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Interviews

Amenra haben keinen Bock auf die Ellenbogengesellschaft

Amenra haben uns Audienz auf einer Toilette gewährt und über Bühnenshows, Fingernägel verbrennen und ihre ihre Symbolik gesprochen.

Mitarbeit: Paul Stralek

Die belgische Post-Metal-Band Amenra ist nicht gerade dafür bekannt, sehr gesprächig zu sein. Am Rande des Beyond the Redshift Festivals in London konnten wir uns jedoch mit ihrem Sänger Colin unterhalten. Er hat uns fast eine Stunde lang Audienz in der Toilette des Pressebereichs gewährt und uns die Symbolik Amenras und die Arbeit der Church of Ra erklärt. Außerdem hat er uns verraten, was er am Muttertag gemacht hat.

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Noisey: Was bedeutet eigentlich der Name Amenra?
Colin: Der Name besteht aus den zwei Wörtern „Amen“—dem Ende eines Gebetes, was so viel heißt wie „So sei es“—und „Ra“, das aus der ägyptischen Mythologie kommt. Amun-Ra ist der Gott des Lebens und der Sonne. Amenra bedeutet also für uns so viel wie: „Leben—So sei es.“ Du nimmst alles, wie es kommt. Im Leben gibt es immer wieder Augenblicke des Unglücks. Unser Ziel ist es, diese zu überkommen und stärker aus ihnen hervorzugehen.

Ihr benutzt auch viel christliche Terminologie und Symbolik. Du selbst hast eine Art umgedrehtes Kreuz über deinen ganzen Rücken tätowiert.
Ja, doch das ist zusammengesetzt aus drei Symbolen und hat nicht unbedingt etwas mit der Band zu tun. Das erste Symbol des Kreuzes ist die Todesrune. Sie steht für die Sicherheit, dass mein Leben im Tod endet. So versuche ich auch mein Leben zu leben. Ich war schon oft mit dem Tod konfrontiert und das hat meine Ansicht des Lebens radikal geändert. Ich nehme es dadurch viel positiver wahr. Die wichtigste Lehre, die mir mein Vater beigebracht hat, war das Sterben. Wir müssen das als Menschen alle lernen. Das zweite Symbol ist das Tau-Kreuz. In der Bibel versieht Gott Kain damit auf seiner Stirn, sodass ihn niemand verletzt oder tötet. Heute steht es somit für ein Auserwähltsein, es ist ein Schutzzeichen. Das dritte Symbol ist ein doppelter umgedrehter Galgen, den ich als Schutzzeichen für meine beiden Söhne verstehe.

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Wieso benutzt ihr diese Symbolik für die Band?
Wir haben das nicht deswegen gewählt, weil es eben cool ist. Wir sind einfach so aufgewachsen. In kleinen belgischen Dörfern ist der Katholizismus sehr stark verbreitet. Unsere Großeltern beispielsweise waren sehr religiös. Die Kirche im Dorf war omnipräsent. Obwohl wir nicht religiös sind, ist es einfach ein Teil unserer Kultur, Geschichte und Erziehung. Wir nutzen diejenige Ikonographie und Metaphern, die für uns Sinn machen. Ein Kreuz zum Beispiel wird immer ein Symbol für Schmerz sein. Schmerz ist sehr wichtig für unsere Musik. Wir fangen eigentlich immer davon ausgehend an und versuchen Erfahrungen des Leidens in etwas Gutes umzuwandeln, wovon wir etwas lernen können. Zudem benutzen wir auch oft eine Taube, die das ungreifbare alles-umspannende Göttliche oder Sein darstellen soll.

Kannst du uns etwas über eure Church of Ra erzählen?
Das ist die Kirche des Lebens. Ihr Symbol ist ein Dreieck versehen mit einer Krähe. Ersteres steht für die Dreieinigkeit des Lebens: Vater, Mutter und Kind—der Ursprung von uns allen. Die Krähe wiederum stellt den Tod dar. Uns geht es immer um grundlegende Dinge wie Anfang und Ende, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Die Church of Ra ist für uns wie ein moralischer Code, eine Art, gemeinsam zu leben und Problemen zu begegnen. Wir sind nur eine kurze Zeit auf dieser Welt. Währenddessen versuchen wir als Menschen so gut zu sein wie möglich. Wir halten alle zusammen und helfen einander. Wir wollen uns nicht der Ellenbogengesellschaft anpassen…

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…was heute die vorherrschende Mentalität zu sein scheint.
Ja absolut. Das macht mich sehr traurig. Es ist eine verdammt harte und kalte Welt. Auch, oder vielleicht gerade, in der Musikindustrie. Du musst strategisch vorgehen, andere ausstechen. Darauf haben wir keinen Bock, so was ist echt traurig. Deswegen haben wir die Church gegründet, mit der wir andere Bands unterstützen und mitziehen. Und die tun das gleiche für uns. Zusätzlich sind noch andere Künstler wie Fotografen und Filmemacher mit dabei. Amenra ist ein Gesamtkunstwerk. Wir arbeiten viel mit Film und Licht und diese Arbeiten werden von Künstlern der Church of Ra angefertigt. Es ist eine großartige Gemeinschaft, die uns viel bedeutet. Wie eine Familie, die zusammensteht.

Wie oft seht ihr euch? Oder habt ihr regelmäßige offizielle Treffen?
Fast alle von uns leben in der gleichen Stadt, also in Gent oder in der Nähe davon. Wir haben nicht so viel Zeit, weil wir alle arbeiten und Familien haben. Aber wir kommen oft zusammen, trinken Kaffee und hängen ab. Oder bereiten neue gemeinsame Projekte vor. Manche von uns arbeiten auch zusammen.

Was arbeitest du denn, wenn ich fragen darf?
Ich bin Inhaber eines Skateshops, zusammen mit einem unserer Gitarristen.

Neben Symbolen wie Kreuzen, benützt ihr auf der Bühne ihr auch oft Weihrauch.
Ja und das hat auch mit unserer Herkunft zu tun. Der Geruch von Weihrauch erinnert jeden, der mal in einer Kirche war, an eine Messe. Etwa an ein Begräbnis oder eine Hochzeit. Dieser Geruch erinnert einen an etwas sehr Ernsthaftes. Wenn du das zum ersten Mal bei einem Konzert riechst, kannst du vielleicht nicht direkt die richtige Verbindung herstellen. Doch du merkst, dass irgendetwas gerade falsch oder seltsam ist. Weihrauch gehört ja nicht auf die Bühne. Aber es gibt der Show die Ernsthaftigkeit, die sie braucht. In die Kirche gehen ist ein Ritual. Unsere Shows sind das auch.

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Was für andere Projekte verfolgt die Church of Ra?
Wir machen etwa Kunstfilme, aber in sehr kleinem Rahmen ohne große Öffentlichkeit. Über die letzten Jahre hinweg habe ich übrigens meine Haare und Fingernägel gesammelt. Bei den Filmvorführungen verbrennen wir diese. Das ist ein altes Druidenritual, mit dem wir nicht nur psychisch in das Publikum eindringen können, sondern auch körperlich. Weil sie dann einen Teil von uns einatmen.

Du hast vorhin Schmerz als wichtiges Thema eurer Musik angesprochen. Vielleicht können wir darauf noch einmal eingehen. Wieso sind Leid und Schmerz so wichtig für euch?
Es gibt nicht einen Menschen, der in seinem Leben nicht leiden muss. Jeder von uns wird irgendwann eine furchtbar schmerzhafte Erfahrung machen. Dabei gibt es keine Messlatte, an der du festmachen könntest, dass ein Schicksal schwerer ist als das andere. Wenn du dich fühlst, als wärst du am Ende—das ist der Punkt, an dem wir versuchen anzusetzen. Wir machen unsere Musik für Menschen, die sich allein, traurig oder zerstört fühlen. Früher gab es Religion, die uns Halt gab. Heute ist das für viele Menschen keine Hilfe mehr. Die Antworten auf deine Fragen liegen nicht irgendwo im Himmel. Sie sind in dir. Du musst deine eigenen Antworten finden. Wir versuchen also zunächst uns selbst durch die Musik zu heilen. Dadurch, dass wir das öffentlich und ehrlich tun, können andere auch Wege finden, mit Hilfe unserer Musik ein schweres Schicksal zu überkommen. Zumindest ist das unserer Hoffnung.

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Das kommt, wenn ich das richtig sehe, auch in euren Live-Shows rüber. Ihr seid zwar auf der Bühne, aber ihr zieht euch eigentlich zurück. Ihr tragt nur schwarz, eure Person steht nicht im Vordergrund, sondern die Musik in Kombination mit dem Film, der auf der Leinwand hinter euch gezeigt wird, stehen im Mittelpunkt. Es gibt keine Rockstarattitüden und Publikum und Band scheinen eins zu werden.
Ja das ist tatsächlich unser Anliegen. Es soll keine Hierarchie geben. Als wir noch eine unbekannte Band waren, stand ich immer im Publikum. So konnte ich den Unterschied zwischen Band und Publikum noch weiter aufheben. Wir haben kein Interesse daran, auf der Bühne zu stehen und uns bejubeln zu lassen oder dem Publikum zu erzählen, was sie zu tun haben. Es gibt schon genügend derartige Bands. Wir aber wollen eine ernsthafte und ehrliche Band sein, die nicht versucht, sich mit irgendwelchen Geschichten darüber zu profilieren, was für ein verrücktes tolles Rockstarleben voll Suff und Groupies sie hat. Es ist nämlich gar nicht so. Wir reisen viel und schlafen an beschissenen Orten. Wir müssen jeden Tag unser Equipment ein- und ausladen und so weiter.

Wo schlaft ihr denn gerade hier in London?
In der schlimmsten, schrecklichsten Pension aller Zeiten. Kein Scheiß. Wir kamen erst um 1 Uhr nachts an. Der Parkplatz der Pension ist mehr als eine halbe Stunde von ihr entfernt. Obwohl die behauptet haben, es seien nur 5 Minuten. Wir mussten also mit unserem ganzen Equipment ne halbe Stunde durch die Londoner Nacht latschen. Und beschissene Duschen hatten die auch. Hier ist dein Rockstarleben. Haha, das sind Probleme, oder?

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Allerdings. Vor ein paar Jahren habt ihr ein Akustikalbum veröffentlicht. Wie behaltet ihr euch die künstlerische Freiheit als Post-Metal-Band so etwas glaubwürdig zu machen?
Es ist ein Problem, dass viele Musiker glauben, sie hätten keine oder kaum künstlerische Freiheit. Du kannst immer das machen, was du machen willst. Dafür bist du ja Künstler. Klar wirst du damit einige deiner Fans wütend machen oder enttäuschen. Vielleicht wirst du auch weniger verkaufen. Also hängt es davon ab, wie viel du auf die Meinung anderer gibst. Wir machen eben einfach, was wir wollen, weil es sich nicht immer gleich anfühlt. Manchmal wollen wir ein Akustikalbum machen, manchmal ein hartes Album. Momentan fühlt es sich wieder wie ein Akustikalbum an. Wenn viel Scheiße passiert, schreiben wir ein metallastiges Mass-Album. Wenn es uns gut geht, machen wir eben akustische Musik, die unseren Kindern gewidmet ist. Da wir in der Band alle enge Freunde sind, empfinden wir ein großes Mitgefühl füreinander. Beim letzten Mass-Album (Mass V) hatten zwei von uns gerade eine Scheidung hinter sich. Das fließt natürlich in unsere Musik ein und wird darin verarbeitet. Das heißt, das nächste Mass-Album kann eigentlich erst wieder geschrieben werden, wenn es uns wieder beschissen geht. Aber das macht es auch glaubwürdig. Ich glaube, die Leute merken schon, ob etwas ernstgemeint und ehrlich ist, oder ob es eben nur geschrieben wurde, weil du eben solche Musik machst. Wir schreiben kein Album, nur um eines geschrieben zu haben oder nur um eine Plattenfirma glücklich zu machen. Wir haben keine Eile.

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Inwiefern ist das Akustikalbum euren Kindern gewidmet?
Die Songs sind zwar sehr abstrakt, aber für uns sind sie unser Vermächtnis an unsere Kinder. Später, wenn wir tot sind, haben sie so etwas, was sie uns erinnert. Wir fanden die Idee schön, ihnen etwas zu überlassen, worin wir ihnen erzählen, dass alles gut wird am Ende.

Wie plant ihr generell ein neues Album?
Wir treffen uns und diskutieren, in welche Richtung es gehen könnte. Die wichtigste Frage ist dabei „Warum?“. Wenn wir das „Warum?“ gut begründen können, dann verfolgen wir auch unsere Ideen weiter. Einfach nur zu sagen, dass wir jetzt eben ein neues Album machen wollen, reicht uns nicht. Wir gehen die ganze Sache also sehr reflektiert an.

Wie bereitet ihr euch auf eine Show vor?
Wir versuchen so wenig wie möglich zu reden. Während des Soundchecks scherzen wir zwar noch rum. Doch sobald die eigentliche Show näher rückt, zieht sich jeder von uns in seine eigene kleine Welt zurück und wir werden sehr ruhig. Auch Stretching ist mittlerweile sehr wichtig. Wir müssen uns vor und nach jedem Auftritt dehnen.

Weil ihr so alt seid?
Ja, Mann. Manchmal kommen wir nicht mal mehr aus dem Bett am Tag nach einer Show. Das ist nicht witzig! Ich bin zwar erst 35, aber schon abgefuckt. Unsere Gitarristen haben Rückenprobleme, unser Drummer ist fast taub. Wenn aber alles gut geht auf der Bühne, dann fühlst du dich fast unbezwingbar. Als wärst du von einer höheren Macht umgeben. Was wir aber alle scheiße finden, ist in einer großen Halle zu spielen, wenn die Klimaanlage an ist. Eigentlich solltest du schwitzen, doch dir ist saukalt. Das fühlt sich nicht richtig an. Wir mögen die kleinen, engen Venues lieber, in denen dir der Schweiß runterläuft und du das Publikum anfassen kannst. Manchmal denken wir uns auf Tour auch, „Fuck! Warum tun wir uns das an? Wir könnten heute Abend zuhause sein bei unserer Familie und im eigenen Bett.“

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Und morgen ist auch noch Muttertag.
Ja genau! Wir fahren deswegen auch jetzt dann bald zurück nach Belgien. Sonst gibt’s Ärger. Haha. Da müssen wir das Frühstuck für unsere Frauen machen. Du siehst, wir haben ganz normale Familienleben. Sogar Michael Jackson musste sich seinen Hintern abwischen. Manche Leute, die wir treffen, sagen zu uns ernsthaft so Sachen wie: „Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so nett seid.“ What the fuck?! Warum?! Weil wir auf der Bühne schreien und dunkle, harte Musik machen? Manche denken wahrscheinlich auch, dass unsere Keller voll mit Totenköpfen sind. Es gibt leider auch so viele Idioten, die dich nur kurz auf Tour kennenlernen und sich dann auf deiner Facebook-Seite über dich und deine angebliche Arroganz beschweren. Da gewinnt keiner. Und gerade weil unsere Musik so persönlich ist, nehmen wir uns haltlose Kritik, die gegen uns als Personen gerichtet ist, sehr zu Herzen.

Wie war denn eure letzte Tour mit den anderen Bands der Church of Ra wie etwa Oathbreaker?
Um ehrlich zu sein, eine der beschissensten Touren aller Zeiten. Die Shows waren zwar unglaublich gut und es kamen sehr viele Leute, wofür wir klar auch dankbar sind. Aber wir wollten eben gemeinsam auf Tour gehen, um Zeit zu haben, miteinander abzuhängen. Das hat aber überhaupt nicht geklappt. Wir hatten viel zu wenig Zeit. Die Fahrzeiten waren zu lang, die Vans waren schlecht, wir waren ständig zu spät, unser Equipment ging permanent kaputt. Alles beschissen. Wir sahen uns eigentlich kaum.

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Was werdet ihr als nächstes veröffentlichen?
Ein Ambientalbum ist in der Mache ebenso wie ein neues Akustikalbum. Auch an einem neuen Buch und einem Kunstfilm arbeiten wir gerade.

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