Drogensüchtige über ihre Wünsche, Hilfsbereitschaft und die U6
Foto mit freundlicher Genehmigung des SHH

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Drogensüchtige über ihre Wünsche, Hilfsbereitschaft und die U6

"Die Drogensüchtigen" gibt es genauso wenig wie "die Ausländer" oder "die Raucher". Fünf Menschen erzählen ihre Geschichte.

Dr. Barbara Gegenhuber ist Leiterin des Schweizer Hauses in Wien, einer Einrichtung für Stationäre, dezentrale und ambulante Drogentherapie. Sie hat mit einigen ihrer PatientInnen gesprochen und diesen Text verfasst, um mit dem Klischee des "Junkies" ein wenig aufzuräumen.

Im Zuge des Wahlkampfes um das Amt des Bundespräsidenten wurde immer wieder versucht, aus der Drogenszene in Wien politisches Kapital zu schlagen. Allzu oft wird von den "Junkies", der ausufernden Drogenszene, den gefährlichen Abhängigen als pauschale Mehrheit gesprochen. Aber wer sind diese Leute eigentlich?

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"Die Drogensüchtigen" gibt es genauso wenig wie es "die Ausländer" oder "die Raucher" gibt. Es gibt Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung, die alle unterschiedliche Lebensgeschichten mit unterschiedlichsten Suchtkarrieren und Lebensstilen haben. Für diesen Artikel habe ich mich mit fünf meiner PatientInnen unterhalten.

Shabi, 43

Shabi ist mit 16 Jahren, kurz vor dem Ausbruch des Balkankrieges, nach Österreich geflohen. Mit 26 Jahren hat er beim Fortgehen mit Heroin angefangen. Er war damals verheiratet und hatte ein Kind, es fällt ihm schwer, zu verstehen, weshalb er damals begonnen hat, Drogen zu nehmen. Shabi erzählt, er sei mit den falschen Menschen in Kontakt gewesen, die schnell zu Freunden wurden. Seitdem gab es immer wieder ein Auf und Ab. Phasen von mehreren Jahren, in denen er nicht zu Drogen griff, wechselten mit Phasen, in denen er Heroin konsumierte und immer wieder im Gefängnis war. Nur seine Frau blieb bei ihm, mit der er mittlerweile drei Kinder (9, 11 und 19) hat—nur der Älteste weiß von der Abhängigkeit des Vaters.

Musa, 41

Der Gambier Musa ist mit 12 Jahren zu seinem Onkel nach London gezogen, war dort auf sich alleine gestellt und hat bald begonnen, Drogen zu konsumieren. Vor 13 Jahren kam er mit seiner Frau, einer Österreicherin, die er in London kennengelernt hatte, nach Wien und finanzierte sein Leben und seine Abhängigkeit durch den Verkauf von Drogen. Musa hat immer auch gearbeitet, er ist gelernter Fliesenleger, aber durch den Verkauf von Drogen sei mehr Geld zu machen gewesen, erzählt er. Das verdiente Geld sei sofort in den eigenen Konsum geflossen. Der Drogenverkauf hat ihm neben viel Geld auch neun Haftstrafen eingebracht.

Verena, 23

Verena ist mit 17 plötzlich auf die schiefe Bahn geraten—bis dahin habe sie ein ganz "normales" Leben geführt, sagt sie, sie sei sogar sehr gegen Drogen gewesen. Dass ihr älterer Bruder Haschisch rauchte, war ihr sehr zuwider, bis sie selbst mit 17 Jahren aus Neugier und Kontakt zu den "falschen Freunden" mit Drogen begann—hauptsächlich Heroin und Benzodiazepine. Einmal war Verena in Haft, nur für einen Tag, aber damals beschloss sie, eine Therapie zu machen.

Jasmin, 25

Jasmin aus Oberösterreich erzählt, dass sie bereits mit 14 Jahren zu kiffen begonnen und ziemlich bald auch viele andere Drogen wie Benzodiazepine und Heroin ausprobiert hat, relativ rasch auch intravenös. Sie ist mit 14 Jahren von zu Hause ausgezogen und hat ziemlich bald eine traumatische Gewalterfahrung gemacht. Benzodiazepine dienten als Bewältigungsstrategie, sie konsumierte, um zu vergessen beziehungsweise besser damit fertig zu werden, woraus sich eine Abhängigkeit entwickelte, die sie seit nunmehr über 10 Jahren begleitet.

Christian, 33

Christian kommt aus einem zerrütteten Elternhaus. Seine Eltern sind sehr früh verstorben, sein Stiefvater war gewalttätig. Mit 17 Jahren hat Christian begonnen, Heroin zu konsumieren—seither ist es, ähnlich wie bei Shabi, ein ständiges Auf und Ab, wobei er bei jedem Rückfall in die Abhängigkeit wieder seine ganze Existenz verloren hat und immer wieder von ganz vorne anfangen musste.

Shabi, Musa, Verena, Jasmin und Christian sind fünf sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Geschichten. Gemein haben sie, dass sie alle am Rand der Gesellschaft stehen und gemeinhin oft abwertend als "Junkies" oder "Giftler" bezeichnet werden, dass sie alle einen Teil ihres Lebens (manche einen größeren und manche einen kleineren) in der Drogenszene und im Gefängnis verbracht haben und dort vermutlich alle mit ähnlichen Erfahrungen, Vorurteilen und Stigmatisierungen konfrontiert wurden. Was sie zusätzlich verbindet, ist, dass sie alle irgendwann im Schweizer Haus Hadersdorf, einer Drogentherapieeinrichtung im 14. Bezirk in Wien, gelandet sind, und versuchen ihre Abhängigkeit wieder in den Griff zu bekommen. Mit diesem Artikel wollen sie einen kleinen Einblick in das Leben als Drogenabhängiger geben. Über Erfahrungen, Vorurteile und das Gefängnis als manchmal geringeres Übel.

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Über Drogenabhängigkeit gibt es viele Vorurteile, angefangen von Cannabis als Einstiegsdroge, Abhängigkeit als Willensschwäche oder der Meinung, dass harte Strafen das Problem lösen würden. Vorurteile entstehen zumeist dort, wo es wenig Wissen gibt und sich aus Gleichgültigkeit, Angst oder Sorge auch keine Mühe gemacht wird, näher hinzuschauen. Die Vorurteile, die Abhängigen oft entgegengebracht werden, sind manchmal lästig, manchmal beeinträchtigend und manchmal auch gefährlich. Natürlich spürt man als Abhängiger diffuses Unbehagen, wenn zum Beispiel in der U-Bahn plötzlich über einen getuschelt wird, oder wenn andere Menschen einen Bogen um einen machen.

Shabi, der aus einer kleineren Stadt kommt, erzählt, dass er zum einen merkt, dass die Leute mit ihm viel distanzierter umgehen, als mit seinem nicht-abhängigen Bruder, zum anderen aber auch, dass Leute immer noch zu ihm kommen und fragen, ob sie nicht bei ihm etwas kaufen könnten. Mittlerweile ist seine Reaktion, diese Personen zu warnen und ihnen abzuraten, am Anfang sei es "ja ganz lustig, aber irgendwann geht's dir so wie mir". Er erzählt auch, dass er merkt, dass andere Menschen Angst vor ihm haben. Angst davor, dass er vielleicht aggressiv oder unberechenbar sei, oder dass sie seinetwegen auch Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen könnten.

Jasmin bestätigt das. Sie merkt auch, dass andere Menschen einen Bogen um sie machen. Sie habe auch schon öfters erlebt, dass Leute bei Drogenabhängigen, die mit einer Überdosis in einem Hauseingang liegen, einfach vorbei gehen und nur "scheiß Junkies" tuscheln, anstatt wenigstens die Rettung zu rufen. Und sie hätte sich schon oft gewünscht, dass die Menschen um sie nicht wegschauen, sondern helfen oder eingreifen. Sei es bei Überdosierungen oder auch bei gewalttätigen Übergriffen. Ein Anruf bei der Polizei oder der Rettung sei doch nicht zu viel verlangt, sagt sie.

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Sie habe auch schon öfters erlebt, dass Leute bei Drogenabhängigen, die mit einer Überdosis in einem Hauseingang liegen, einfach vorbei gehen und nur 'scheiß Junkies' tuscheln.

Eines der größten Probleme dabei ist, meint Christian, dass die meisten Leute keine Ahnung von Drogen haben und Dinge hinein interpretieren, die nicht stimmen. Er erlebt oft, dass andere Menschen verwundert sind, dass er heroinabhängig ist, weil man es ihm auf den ersten Blick nicht ansehen würde. Und wenn sie es dann wissen, gehen sie anders mit ihm um. Viele Leute haben Angst und wollen keinen Kontakt mit Abhängigen.

Jasmin erzählt, sie habe den Eindruck, viele würden glauben, Drogenabhängigkeit sei eine Willensschwäche und man genieße es halt einfach, dauernd "zu" zu sein. Wenn man jedoch jeden Morgen in einer anderen Übergangswohneinrichtung aufwacht, die man tagsüber verlassen muss und sich dann erst einmal das "Geld für ein Substi erschnorren" muss, weil der Entzug schon so unerträglich ist, genießt man eher nichts mehr. Sie erzählt auch von einer Zeit, in der sie nicht versichert war und demnach weder substituiert war, noch eine Krankenversicherung für andere Krankheitsfälle hatte. Sie hatte ständig Angst, dass etwas passiert, sie wurde in dieser Zeit von einem Kampfhund gebissen und hatte eine Überdosis. Heute hadert sie noch sehr mit dem Gedanken, ob diese Überdosis nicht doch auch ein Stück weit beabsichtigt war, um dem Leben so ein Ende zu setzen.

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Musa, der sich ebenso lange in der Drogenszene aufgehalten hat, schildert seine Tage als eine ständige Wiederholung von Drogenverkauf, Drogenkonsum, Wettbüro, mal eine Schlägerei im Milieu—das alles durch wiederkehrende Haftaufenthalte unterbrochen.

Natürlich ist Kriminalität im Alltag eines Abhängigen ein großes Thema. Naheliegend, da allein der Besitz und der Erwerb von Drogen schon verboten sind. Dazu kommt, dass viele selbst Drogen verkaufen oder andere Delikte begehen, um Leben und Abhängigkeit finanzieren zu können. Auf die derzeit medial vieldiskutierte Situation entlang der U6 angesprochen, gibt es geteilte Meinungen. Shabi ist der Ansicht, dass es seit 20 Jahren Drogen entlang der U6 gibt, vielleicht ein bisschen mehr in letzter Zeit, aber Neuigkeit sei das keine.

Die Drogenszene wandert, so Shabi, und derzeit sei sie einfach vermehrt an der U6 anzutreffen, bis sie wieder weiterziehen wird. Christian erzählt, dass die Dealer in letzter Zeit dreister wurden, was ihm selbst unangenehm sei, außerdem bereite es Stress und Angst, damit konfrontiert zu sein, wenn man versucht, abstinent zu leben. Musa, der aus Gambia kommt, findet die Situation besonders lästig, weil in der Nähe der U6 alle in einen Topf geworfen werden. Er wird ständig kontrolliert und von der Polizei aufgehalten, obwohl er die U6 benutzt wie jeder andere Fahrgas: um nachhause zu kommen. Aber die Situation sei hausgemacht, so Musa. Menschen, die herkommen und nicht arbeiten dürfen oder keinen Anspruch auf Leistungen haben, rutschen durchs System.

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Die Drogenszene wandert und derzeit ist sie einfach vermehrt an der U6 anzutreffen, bis sie wieder weiterziehen wird.

Die Betroffenen beschreiben eher triste Situationen, man merkt ihnen an, wie sehr sie unter der Abhängigkeit und deren Begleitumständen leiden. Aber natürlich gibt es auch die andere Seite. Drogenkonsum ist nicht nur negativ für die Betroffenen, er hat auch seine Funktionen. Sei es die Sehnsucht nach dem Abschalten als Bewältigungsmechanismus, der Wunsch der Rebellion in der Adoleszenz oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit einer gemeinsamen Identität. Das bedeutet aber auch, dass der Ausstieg aus der Abhängigkeit den Verlust dieser positiven Effekte mit sich bringt und die Lücke, die der Ausstieg aus der Abhängigkeit entstehen lässt, erst aufgefüllt werden muss.

Helfen strengere Strafen?

Oft werden als Reaktion auf den Drogenkonsum strengere Strafen gefordert, vermutlich in dem Glauben, dass die Haft so abschreckt, dass die Betroffenen sich das nächste mal zweimal überlegen, ob sie wieder Drogen konsumieren. Musa, der bereits neun Mal im Gefängnis war, erzählt, dass die Gefängnisaufenthalte bisher für ihn auch immer so etwas wie eine Auszeit waren, die auch einige Vorteile hat. Das erste Mal, so sind sich alle bis auf Verena einig, sei am Schlimmsten, man weiß nicht, was auf einen zukommt und ist praktisch wie entmündigt. Doch auch daran gewöhnt man sich bald.

Hier sind sich die Wissenschaft und die Betroffenen einig, Haft wirkt so lange abschreckend, bis man sie einmal erlebt hat. Nach dem ersten Haftaufenthalt ist dieser spezialpräventive Effekt lang nicht mehr so groß. Musa erzählt beispielsweise, dass die Haft auch Stress nimmt, den Stress auf der Straße zu leben, die Abhängigkeit zu finanzieren, die ständige Angst vor der Polizei. Es sei entlastend, wenn dieser Stress durch die Haftaufenthalte unterbrochen wird. Und es sei manchmal sogar leichter im Gefängnis zurecht zu kommen als draußen, weil man sich nicht um Essen und Unterkunft kümmern muss. Musa und Christian erzählen fast ein bisschen sentimental, wie man nach mehreren Haftaufenthalten in eine bekannte Umgebung kommt und alte Bekannte wieder trifft. Man gewinnt den Eindruck, dass sich niemand aus der Gesprächsrunde wünscht, wieder inhaftiert zu werden, aber dass es auch kein Weltuntergang wäre, wenn es wieder passiert.

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Manchmal ist die Haft sogar Lebensretter, weil es Abhängige zwingt, den Konsum für eine bestimmte Zeit zu unterbrechen. Das Problem ist jedoch, dass das Einsperren alleine noch keine Therapie der Abhängigkeit darstellt. Im Gegenteil: Viele Betroffene müssen nach dem Haftaufenthalt das Leben draußen erst wieder lernen. Lernen, sich um sich selbst zu kümmern, einen strukturierten Tagesablauf einzuhalten und einer Tätigkeit nachzugehen. Wenn man entlassen wird und wieder ohne Job und ohne Tagesstruktur auf der Straße ist, ist der Weg zurück in die Abhängigkeit ein naheliegender.

Einig sind sich alle darin, dass eine Therapie ein stressigerer und anstrengenderer Weg als das Gefängnis ist. Aber man lernt, wieder Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, seine Abhängigkeit in den Griff zu bekommen und sich sein Leben wieder aufzubauen. Nach einer Therapie im Schweizer Haus steht niemand auf der Straße, die Nachbetreuung und Begleitung im Alltag nach der stationären Therapie sind in das Konzept integriert, was von den PatientInnen sehr geschätzt wird. Jasmin beispielsweise ist sehr zuversichtlich, was die Zeit nach der stationären Therapie angeht.

Einig sind sich alle darin, dass eine Therapie ein stressigerer und anstrengenderer Weg als das Gefängnis ist.

Bald wird sie in die so genannte dezentrale Phase zur intensiven Nachbetreuung wechseln und in die zum Schweizer Haus gehörende Wohngemeinschaft im 5. Bezirk ziehen, um sich von dort langsam um eine eigene Wohnung zu kümmern. Dabei hat sie gleichzeitig eine dichte Begleitung und durch den fließenden Übergang die Möglichkeit, "alles von Anfang an ordentlich zu machen". Shabi betont auch, dass ihm die Nachbetreuung in der dezentralen Phase besonders wichtig ist, weil man lernt wie man draußen lebt. Einig sind sich alle, dass es nur noch besser werden kann.

Ich möchte den Optimismus der Betroffenen nicht zu sehr bremsen, aber es ist wichtig, zu sagen, dass Abhängigkeit eine chronische Erkrankung ist. Demzufolge gelingt der Ausstieg oft nicht beim ersten Mal, aber jeder Therapieaufenthalt trägt etwas zur Verbesserung (oder zur Verhinderung der weiteren Chronifizierung) bei.

Wenn man sich also die Erfahrungen der Betroffenen und die Erkenntnisse der Wissenschaft ansieht merkt man, dass fest einsperren bei Drogenabhängigen nicht die Methode der Wahl ist, und Betroffene manchmal mehrere Anläufe brauchen, bis der Ausstieg gelingt. Vielleicht wird das auch greifbarer, wenn man an die eigenen Suchterfahrungen denkt. Oder auch wie es Mark Twain schon gesagt hat: Es ist ganz leicht, sich das Rauchen abzugewöhnen: ich habe es schon hundert Mal geschafft.