grand Finale kam noch eine Dame hinzu und es sprühte nur so vor Leidenschaft und Eifersucht.

Nach dieser andauernden Serie von WTF-Momenten kam die Erlösung in Form einer griechischen Schnurrbart-tragenden Truppe auf die Bühne und mit ihrem Titel „Alcohol is Free" dem wohl noch letzten nüchternen Zuschauer das Signal gab, sich sofort abzuschießen. Alles andere wäre auch unverantwortlich gewesen.

Italien brachte so etwas wie den Hipster-Sohn von Eros Ramazotti auf die Bühne, der als Erster des Abends komplett auf Backgroundtänzer und -sänger verzichtete und auch keine Feuer-, Laser oder Kunst-Show im Hintergrund laufen hatte. Ich habe mich zu Tode gelangweilt.

Der krönenden Abschluss kam von Irland, die mit unfassbaren Tribal-Visuals (Hallo? 2013?) und einer Einlage des Safri Duos glänzten.

Danach ging es weiter zur Punktevergabe, die im Ernst sehr unvorhersehbar war. Schließlich hatte man die Qual der Wahl. Und trotzdem war sie absolut unspannend—bis auf den kleinen Moment, an dem Lena Meyer-Landrut als Deutschland-Korrespondentin die Punkte vorlas und unsere 10 Punkte aus Versehen an Norwegen anstatt an Dänemark vergab. Das war wirklich total charmant. Als wäre Cascada nicht schon genug gewesen.…

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