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Tschetschenen in Wien: Zwischen Bandenkriminalität und Vorverurteilung

„Dass Tschetschenen krimineller oder gewalttätiger sein sollen als andere, ist gerade einfach so ein Hype. Das verkauft sich halt für die Medien gut."
Foto: Paul Donnerbauer

Etwa 30.000 Menschen sind bisher aus der von zwei Kriegen erschütterten, autonomen russischen Republik Tschetschenien im Nordkaukasus nach Österreich geflüchtet. Geflohen sind sie dabei vor dem russischem Militär, vor radikalen Islamisten und vor einem tyrannischen Despoten, der die Menschen mit Mord und Folter unterdrückt. Die Hälfte der 30.000 Tschetschenen in Österreich lebt in Wien. So auch Muslim Danev.

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Der 18-Jährige kam 2003 nach Österreich. Nach einem Aufenthalt im Flüchtlingslager Traiskirchen zog Muslim mit seiner Familie zuerst nach Linz, dann nach Salzburg und vor ein paar Jahren schließlich nach Wien. Muslim ist gelernter IT-Techniker und hilft im Computershop seines Vaters aus. Seine große Leidenschaft ist aber der Kampfsport. Mehrmals die Woche trainiert er dafür im Gym 23 in Liesing.

Tschetschenischer Kämpfer steht in der Nähe des zerstörten Regierungsgebäudes in Grosny. Foto: Mikhail Evstafiev | Commons Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Sein Trainer, der aus Tunesien stammende Nebil Sebai, beschreibt Muslim als eines seiner besten Talente. Sieht man von seinen sportlichen Leistungen ab, ist Muslim aber ein unauffälliger junger Mann. Ganz anders als das klischeehafte Bild junger, gewaltbereiter Tschetschenen, das sich durch undifferenzierte Berichterstattung in unseren Köpfen festgesetzt hat.

„Ich kenne viele Leute, die Scheiße gebaut haben", erklärt Muslim im Gespräch mit VICE. „Das bekommt man natürlich mit, wenn das Leute sind, die mit dir in der Schule waren. Mit denen habe ich aber nichts zu tun." Er selbst habe noch nie Probleme mit der Polizei oder Justiz gehabt. Vielmehr habe er versucht, andere davon abzuhalten, auf die schiefe Bahn zu geraten. „Einer, ein Österreicher, der mit mir in die Klasse gegangen ist, sitzt jetzt im Gefängnis. Der hat irgendwann begonnen, immer mehr draußen abzuhängen. Ich hab noch versucht, ihn zum Training mitzunehmen. Das hat er aber bald wieder abgebrochen. Und jetzt sitzt er im Gefängnis", sagt Muslim.

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Muslim Danaev nach einem gewonnen Kampf in Dublin.

„Draußen", das sind Parks wie der Klieberpark im fünften Wiener Gemeindebezirk, oder der Vogelweidpark hinter der Lugner City. Es sind die Schauplätze sozialer Konflikte und Agitationsräume unterschiedlicher Gruppierungen, die oft am Rande der Legalität existieren—oder auch tief im kriminellen Milieu mitmischen. So etwa die vor knapp einem Jahr zerschlagene Goldenberg Bande, die KLP, die kürzlich aufgedeckte Schutzgeld-Mafia, oder die V.D.K, zu der auch Mitglieder der Wölfe zählen—also jener Bande, die als extrem gewaltbereit beschrieben wird, vor der sich sogar Polizisten fürchten sollen und deren Mitglieder auf Facebook gerne mit Waffen und Geldscheinen posieren.

Mit den Heldentaten seiner Brüder gibt auch der 13-jährige Bekhan* an. Seine Freizeit verbringt Bekhan gerne im Klieberpark, dem Revier der Gruppe KLP. „In der Wohnung haben wir nicht viel Platz, deshalb komme ich oft hierher", erzählt er. Geld für Energy Drinks bekommt er von seinen Brüdern—wobei er mir nicht verrät, ob diese seine tatsächlichen Verwandten sind oder einfach Freunde und Bekannte aus dem Klieberpark. Mit der Polizei hat Bekhan schon mehrmals Bekanntschaft gemacht, mitgenommen haben sie ihn aber noch nie. „Meistens, weil wir KLP an die Wand geschrieben haben, oder wenn es mal Stress mit jemandem gab", erklärt Bekhan, warum er schon des Öfteren perlustriert wurde.

Geschichten über Schlägereien mit anderen Jugendlichen, bei denen sich Bekhan mit sechs Freunden gegen 15 andere Jungs durchgesetzt haben will, sind nicht überprüfbar. Auch die Handydiebstähle, bei denen Bekhan schon dabei gewesen sein will, kann ich ihm nur glauben oder eben nicht. Feststeht aber, dass gerade der Raub des Smartphones unter vielen Jugendlichen, wenn überhaupt, nur mehr ein Kavaliersdelikt darstellt. Dabei geht es oft um eine Form von Kräftemessen oder Mutprobe. Denn gerade der Inhalt von Smartphones ist sehr privat, bei Geflüchteten oftmals auch die einzige Erinnerung an die Familie. Der gewaltsame Verlust des Smartphones kommt damit einer Demütigung gleich.

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Foto vom Autor

In diversen Medien wird in Zusammenhang mit ethnisch gemischten kriminellen Gruppen wie etwa der KLP gerne von „Tschetschenen-Banden" gesprochen. Und auch manche Presseaussendungen des Innenministeriums suggerieren, dass es sich bei den Mitgliedern dieser Banden zum großen Teil um Tschetschenen handelt. Ein Umstand, den Oberstleutnant Robert Klug, Chef der Abteilung für Straßen- und Bandenkriminalität der Polizei Wien, kritisch sieht: „Um herauszufinden, ob Tschetschenen jetzt krimineller oder gewaltbereiter als andere Gruppen sind, müsste eine kriminalsoziologische Untersuchung durchgeführt werden. Uns fällt natürlich schon auf, dass in Bezug auf Straßenraubkriminalität häufig Tschetschenen auffallen. Aber ob das in Summe wirklich öfter der Fall ist als bei anderen Nationalitäten, ist fraglich", so der Ermittler gegenüber VICE.

Klug spricht noch ein weiteres Problem in der Diskussion über die Gewaltbereitschaft junger Tschetschenen an: Da „Tschetschene" keine offizielle Nationalität beschreibt, wird die Volksgruppe kriminalstatistisch nicht erfasst. Daher beruhen Behauptungen über die angebliche Gewaltbereitschaft junger Tschetschenen fast immer auf einem subjektiven Sicherheitsgefühl und nicht auf statistischen Werten und soziologischen Studien.

„Während ihr gelernt habt, wie man addiert und multipliziert, haben wir gelernt, wie man abzieht und teilt.." | Screenshot via Facebook

Hinzu kommt auch noch, dass die tschetschenische Community in Österreich alles andere als homogen ist, wie die in Wien lebende tschetschenische Journalistin Maynat Kurbanova im Gespräch mit VICE erklärt: „Es gibt verschiedenste Strömungen innerhalb der Community. Man findet Menschen, die absolut säkular sind, genauso wie sehr konservative und streng gläubige Familien. Man trifft Vertreter der verschiedensten politischen Strömungen, genauso wie absolut unpolitische Menschen. Man trifft Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung, oder auch Anhänger des heutigen, diktatorischen Regimes. Die tschetschenische Community ist nicht homogen—sie ist sogar sehr, sehr heterogen."

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Für Kurbanova ist das auch der Grund, warum die tschetschenische Community für viele so unzugänglich und verschlossen wirkt. „Bei so vielen unterschiedlichen politischen und ideologischen Strömungen in einer relativ kleinen Community ist es sehr schwer, in kurzer Zeit geeignete Vertretungen im Rahmen von Vereinen, Verbänden, wie sie andere in Wien lebende Volksgruppen haben, aufzubauen", meint die Journalistin. Gerade solche Vereine und Vertretungen wären jedoch für eine funktionierende Integration und den Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft notwendig.

„Vor dem Staat sollte man sich hüten, da die Staatsgewalt praktisch der Feind ist."

Erschwerend ist bei der Integration von Tschetschenen außerdem, dass viele eine grundsätzliche ablehnende Haltung gegenüber staatlichen Institutionen haben. „Wir haben die Erfahrung mit der Sowjetunion gemacht, wir haben die Erfahrung mit dem heutigen Russland gemacht. In beiden Fällen sollte man sich besser vor dem Staat hüten, da die Staatsgewalt praktisch der Feind ist", erklärt Kurbanova. „Dieses Misstrauen haben viele Tschetschenen mitgeschleppt. Allerdings taut das in letzter Zeit zunehmend auf und es wird Schritt für Schritt Vertrauen aufgebaut."

Vertrauen versucht auch der MMA-Trainer Nebil Sebai zu seinen Schülerinnen und Schülern aufzubauen. „Sport ist eine schöne Brücke, um von Extremismus oder Kriminalität wegzukommen. Ich habe oft Diskussionen mit meinem Chef, weil er meint, wir können nicht nur Ausländer in unserem Gym aufnehmen. Aber wenn wir den Jugendlichen diese Chance nicht geben, rutschen sie genau in diese Kriminalität oder noch Schlimmeres ab", meint Nebil.

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Auch Nebils Schüler Muslim sieht im Sport eine Möglichkeit für Jugendliche, sich abzulenken und sich auf andere Art und Weise zu beweisen—selbst, wenn seine Mutter es lieber hätte, wenn er einen anderen Sport betreiben würde: „Lieber mache ich MMA und habe deshalb ein bisschen Stress mit meiner Mutter, als dass sie irgendwann weint, weil ich im Gefängnis bin", sagt der 18-Jährige. Ihm ist aber auch wichtig klar zustellen, dass das kein Entweder-Oder ist. „Der Kampfsport ist nicht mein Lebensmittelpunkt und auch ohne MMA wäre ich nicht kriminell geworden. Denn an erster Stelle steht für mich immer noch die Familie und die will ich nicht enttäuschen", so Muslim.

Auch deshalb findet Muslim es ungerecht, wenn in der medialen Berichterstattung alle Tschetschenen über einen Kamm geschoren werden. Er weiß, dass der Großteil der aus tschetschenischen Familien stammenden Jugendlichen einfach ein ganz normales Leben führen will, hier aufgewachsen ist und gar kein anderes Leben als jenes in Österreich kennt.

In dieser Diskrepanz zwischen der ersten Generation an Tschetschenen, die nach Österreich geflüchtet sind, und der zweiten Generation, die schon hier geboren sind, ergibt sich für Mayat Kurbanova auch eine gewisse Problematik. „Wir dürfen nicht vergessen, dass die tschetschenische Community eine sehr junge in Österreich ist", sagt die Journalistin. Die ersten Tschetschenen sind erst Anfang der 2000er Jahre nach Österreich geflüchtet.

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„Diese Menschen sind vor einem der grausamsten Kriege der Gegenwart geflüchtet und waren zum Teil schwer traumatisiert. Bis diese Menschen wirklich angekommen sind, bis sie sich vom Krieg erholt haben, sind einige Jahre vergangen", meint Mayat Kurbanova. In dieser Zeit ist der Journalistin zufolge aber eine Generation an jungen Tschetschenen herangewachsen, die entweder als kleine Kinder nach Österreich kamen, oder schon hier geboren wurden, die im Grunde sich selbst überlassen war. „Viele Kinder dieser Generation wuchsen in einer stark durch Krieg geprägten und traumatisierten Umgebung auf. Da fehlte oft die Bezugsperson innerhalb der Familie. Und das ist genau die Generation, aus der jetzt manche, salopp gesagt, Probleme machen", erklärt Kurbanova.

Foto vom Autor

Das stimmt auch mit Aussagen von Oberstleutnant Roland Klug überein, wonach die Mitglieder krimineller Banden in Wien durchschnittlich zwischen 14 und 16 Jahren und zwischen 18 und 20 Jahren alt sind. Wobei Klug in diesem Zusammenhang noch einmal betont, dass es sich bei diesen kriminellen Gruppierungen um ethnisch gemischte Gruppen handelt. So waren etwa bei der Goldenberg-Bande auch Menschen aus „Somalia, Polen und Österreich" beteiligt. „Ich bin jetzt nicht der Anwalt der Tschetschenen—und wenn einer eine alte Frau ausraubt und die dann vielleicht sogar ein blaues Auge davon trägt, bin ich schon dafür, dass der Täter die volle Härte des Gesetztes zu spüren bekommt. Aber dass Tschetschenen krimineller oder gewalttätiger sein sollen als andere, ist gerade einfach so ein Hype. Das verkauft sich halt für die Medien gut", sagt Klug.

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Ob Tschetschene oder nicht—Fakt ist, dass die Jugendkriminalität in Wien als einzigem Bundesland gestiegen ist, was wohl auch an der hohen Jugendarbeitslosigkeit liegt. Denn in Wien haben derzeit fast ein Viertel der 20- bis 24-Jährigen keinen Job.

„Wir leben eben in einer sehr materialistischen Welt. Du bist, was du hast. Und wenn du kein Geld hast, musst du dir Dinge eben anders beschaffen", sagt Nebil, der auch selbst mit kriminellen Jugendlichen zu tun hat. „Ein Typ, der bei uns trainiert hat, ist auch wegen dieser Schutzgelderpressungssache verhaftet worden. Der war am Samstag noch mit uns bei einem Kampf in Linz, am Montag haben sie ihn dann erwischt. Der wurde aber ausgenutzt. Die haben ihm ein teures Auto zum Fahren gegeben, immer wieder Geld zugesteckt. Da hat er halt nicht lange überlegt. Der ist eigentlich ein guter Mensch", erzählt Nebil.

„Die ganzen FPÖler sind einfach unkultivierte, erbärmliche Leute."

Für Nebil ist der Kampfsport, der gerade in der tschetschenischen Kultur eine lange Geschichte und Tradition hat, ein Weg nach vorne, während „Kriminalität immer ein Weg rückwärts" ist. „Ich glaube, man kann die Jungs durch Kampfsport erziehen und ihnen den nötigen Respekt und die nötige Disziplin beibringen. Nationalitäten spielen dabei bei uns im Training keine Rolle. Bei mir gibt es nur Bruderschaft oder du verpisst dich", so Nebil, der selbst erst vor etwas mehr als 10 Jahren nach Österreich gekommen ist.

Nicht nur Muslim Danaev, sondern auch seinen Trainer regen undifferenzierte Verallgemeinerungen und rassistische Äußerungen über Tschetschenen sowie Flüchtlinge im Allgemeinen auf: „Die ganzen FPÖler sind einfach unkultivierte, erbärmliche Leute. Die hocken in ihrem Gemeindebau und schimpfen über Ausländer, während sie selbst die größten Loser sind," meint Nebil.

Zum Schluss unseres Gespräches sagt Muslim noch, dass er es nicht nachvollziehen könne, wenn Menschen aus materialistischen Motiven Straftaten begehen. „Man kann auch ohne Porsche glücklich werden", ist der aufstrebende MMA-Kämpfer überzeugt.

Paul auf Twitter: @gewitterland


*Name von der Redaktion geändert.