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Alles, was Xatar anfasst, wird zu purem Gold

Alles Oder Nix Records hat nicht nur die erste ernstzunehmende Rapperin etabliert, mit SSIO spielen Xatar und sein Label das Deutschrap-Game jetzt einmal durch.

SSIO hat am Freitag sein neues Video veröffentlicht und damit die obligatorische Promophase eingeläutet. Das klingt langweiliger, als es ist: Denn SSIO hat Deutschrap eine ziemlich laut schallernde Humorschelle gegeben. „Nullkommaneun" ist der Grund dafür, dass die meisten Kinder bei uns gerade mit glitzernden Augen an Weihnachten vorbeiblicken und nur nach dem im Januar erscheinenden neuen Album von SSIO Nullkommaneun lechzen. Dabei ist das nur der nächste Schritt einer Entwicklung, die den geneigten Deutschrap-Fan inzwischen mit der Frage zurücklassen sollte: Wie schafft es Alles Oder Nix Records eigentlich, ein so sicheres Händchen zu haben?

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Nach (fünf) Jahren (Knast) mit kleinen bis großen Hypes ist der Zeitpunkt scheinbar erreicht, an dem alles, was Xatar anfasst, zu Gold wird. Dabei wird längst nicht alles, was AON releast, sofort kommerziell erfolgreich. Aber das ist nicht weiter schlimm, schließlich hat das Label mit Xatar den unangefochtenen Baba aller Babas, mit Schwesta Ewa endlich eine ernstzunehmende Gangstarapperin und mit SSIO die neue Hoffnung im Game.

Das AON-Erfolgskonzept besteht längst nicht nur aus den Rap-Charakteren, die sich klar voneinander abgrenzen und sogar gut ergänzen: Die Beats, die einen unverwechselbaren Trademark-Sound erschaffen, der qualitativ seinesgleichen sucht, lassen sich weder mit „90s“, noch „Boombap“ oder „East-/Westcoast“ treffend bezeichnen und bräuchten eigentlich eine eigene Bezeichnung. Die schlüssige Releasepolitik, Künstler(innen) mit Mixtapes aufzubauen, um dann beim Albumdebüt eine bereits etablierte Marke zu verkaufen. Die Tatsache, dass man bei AON das Wort „Künstler“ tatsächlich gendern muss. Und die Authentizität, mit der aus den Lebensgeschichten der Artists eine eigene Realität aufgebaut werden.

So richtig läuft es bei Alles Oder Nix seit 2012. Warum „Interpol.com“ einen so argen Hype um den damals im Knast sitzenden Xatar auslöste, liegt auf der Hand (wenn nicht: ganz schnell in die Hiphop-Nachhilfe, am besten bei Fler). Der wurde daraufhin konsequent genutzt, um über Mixtapes noch im selben Jahr weitere Künstler aufzubauen. Dabei bieten Schwesta Ewa und SSIO bei weitem genug Bereicherungen für das Game, um sich seitdem aus eigener Kraft dort zu halten. Sowohl BB.U.M.SS.N als auch Kurwa gingen hypetechnisch durch die Decke, SSIO wurde schnell zu Deutschrappers most hyped rapper und mit Ewa war endlich eine erfolgreiche Frau im Straßen-Game, die nicht ständig davon erzählt, dass sie die erste Frau im Game ist. Kalim muss dabei, wie auch in diesem Text, bisher etwas zurückstecken—Sound und Anspruch stehen den Labelkollegen aber in nichts nach.

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Generell hat man den Eindruck, bei AON wird nicht gelabert, sondern gemacht: Ewa erzählt ihre Geschichte, ohne dabei ständig zu erklären, dass es OK ist, eine Nutte zu sein. SSIO zieht sein Ding durch, ohne andauernd auf seinen guten Humor hinzuweisen. Und selbst Xatar muss nicht ständig vom Gold sprechen: Sein Understatement und die Deutschrap-Metaphern („Doch ihnen fehlt das Surfbrett“) regeln das schon. Dass sein Album dann das erste war, das auf Eins ging, ist nur konsequent, aber für die seriöse Labelpolitik bei AON wahrscheinlich sowieso egal.

Und nun das: SSIO kommt mit „Nullkommaneun“ um die Ecke und Deutschrap dreht am Rad. Aufzuzählen, was an diesem Video alles unfassbar geil ist, würde jeden Rahmen sprengen. Stattdessen solltest du es dir einfach anschauen. Zehn Mal hintereinander. Die vielen genialen Gags, die im Video stecken, können in einem Durchgang gar nicht bemerkt werden. SSIO nimmt sich kein bisschen ernst, ohne dabei den Kasper zu machen: Asynchrone Lippenbewegungen und japanische (?) Untertitel. Das Schaf mit Windel geht dann schon ins uninterpretierbar Surreale. SSIO macht die dummen Witze nicht nur („Wer bumst auch dickere Frauen“), er zieht sie auch konsequent durch. Er braucht weder Image noch Thematik, SSIO hat einen selbstbezüglichen Kosmos aus Witzen, Anspielungen, running gags und anderem Unsinn, die zusammen ein seltsames, aber stimmiges Bild ergeben. Zusätzlich schafft es Reaf, einen Beat zu bauen, der unverkennbar AON ist, aber gleichzeitig einen ungewohnten Sound bringt.

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AON liefert seit mehreren Jahren konsequent ab, um sich in jeder Hinsicht sinnvoll weiterzuentwickeln. Nichts tritt auf der Stelle, und das neue Video von SSIO löst unweigerlich Kopfkino aus: Davon, wie die AON-Crew sich das fertige Werk anschaut, vor Lachen zusammenbricht und sich diebisch darauf freut, das auf Rapdeutschland loszulassen. Dass es sehr lange gedauert hat, diesen Text zu schreiben, weil es fast unmöglich ist, das Video NICHT immer wieder zu gucken, spricht deutlich dafür, dass der Plan aufgeht.

Deutschrap? Durchgespielt. Danke AON.

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